Wie ich eine Frau wurde

Als ich „Das Unbehagen der Geschlechter“ von Judith Butler zum ersten Mal las, durchquerte ich das Buch so eilig wie man einen Bahnhof im Umbau durchquert, Wände voller Gerüste, Räume voller Lärm. „Das feministische ‚Wir‘ ist stets nur eine phantasmatische Konstruktion“, schreibt Butler (S. 209). Aha. Mir hatte der Feminismus nicht nur ein „Wir“, sondern sogar ein Ich geschenkt. Ich erklärte Butler zum Nicht-Ort der feministischen Auseinandersetzung, eilte zum nächsten Zug und fuhr woanders hin. Aber seit ein paar Jahren ist dieser Bahnhof ein fertig ausgebauter Verkehrsknotenpunkt der Gender-Debatte. Daher hielt ich diesmal inne und betrachtete Fassaden, Stützpfeiler und Fahrpläne genau.

Ich sah mir Butler’s These an, dass der herrschende Diskurs das Körper zu Männern und Frauen formt, und dass es mehr als zwei Geschlechter und ein frei schwebendes Begehren geben könnte. Ob es das biologische Geschlecht in Wirklichkeit gibt oder nicht – Butler schreibt sich um diese Frage herum, egal, was sie später behauptete (siehe zum Beispiel hier). Sie interessierte sich für den „herrschenden Diskurs“ und jene, die in irgendeiner Form von der Binarität abwichen. Das hatte und hat seine Berechtigung. Aber ist das ein feministischer Ort? Nicht unbedingt.

Dennoch liess ich im Namen der Gender-Debatte die Szenen meiner eigenen Frauwerdung Revue passieren, die himmlischen und die hässlichen. Ja, es gab hässliche Szenen. Ich muss es deutlich sagen: Teenager Frogg hatte eine Phase der Genderdysphorie. Als ich zwölf war, schleppten meine Mutter und meine Grossmutter mich und meine schmerzenden Brüste in den Lingerie-Laden und zwangen mir den ersten Büstenhalter auf den Leib. „Hör auf zu jammern, Du hast ja einen Busen wie einen überhängenden Balkon! Glaub mir, Du wirst Dich so an  den BH gewöhnen, dass Du bald nicht mehr ohne kannst“, sagte meine Mutter. Als ob mich das davon hätte überzeugen können, dass ich so ein Gstältli* brauchte. Und das war nur das, was sich an der Oberfläche abspielte.

Aber damals sagte man nicht: „Genug! Ich bin ab jetzt ein Junge und kein Mädchen. Die Brüste müssen weg!“ Ich gewöhnte mich an den Büstenhalter und basta. Damit will ich mich nicht zum Opfer stilisieren. Auch die Mannwerdung war vor 40 Jahren Jahren kein Zuckerschlecken, mit 20 mussten sie alle ins Militär. Und was Lesben und Schwule damals durchmachten, war mitunter schwierig, das habe ich in meinem Bekanntenkreis mitbekommen. Auch wenn es allmählich leichter wurde, offen homosexuell zu leben. Ungefähr 2002 begegnete ich erstmals einer Trans-Frau. Trans-Männer kenne ich noch heute nur vom Hörensagen.

Heute bin ich froh, dass meine Mutter und meine Grossmutter mich damals in den Lingerie-Laden und nicht zum Arzt schleppten. Ich bin froh, dass ich keine Pubertätsblocker nahm und dass ich meine Brüste noch habe (und weiss spätestens seit 2022, dass ich mich nie freiwillig einer Brustoperation unterziehen werde). Ich bin froh, dass ich kein Coming-out als Trans-Mann durchmachen musste. Ich habe grossen Respekt vor Trans-Menschen, die das alles gemacht haben und dabei stärker geworden sind. Aber ich bin eine Frau, und in meinem Leben gab es auch viele himmlische Momente. Und deshalb wünsche ich allen Teenager-Mädchen mit BH-Aversion jemanden, der zuerst einmal zuhört und nachfragt, was unter der Oberfläche wirklich los ist.

*Ein Gerüst, das den Körper stützt oder einengt, etwa ein Klettergurt oder ein Hundegeschirr.

Judith Butler: „Das Unbehagen der Geschlechter“; Frankfurt am Main: edition suhrkamp 1722, 1991

 

 

 

 

Was mein Gottenbub über Nemo denkt

Gesangstalent Nemo wird die Schweiz am Eurovision Song Contest vertreten (Quelle: srf.ch)

Am Osterspaziergang mit einem Gottenbub, neu 19, frage ich ihn über seine Haltung zur Genderfrage aus. Tim ist Jungpolitiker, parteilos, mit einem Hang zu den Grünen. Er ist ein ausgezeichneter Diskussionspartner.

Die Genderdebatte beginnt er jedoch mit einer ungemütlichen Schelte ausgerechnet derjenigen Zeitung, bei der ich seit 23 Jahren meinen Lebensunterhalt verdiene. Ihn hat unsere Berichterstattung über Nemo gestört, jene nonbinäre Person, die die Schweiz am Eurovision Song Contest am 7. Mai vertreten wird. In unserem Bericht wurde diese Person offenbar schon im ersten Abschnitt mit „er“ bezeichnet. „Wo doch klar ist, dass Nemo keine Pronomen will! Das ist doch respektlos gegenüber Nemo.*“

Unsere Berichterstattung zum European Song Contest hatte ich nicht einmal gelesen. Musik zu ignorieren ist eine meiner Überlebensstrategien als Schwerhörige (für Euch geht’s hier zum Song)! Mein erster, innerer Seufzer ist: Ach, da haben meine Kolleginnen und Kollegen ein reaktionäres Statement gemacht, womöglich unfreiwillig! Aber ich gebe dem Reflex nach, sie in Schutz zu nehmen und erinnere Tim an die Regeln des guten Stils: Dreimal im selben Abschnitt denselben Eigennamen zu wiederholen, ist unschön. Viele unserer Leserinnen und Leser würden es lachhaft oder anbiedernd finden. Wir behalten bei der Zeitung ausserdem kritische Distanz zu den Leuten, über die wir berichten.

Aber das kann Tim nicht akzeptieren. Er sagt: „Da schimpft Ihr immer, dass die jungen Leute keine Zeitung mehr lesen! Und dann tut Ihr etwas, was wir jungen Leserinnen und Leser überhaupt nicht cool finden.“

Mir bleibt da nur noch der Verweis auf unser Redaktions-Reglement für den Umgang mit dem Geschlecht in der Sprache. Dieses wurde ungefähr 2017 renoviert, vor dem Auftauchen nonbinärer Personen an der Öffentlichkeit. „So ein Reglement zu ändern, braucht seine Zeit“, versichere ich ihm. Seltsamerweise versteht Tim, dass es solche Reglemente braucht und auch Zeit, sie zu verändern. Ich verspreche ihm dann immerhin, seine Reklamation an meinen Chef weiterzuleiten. Als Input für künftige Reglements-Änderungen.

Später stellte ich fest, dass die Musikredaktionen landesweit seither schon eine gewisse Geschicklichkeit im Umgang mit den wegzulassenden Pronomen entwickelt haben. Üblich ist zum Beispiel geworden, Nemo „das Gesangstalent aus Biel“ zu nennen. Und in einem späteren Bericht eines unserer Autoren über Nemo habe ich einen Abschnitt gefunden, in dem sich der Kollege offiziell dazu bekennt, Nemos Non-Binarität zu akzeptieren. Im folgenden Abschnitt mit 36 Wörtern kommt das Wort Nemo sechsmal vor.

*Ich bin nicht mehr ganz sicher, wie Tim das formuliert hat. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass er selbst ein männliches Pronomen verwendet hat. Einfach, weil es auf Schweizerdeutsch noch viel schwieriger ist, Sätze ohne solche zu machen. Da steht sogar vor Eigennamen eines, wie in: „De Tim hed gseid… . D’Frau Frogg hed gseid…“

Brief von meinem jüngeren Selbst

Bertolt Brecht, den mein jüngeres Ich sehr verehrt hat.

Es ist Mode geworden, dass man Briefe an sein jüngeres Selbst schreibt. Man tut es in der Psychotherapie, man tut es auf X (vormals Twitter). Meist tut man es, um die Ängste seines jüngeren Ichs zu beschwichtigen und ihm zuzuzwinkern: Ist ja alles besser herausgekommen als man mit 20 befürchtet hat. Kurz nach Kriegsausbruch im Nahen Osten war mir aber plötzlich, als bekäme ich einen Brief von meinem jüngeren Selbst. In einem Couvert aus in den achtziger Jahren gebräuchlichem, rauem Recycling-Papier. Als erstes fiel mir daraus ein Blatt mit einem Gedicht von Bertolt Brecht entgegen: An die Nachgeborenen. Ich schmunzelte. Die junge Frau Frogg war eine grosse Verehrerin von Bertolt Brecht. Unterstrichen hatte sie die Verse: „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist“. Daneben hingekritzelt die Fragen meines jüngeren Selbst an mich: „Also, dass zu meinen Lebzeiten ähnlich kriegerische Zeiten ausbrechen werden wie damals bei Brecht, damit habe ich nicht gerechnet. Darf man bei Euch jetzt auch nicht mehr ohne schlechtes Gewissen über Bäume reden? Belastet Euch die Nachrichtenlage? Muss ich mir Sorgen um Euch machen?“

„Gemach! Gemach!“ antwortete ich meinem jüngeren Selbst unverzüglich. „So schlimm ist es jetzt doch noch nicht. Bedenke doch: Brecht schrieb dieses Gedicht im Exil in den dreissiger Jahren, auf der Flucht vor den Nazis, die ihn wegen seiner kommunistischen Haltung staatenlos gemacht hatten. Die Verhältnisse waren damals für ihn und für viele in Europa unmittelbar und existenziell bedrohlich. Natürlich sind wir aufgewühlt, natürlich denken wir an die Opfer dieser entsetzlichen Hamas-Verbrechen. Natürlich streiten wir darüber, auf welcher Seite wir stehen. Aber wir erleben auch (leider), wie man gegen schlechte Nachrichten unempfindlich wird, wenn sie nicht gleich aus dem Nachbardorf kommen. Die Lage in der Ukraine? Im Moment eher nebensächlich. Und am letzten Wochenende verfolgten wir geradezu euphorisch ein Gott sei Dank stinklangweiliges Ritual: Parlamentswahlen in der Schweiz. Die Stimmung in den Fernsehstudios war ¨überschwänglich, dabei waren die Wähleranteilverschiebungen minim (und fielen leider zugunsten der Rechtsbürgerlichen SVP aus). Das Hochgefühl mag – zugegeben – auch damit zusammenhängen, dass Wahlen, deren Resultate niemand in Zweifel zieht, auch in so genannt demokratischen Staaten keine Selbstverständlichkeit mehr sind. (Edit: Kurz nachdem ich das hier geschrieben hatte, kam heraus, dass man auch den Schweizer Wahlen nicht mehr trauen kann: Das Bundesamt für Statistik  hatte sich um ein paar Promillepünktchen verrechnet. Kurze Entrüstung in den Medien, mehr nicht).

Haben wir deshalb aufgehört, über Bäume zu reden? Oder über das Wetter? Nein, im Moment dürfen wir zum Glück wieder freundlich sein zu unseren Bekannten. Zugegeben: Während der Pandemie war das manchmal anders. Aber das vergessen wir jetzt lieber.“

Im Nebel des Vergessens

Neulich kaufte ich in einer Confiserie ein paar Schöggeli. Ich nahm gerade meine Karte zum Bezahlen aus dem Portmonee, als die Kassiererin zu jemandem hinter mir sagte: „Bitte warten Sie noch einen Moment, ich bin gleich bei Ihnen.“ Ich zahlte, drehte mich um und sah hinter mir eine alte Frau mit wirrem Haar. Sie hatte ein Vollkornbrötchen schon halb verschlungen und riss mit den Zähnen gerade ein weiteres Stück Krume ab. Ein verstörender Anblick – weil die Frau so gierig ass und auch, weil sie gegen drei Regeln des Verhaltens im Laden einer europäischen Stadt verstiess: Man hält sich dort nach Möglichkeit frisiert auf. Wenn man etwas zu Essen kauft, bezahlt man, bevor man isst. Man schlingt unter den Blicken anderer nicht gierig Dinge in sich hinein. Die Frau sah nicht aus, als wäre sie soeben aus einem Land mit komplett anderen Regeln in unsere Stadt gekommen. War sie derart hungrig? War sie dement? Hatte sie einfach vergessen, wie man sich im Laden benimmt? Ich vermutete letzteres. Sie tat mir leid, aber ich sah nur eine Handlungsmöglichkeit: aus dem Weg gehen und sie ihr Brötchen bezahlen lassen.

Wanderer über dem Nebelmeer von Caspar David Friedrich, 1818 – wenn wir älter werden, versinkt die Welt immer mehr im Nebel. Da fragen wir uns manchmal, ob wir noch über der Sache stehen. (Quelle: Wikipedia).

Ich habe in letzter Zeit beruflich viel mit älteren Menschen zu tun. Viele der Kundinnen und Kunden, die bei mir schriftlich ihre Meinung zum Tagesgeschehen deponieren, sind über 80. Einige beliefern mich seit einem Jahrzehnt oder mehr. Ich kann aus der nachlassenden Kohärenz ihrer Texte, aus ihren Wiederholungen ablesen, wie bei vielen die geistigen Kräfte nachlassen. Auch im Familienleben: mehr alte Leute, bei denen die immer gleichen, alten Ängste und Kümmernisse aus dem Nebel des Vergessens ragen. Ich frage mich oft, ob das bei mir jetzt auch anfängt.  Zum Beispiel dann, wenn ich nachts nicht schlafen kann und mich wieder mal eine unerklärliche Wut auf jemanden packt, der mich – so sehe ich das um fünf Uhr morgens – irgendwann in meinem Leben gekränkt hat. Als ich jung war, war Erinnerung für mich vieles: Identität, Nostalgie, Verbindung mit meiner Grossmutter. Als ich  fünfzig geworden war, zählte Erinnerung für mich ein Jahrzehnt lang gar nicht. Die Welt veränderte sich schnell, und nur zu gerne liess ich manche Dinge im Nebel des Vergessens ruhen. Jetzt tauchen zwischendurch Geschichten aus meinem Leben wieder auf, die es wert sind, von der Sonne des neuen Tages neu beleuchtet zu werden. Deshalb habe ich hier eine neue Kategorie erstellt: die Nebel des Vergessens.

September, früher

3. September 2022 im Aargauer Wasserschloss. Der September versucht hier noch einmal, einen Sommertag hinzubekommen.

Normalerweise dauern die Hundstage bis zum 23. August. Dieses Jahr enden sie (hoffentlich) am kommenden Dienstag, 12. September. Mein Schlafzimmer hat nachts immer noch 24 Grad. In den Bergen steigt die Nullgradgrenze gerade auf Rekordwerte. Sie lag am 6. September bei über 5000 Metern (siehe hier). Das gab’s bislang nur zweimal seit Messbeginn, im Juli oder August, noch überhaupt nie im September. Ich liege wach und grüble. „Ach, jammert doch nicht so, wenn es endlich mal ein bisschen warm ist!“ sagt meine Nichte Carina. Sie ist 18, sie mag die Hitze. Mit 18 mochte ich die Hitze auch. Mit 58 finde ich sie an guten Tagen etwas mühsam. In schlechten Nächten verschafft sie mir eine Ahnung von der Apokalypse.

Oft denke ich darüber nach, was Carina mich eines Tages fragen könnte. Falls sie überhaupt Zeit und Lust hat, Fragen zu stellen. Sie wird mich wohl nicht danach fragen, wie Klimawandel sich anfühlt. Davon wird sie selbst noch genug bekommen. Aber vielleicht wird sie mich fragen, was früher normal war. Als das Wetter noch „normal“ war. Als wir jung waren. Damit kann ich dienen. Man muss es erinnern und kurz festhalten, bevor es vergessen und verschwunden ist.

Als ich am Gymnasium war, endete der Sommer mit den Schulferien. Mit den langen Nachmittagen im Schwimmbad war es dann vorbei – obwohl wir am Mittwochnachmittag ja frei hatten. Aber es war dann meist doch zu kühl zum Baden. Wenn ich am ersten Schulmorgen Ende August mit dem Fahrrad den Hang hinunter Richtung Gymnasium sauste, musste ich eine leichte Jacke tragen und hatte kalte Finger. Die Wiese unterhalb der Strasse trug oft einen weisslichen Tauschleier. Erste Frostnächte in der zweiten Monatshälfte waren nichts Unerhörtes. Später am Tag versuchte der September oft noch einmal einen richtigen Sommernachmittag hinzubekommen, aber es fühlte sich wehmütig an. In den Gärten begannen die Äpfel rötlich zu schimmern, die ersten Blätter bekamen einen Gelbstich.

Für den Büromenschen Frogg war der September draussen meist unauffällig. Die Arbeit drinnen beschäftigte uns stärker als das Wetter. Die Sommerstürme waren vorbei, wir klagten über den ersten Hochnebel, den Inbegriff von Nicht-Wetter. Sehr regnerisch war es selten. Oft lockten herrliche Tage, ich erinnere mich an 9/11, draussen ein kobaltblauer Himmel, diese Farbe, die wie ein Sog den Blick in sich hineinzieht und die Seele mit hochwirbeln lässt. Drinnen flimmerten die Bildschirme und zeigten das Grauen. Unwirklich.

In meiner Erinnerung war es mit dem Septemberwetter jeweils um den 2. Oktober herum zu Ende. Der 2. Oktober ist der Feiertag des Luzerner Stadtheiligen Leodegar, den wir nur noch wegen der Määs kennen, wegen des Jahrmarktes. Als Carina klein war, ging ich mit ihr und Tim jeweils dort auf wilde Bahnfahrten. Oft begleitete ein Kälteeinbruch mit Regen diese Ausflüge an die Määs. Wir hatten nach vier Monaten ausserhalb der Heizperiode vergessen, was kühles Wetter ist und waren dann richtig froh um wärmere Jacken und Schals.

 

 

 

 

Russische Oligarchen in der Schweiz

Hier habe ich über Oligarchen – vor allem russische – in London geschrieben. Aber man soll ja nicht nur mit dem Finger auf andere zeigen. Deshalb habe ich damals versprochen, dass ich auch noch einen Beitrag über russische Kleptokraten und Kleptokratengelder in der Schweiz verfassen werde. Um es gleich transparent zu machen: Ich bin Schweizerin, lebe in der Schweiz und bin in Finanzfragen eine blutige Amateurin. Für diese Recherche stand mir das Internet zur Verfügung, und ich verfolge das Mediengeschehen meist aufmerksam. Wenn man das tut, läuft man schnell Gefahr, vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr zu sehen. Täglich liest liest und hört man Geschichten über Oligarchengelder in der Schweiz. Seit Wochen drehe ich mich bei der Frage im Kreis, wie ich das alles einordnen soll. Ich meine: Na klar ist die Schweiz involviert! Klar liegen auf Schweizer Banken Milliarden und Milliarden von Oligarchengeldern! Klar, dass hier andererseits viele jeden möglichen Beitrag dazu leisten möchten, dass das Morden in der Ukraine aufhört!

7,5 Milliarden Schweizer Franken wurden bereits blockiert, heisst es. Aber ist das genug? Und wenn es nicht genug ist: Wer verhindert, dass es mehr wird? Es ist kompliziert. Ich weiss es nicht.

Klar werden hier schmierige Geschäfte gemacht. Klar leben russische Oligarchen in der Schweiz, unter ihnen Andrei Melnitschenko, sanktioniert und Gründer der in einigen Ländern (nicht in der Schweiz) sanktionierten Firma Eurochem. Bevor er sanktioniert wurde, hat er die Bude seiner Ehefrau überschrieben, aber diese wurde dann auch sanktioniert. Das Unternehmen kann bei den Schweizer Grossbanken keine Geschäfte mehr machen. Eine missliche Lage, nicht? Heinz Tännler, Finanzminister des steuergünstigen Kantons Zug, wollte der Firmeneignerin aus der Patsche helfen. Er nahm flugs den Telefonhörer in die Hand und bat bei der Zuger Kantonalbank um ein Konto für Eurochem. Er hat dort gute Beziehungen, denn der Kanton Zug ist Mehrheitsaktionär der Bank. Man kann das hier genauer nachlesen, und, ja, das halte ich für ein schmieriges Geschäft. Aber ist es illegal? Ich weiss es nicht.

Der einflussreiche angelsächsische Financier Bill Browder zeigt mit dem Finger nicht nur auf das Schweizer Finanzwesen, sondern auch auf die Bundesanwaltschaft: „Die Schweizer Justiz ist korrupt“, sagte er hier. Er will sogar drei ehemalige Mitglieder der Bundesanwaltschaft auf die Sanktionsliste der USA setzen lassen. Ich finde das ungeheuerlich, und wir alle sollten es ungeheuerlich finden. Hey, die Integrität unserer höchsten Strafverfolgungsbehörde ist in Frage gestellt! Wir sollten die Kommentarspalten unserer Zeitungen mit Fragen fluten! Wir sollten vor unseren Regierungsgebäuden sitzen, meinetwegen mit Transparenten in der Hand, bis unsere Fragen beantwortet sind! Wir sollten unsere Parlamentarierinnen mit Forderungen an die Regierung zutexten!

Aber niemand demonstriert, nur wenige schreiben in die Kommentarspalten. Was genau ist hier los? Naja, darüber werde ich wohl in einem weiteren Beitrag nachdenken müssen.

 

Luxusprobleme und echte Sorgen in North Wales

In meinem vorletzten Beitrag habe ich ein grosses Drama um meine  befremdlichen, ersten Eindrücke in Caernarfon, North Wales, gemacht. Ich möchte hier betonen: Ich habe es nicht getan, um jemanden dort schlecht aussehen zu lassen. Wenn Herr T. und ich von einer Reisedestination stets blitzblanke Küchen, perfekte Blümchendekos und blauen Himmel erwarten würden, dann würde ich Hotelkritiken auf tripadvisor.com schreiben. Aber wir beide reisen und schreiben, um die Welt besser zu verstehen. So habe ich hingeschaut und mich seither oft gefragt: Weshalb verfallen in einer so schönen Stadt wie Caernarfon so viele Häuser warum stehen so viele leer oder zum Verkauf?

Verkaufsschilder und Baugerüste ohne Arbeiter: Etwas stimmt nicht im Walisischen Wohnungsmarkt.

Den Leuten, denen wir in Nordwales kurz  begegnet sind, konnten wir leider keine solchen Fragen stellen. Dafür hätte es ein blitzschnelles Gehör und etwas Glück gebraucht. Heute ersetzt mir das Internet oft beides, oder verschafft mir wenigstens ein passioniertes Halbwissen. So habe ich herausgefunden, dass die Walisische Regierung in Cardiff ebenfalls hingeschaut hat. Sie hat Anfang dieses Jahres Beihilfen im Umfang von 50 Millionen Pfund bereitgemacht. Für Hauseigentümer, die ein heruntergekommenes, leerstehendes Haus wieder bewohnbar machen. Die so unterstützten, neuen Besitzer müssen dann aber auch mindestens fünf Jahre im renovierten Haus wohnen (hier der Bericht). Laut Regierung gibt es 22000 solche Liegenschaften in ganz Wales. Mich erstaunt, dass es nicht mehr sind.

Schnell musste ich leider auch feststellen, dass in Nordwales nicht nur viele Häuser leerstehen – sondern dass gleichzeitig eine dramatische Wohnungsnot herrscht.  Ist das nicht komplett bescheurt? Beim Lesen der Berichte musste ich mir eingestehen, dass mein Unbehagen in Caernarfon wahrscheinlich ein Luxusproblem war. Dieses Bild jedenfalls machte mich sehr betroffen.

Der Schlossplatz von Caernarfon am 8. Mai 2023 (Quelle: bbc.com)

Es zeigt den Hauptplatz der Stadt ziemlich genau von jener Stelle aus, auf der wir ihn zum ersten Mal betraten. Am 8. Mai fand dort eine Demonstration gegen die Wohnungsnot in Wales statt, an der trotz offensichtlich himmeltraurigem Wetter 1000 Menschen teilnahmen. Dass mit bbc.com hier ein nationales Medium über den Anlass berichtete, unterstreicht dessen Relevanz.

Das Online-Magazin dailypost.co.uk widmete sich am 15. Juni 2023 der Wohnungskrise in Nordwales. Die Schlagzeile: „Alle eineinhalb Stunden meldet sich im County Gwynedd jemand obdachlos.“ Gwynedd, dessen Hauptort Caernarfon ist, zählt 117400 Einwohner, 652 Personen sind ohne festen Wohnsitz, heisst es in einem Bericht der Regierung. Das ist einer von 170 Menschen. Zum Vergleich: In ganz Deutschland ist es etwa einer von 320.

62 Kinder wohnten laut einem Regierungsbericht in provisorischen Unterkünften, 36 Kinder in einem Bed & Breakfast. Und hier reden wir nicht von Gaststätten mit Handtuchwärmern und einer Landlady, die den Kleinen beim Teeeinschenken liebevoll übers Haar streicht. Sondern von eiskalten Zimmern und auch mal von sexuell übergriffigen Mitbewohnern (hier). Fast 7000 Kinder und Jugendliche gelten in Gwynedd als arm, das ist gut ein Drittel der Minderjährigen. Zwei Drittel der Einwohnerinnen und Einwohner könnten sich gar kein Haus leisten, heisst es. Die Regierung will nun sogar ein leerstehendes Verwaltungsgebäude zu Notunterkünften für rund 30 Personen umbauen.

Die Gründe für das Übel sind wohl vielfältig: die Teuerung ist gerade in ganz Europa hoch – in Grossbritannien ist von einer eigentlichen Cost of Living-Crisis die Rede, bei der die Lebenskosten deutlich schneller stiegen als die Einkommen. Die steigenden Hypothekarzinsen bereitet im übrigen auch zahlreichen Hauseigentümerinnen und Mietern in der Schweiz Bauchschmerzen. In Grossbritannien führt er breite Bevölkerungsschichten in die Bredouille, wie hier gut erklärt wird.

In Wales kommt der Boom der Zweitwohnungen dazu. Gerade, weil die Gegend schön ist, begehren reiche Engländerinnen und Engländer für ein paar Wochen im Jahr hier zu wohnen. Und sie können für so ein Häuschen viel mehr Geld in die Hand nehmen als Einheimische. Während der Pandemie hat sich der Anteil der Zweitwohnungen allein in Gwynedd mehr als verdoppelt. Diese Feriendomizile stehen ja dann auch noch die meiste Zeit des Jahres leer. Dazu kommen die Anbieter von Airbnb, die ja teils auch in Konkurrenz zu einheimischen Möchtegern-Hauseintümern stehen. Im April 2023 reagierte Cardiff: Jetzt dürfen die Gemeinden in Wales von Zweitwohnungs-Eigentümern viermal so viel Grundstücksteuern verlangen wie von Dauer-Anwohnenden. Das könnte allerdings dazu beigetragen haben, dass wir an einem kleinen Hafen Felinheli Mitte Juni eine ganze Strasse mit Häuschen sahen, vor denen fast überall „For Sale“-Schilder standen.

Nun, Herr T. und ich haben wahrscheinlich wenigstens etwas richtig gemacht: Herr T mag Airbnb nicht und hat uns deshalb stets in altmodische, halt etwas teurere Hotels gebucht. Da haben wir hoffentlich niemandem einen Platz zum Wohnen weggenommen.

 

 

 

Warum ich den Frauenstreik schwänze

Am Mittwoch, 14. Juni findet in den Schweizer Städten wieder ein Frauenstreik  statt – pardon, ein „feministischer Streik“, wie es dieses Jahr heisst. Der dritte seit 1991, wenn ich richtig gezählt habe. Ich werde nicht daran teilnehmen, obwohl ich mich selbst als Feministin sehe und auch mit den Zielen der Kundgebung grundsätzlich einverstanden bin. Ich finde insbesondere, dass es bei den Frauenrenten Verbesserungen braucht. Ich schwänze die Aktion dieses Jahr trotzdem – weil ich eine Verabredung zum Wandern mit meinem alten Freund Chäppeli habe. Der einzige gemeinsame Termin, den wir vor der Sommerpause finden konnten. Ich habe mittwochs fast immer frei.

Ich möchte aber anmerken, dass ich Mühe mit der Gender-Politik der jungen feministischen Organisationen habe. Ich bin eine Frau, keine Flinta oder Flintaq (oder was immer für ein seltsamer Begriff als nächstes kommen wird). Mir ist zwar wohl bewusst, dass diejenigen, die sich bezüglich ihrer Geschlechteridentität nicht festlegen wollen, zum Teil harsche Diskriminierungen erleiden. Ich verurteile diese Diskriminierungen und bin solidarisch mit jede*r queeren Person, die für ein freies, glückliches Leben kämpft.

Aber man kann in meinen Augen keine Politik für Frauen machen, indem man den Begriff „Frau“ abschafft. Und: Im politischen Kampf für die Interessen von Frauen brauchen wir Mehrheiten. Diese finden wir bei anderen Frauen, und seien es jene der politischen Mitte. Es beginnt mit dem Wort „feministischer Streik“, das als Inklusionsgeste für Flintaqs gemeint ist, weil *man* das Wort „Frau“ ja nicht mehr gebrauchen darf. Wenn man mit dem Kampfbegriff „feministischer Streik“ aber bürgerliche Frauen  ausschliesst, dann marginalisieren wir uns selbst, und das nützt dann auch den Flintaqs nichts. Ich weiss keine Lösung für das Problem, ich weiss nur: Das kann es nicht sein.

Als ich die Verabredung mit Chäppeli ausgerechnet am Frauenstreiktag traf, habe ich mich gefragt: Ist es richtig, eine politische Bewegung, in der ich mich beheimatet fühle, zu Gunsten alter Freundschaften zurückzustellen? Gerade jetzt, wo die Frauenbewegung meine Aufmerksamkeit braucht und ich wissen möchte, wo ich darin überhaupt stehe? Ich überlegte und kam zum Schluss:  Nein, ich gehe wandern. Denn alte Freunde bleiben, wenn man richtig mit ihnen umgeht. Politische Bewegungen aber bewegen sich manchmal von einem weg, und man kann gar nichts dagegen tun.

 

Londongrad

Roman Abramowitsch, Russe und bis letztes Jahr Besitzer des Fussballclubs Chelsea (Quelle: zdf.de).

Wenn man heute nach London fährt, muss man darüber sprechen, dass dort zahlreiche vermögende Russinnen und Russen leben – oder vor dem russischen Angriff auf die Ukraine gelebt haben. Es waren so viele, dass die Stadt den Spitznamen Londongrad bekommen hat („grad“ heisst „Stadt“ auf Russisch). Laut BBC sollen es um die 100000 russische Staatsangehörige sein oder gewesen sein. Einige von ihnen gehören zu den vermögendsten Oligarchen Russlands, immer wieder liest man in diesem Zusammenhang die Namen Roman Abramowitsch, Alischer Usmanow und Andrej Gurjew. 1200 russische Staatsangehörige sind im Vereinigten Königreich mittlerweile sanktioniert. Seit Wochen durchforste ich das Internet, um mehr über diese Leute zu erfahren. Ich will meinem Patensohn – und wenn möglich seiner Schwester – berichten, was in der Stadt unserer Träume in Tat und Wahrheit vor sich geht. Die Recherche hat mir ein paarmal die Haare zu Berge stehen lassen und meinen Blick auf den Kapitalismus und die englische Kapitale ganz neu ausgerichtet.

Warum kamen so viele reiche Russinnen und Russen nach London? Diese Frage wurde von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 18. März 2018 hier präzis beantwortet. Zusammenfassung: Putin-Freunde kamen, weil sie im Vereinigten Königreich problemlos ihr Geld anlegen konnten – die Behörden interessierten sich kaum für eine mögliche kriminelle Herkunft. Dazu kam in den neunziger Jahren das Goldene Visum: Wenn jemand mehr als 2 Millionen Pfund im Land zu investieren versprach, bekam er anstandslos eine Aufenthaltsbewilligung. Und dann sind da die renommierten Schulen, die tollen Partys und die tollen Läden.

Es kamen aber auch Putin-Gegner. Sie kamen, weil sie sich hier sicher fühlten vor dem langen Arm des russischen Diktators. Irrtümlich, wie sich in mehreren Fällen herausstellte. Einige starben unter mysteriösen Umständen oder wurden vergiftet. Das brachte auch Risiken für Jenny Normalverbraucherin mit sich, die zum Beispiel mal eben ein seltsames Parfümfläschchen fand.

Hier gibt’s eine bitterböse Satire der Schriftstellerin A. L. Kennedy darüber, wie Durchschnitts-Britinnen und Briten Londongrad kurz nach Kriegsausbruch erlebten. Bis vor kurzem konnte man auch eine Kleptokraten-Tour machen, über die ARD hier berichtete. Sie führte zu den Anwesen reicher Russen, findet jedoch aus unbekannten Gründen nicht mehr statt.

Ich werde aber versuchen, meinen Begleitern zu erklären, weshalb das alles so grauenhaft unfair ist: Weil die meisten Oligarchen den Grundstein ihres Reichtums mit Geld gelegt haben, das eigentlich allen Russinnen und Russen gehören würde – wahrscheinlich oft mit unsauberen Methoden. Das habe ich schon irgendwie gewusst, aber ich habe nicht so genau hingeschaut. Mittlerweile bin ich aber überzeugt, dass der ganze russische Staat auf mafiösen Strukturen aufgebaut ist – mit Wladimir Putin als oberstem Gangster.

Für die Menschen in Grossbritannien sind die Gäste aus dem Riesenreich durchaus auch eine Belastung. Sie machen das Leben in der Hauptstadt fast unerschwinglich. Russinnen und Russen haben zudem den Tories viel Geld gespendet, der Partei, die das Vereinigte Königreich seit langem regiert. Ex-Premierminister Boris Johnson kann sich noch so sehr als Freund der Ukraine aufführen. Fakt ist, dass seine Partei Spenden von Russen im Wert von Dutzenden Millionen Pfund erhalten hat (Quelle: ein sehr informativer Bericht des Schweizer Fernsehens: Hier). Ob die feinen Milliardäre wohl eine Gegenleistung dafür bekommen haben?

Doch nicht nur Russinnen und Russen leben in London in Saus und Braus. Der Buchautor Oliver Bullough sagt über das Geld, das in Londoner Immobilien und im Londoner Luxuskonsum steckt: „Es wurde aus Staaten gesaugt, die es wirklich, wirklich gut brauchen könnten, und die Reichen werfen hier damit um sich.“ Er nennt als Herkunftsländer dieser Hyperkapitalisten auch Angola, Nigeria und auch die Ukraine.

Sehr schnell stiess ich auf die Oligarch Files der englischen Zeitung The Guardian. Dort ist Roman Abramowitsch der meistgenannte Name. Kein Wunder, denn dieser besass von 2003 bis 2022 den Fussballclub Chelsea und verfügte auch über eine luxuriöse Villa in Kensington Palace Gardens. Er war dort Nachbar der Royal Family. Das Abramowitsch-Vermögen vor Kriegsausbruch wurde auf 17,3 Milliarden Dollar geschätzt. Wie er sich solche Unsummen zusammengerafft hat, erklärt dieser Bericht gut verständlich. Zusammenfassung: Der Milliardär hat sich um die Jahrtausendwende massiv an russischen Staatsbetrieben bereichert.

An dieser Stelle muss ich erwähnen, dass Abramovitsch 2016 in die Schweiz ziehen wollte, jedoch von Bundesamt für Polizei abgewiesen wurde. Dieses urteilte Anfang 2017, „dass Abramowitschs Anwesenheit in der Schweiz als Gefährdung der öffentlichen Sicherheit sowie als Reputationsrisiko für die Schweiz einzuschätzen sei. Abramowitsch sei Fedpol wegen Verdachts auf Geldwäsche bekannt“ (soweit Wikipedia). Dennoch sind wir hierzulande nicht fein raus, denn Abramowitsch hatte laut einem im Januar 2023 im „Guardian“ publizierten Leak bis 2022 Vermögenswerte im Umfang von 920 Millionen Dollar unter anderem auf der UBS – einer Schweizer Bank.

Eines Tages werde ich über Kleptokraten in der Schweiz schreiben müssen. Aber das muss noch warten. Im Moment tue ich etwas anderes: Ich versuche aus diesem Wust von Informationen eine Londongrad-Tour zusammenzustellen. Hier habe ich schon mal eine brauchbare Skizze gefunden, hier gibt’s weitere Infos vom „Guardian“.

Bleibt die Frage, was aus dem FC Chelsea wurde nach den Sanktionen gegen Abramowitsch. Hier die ausführliche Antwort. Zusammenfassung: Der US-Multimilliardär Todd Boehly hat ihn jetzt gekauft, für 5,25 Milliarden Dollar. Es sei die teuerste Fussballtransaktion der Geschichte gewesen, heisst es.

Zu Schweizer Bankendebakel

Eine der beiden grossen Schweizer Banken, die Crédit Suisse (CS), muss gerade gerettet werden. Als Schweizerin sollte ich schweigen und mich schämen. Aber ich muss feststellen, dass wir gerade dabei sind, in der Öffentlichkeit einen völlig falschen Eindruck entstehen zu lassen. Jetzt wird nämlich in den Medien behauptet, die CS sei eigentlich eine kommunistische Bank gewesen.

Am Freitagabend etwa sagte der rechtsnationale SVP-Banker Thomas Matter am Fernsehen, die CS-Manager hätten halt gehandelt, wie es im Kommunismus üblich sei: Sie hätten die Bank als Selbstbedienungsladen benutzt.

Doch nicht nur die gescheiterte Bank, nein, auch die Schweizer Regierung und die Schweizerische Nationalbank bediene sich sozialistischer Praktiken, steht heute im Frontkommentar der in den letzten Jahren weit nach rechts gerückten „Sonntagszeitung“:  „Dass Planwirtschaft nicht funktioniert, das zeigte sich dann bei der CS.“ Kritisiert wurde mit diesem Satz die Kommunikation des Nationalbank-Direktors und der zuständigen Ministerin (ganzer Kommentar hier).

Da muss ich einschreiten und Zweifler, ja, eventuell verunsicherte Anlegerinnen und Anleger beruhigen: Die Schweiz ist und bleibt ein hyperkapitalistischer Staat. Wir haben lediglich ein Wahljahr. Klar, dass Skepsis über das Funktionieren der so genannten freien Marktwirtschaft da schon zerstreut werden müssen, bevor sie überhaupt entstanden sind.