Die 1A-Sehenswürdigkeit von Luzern

Die Kapellbrücke mit Wasserturm (Quelle: Wikipedia).

Unsere Stadt ist mit rund 83000 Einwohnern eher klein, und so gelangt man schnell zu ihrer Hauptsehenswürdigkeit: der Kapellbrücke mit Wasserturm (hier und hier sämtliche Facts über das Bauwerk). Die Leute kommen in Scharen und aus aller Welt, um sie zu sehen. In Luzern ist der Tourismus der wohl wichtigste Wirtschaftszweig und wird mit einem aufwändigen Marketing gepflegt. 2019, im Jahr vor der Pandemie, hatten wir hier 7,3 Millionen Tages- und 1,4 Millionen Übernachtungsgäste. Vor der Pandemie war bei uns auch dann und wann von Overtourism die Rede.

Der Tourismus bringt Geld und Menschen aus Asien, aus Amerika, aus aller Welt in die Stadt. Das hat auch sein Gutes, und so nehme zumindest ich ihn mit einem Achselzucken. Schon als Teenager habe ich jedoch Karikaturen von beleibten US-Touristen gezeichnet und als junger Mensch strebte ich danach, keine Massentouristin zu sein, egal, wo ich hinging. Als mein 18-jähriger Gottenbub mich im Sommer gegen Ende der Fahrt im London Eye allen Ernstes fragte: „Haben wir jetzt alle wichtigen Sehenswürdigkeiten gesehen?“, war ich schockiert. Ich habe als junger Mensch fremden Städten immer etwas anderes gesucht als das, was schon alle anderen mit ihren Augen abtasteten.

Wohl deshalb hat die Kapellbrücke mich lebenslang eher gelangweilt. „Schon wieder diese Brücke auf einem Plakat, Flyer, Logo und, ach, schon wieder dieses langweilige Blau rundum!“ Für mich ist sie einfach ein Verkehrsweg. Dass sie seit bald 700 Jahren dasteht – geschenkt. Weil sie die Reuss schräg überquert, ist sie die kürzeste Verbindung vom Büro nach Hause. Da nerven manche Gäste schon, wenn sie weltvergessen Gruppenbilder knipsen, dabei die Brücke in ihrer ganzen Breite besetzen und gar nicht merken, dass da, bitte sehr, eine Einheimische passieren möchte.

Das alles änderte sich während der Pandemie. Als ich am Montagmorgen, 16. März 2020, in das hölzerne Gewölbe über dem Fluss trat, fand ich es zum ersten Mal überhaupt um 9 Uhr morgens leer vor. Einfach leer. Später an jenem Tag begann der erste Lockdown.

Die Kapellbrücke zu Beginn des ersten Lockdowns an einem gewöhnlichen Montagmorgen.

Von da an war unsere Altstadt ein paar Monate lang gespenstisch still. Im Juli und August wurde sie dann von Schweizer Tagesreisenden gestürmt. Und dann hatten wir einen Winter lang Zeit, unsere alte Stadt mit neuen Augen zu sehen. Haben wir das auch getan? Ja, dann und wann, ich jedenfalls.

Und doch: Monate später, vielleicht im Herbst 2021, entdeckte ich bei der Brücke ein asiatisches Grüppchen vielleicht drei, vier Leute, und ich sagte zu Herrn T.: „Oh, guck mal, es kommen wieder Touristen!“ Ich habe mich richtig gefreut.

Mit jungen Leuten in London

London, etwas ungewohnt: Blick auf das Royal Victoria Dock von der Fussbrücke aus. Der Spaziergang dorthin war lang, aber das schaffte Tim mit einem Lächeln.

Vor ein paar Tagen trafen Herr T. und ich zufällig meinen Gottenbuben Tim in der Stadt. Als er uns sah, breitete sich ein spontanes Lächeln auf seinem Gesicht aus. Erst von da an war ich sicher, dass ihm (18) und seiner Schwester Mina (22) unsere gemeinsamen Tage in London gefallen hatten. Zuvor hatte ich meine Zweifel gehabt. Denn Tag 1 begann mit einem Desaster. Aufgrund wenig sorgfältiger Recherchen war ich der Meinung, beim St. James‘ Palace finde jeweils auch am Dienstag eine Wachablösung statt. Dies erwies sich als Wunschdenken. Bis wir es merkten, hatten wir für ein paar müde Reiter eine Stunde auf dem Kiesplatz vor dem Palast ausgeharrt. Danach manövrierten wir uns durch wahre Völkerwanderungen zum Buckingham Palace, zum Big Ben und schliesslich zum London Eye. Tim guckte gelangweilt, gelegentlich sogar gequält. Immerhin: Die Fahrt im London Eye war für uns alle ein Highlight.

Am Tag 2 versuchten es Tim und Mina nochmals mit der Wachablösung. Wir Alten ersparten uns das Gedränge vor dem Buckingham Palace. Ins Getümmel von Mme Tussauds stürzten wir uns dann aber alle gemeinsam. Ich war zum allerersten Mal dort, trotz zahlreicher Aufenthalte in London. Ich hatte das Getue um ein paar Wachsfiguren nie verstanden und in meinen jungen Jahren in London mein weniges Geld lieber für anderes ausgegeben. Aber als ich dann erst mal im Kabinett drin war, fand ich das alles sehr erheiternd und knipste auch selber ein bisschen.

Herr T. quicklebendig, die Damen Judy Dench (links) und Helen Mirren etwas wächsern.

Tim machte den ganzen Tag über ein freundliches Pokerface. Er und Mina behandelten uns mit nachsichtigem Respekt, als wären wir von der heutigen Zeit etwas abgehängte, ältere Leute. Dennoch fand ich einen guten Draht zu Mina, die ich bald mit wichtigen Aufgaben betraute: Kartenlesen (sie ist Orientierungsläuferin) und Auskünfte einholen – meistens verstehe ich bei Hochbetrieb ja nicht mehr, was Leute zu mir sagen. Sie machte ihre Sache hervorragend. Danach spazierten wir durch den Regent’s Park und dem Regent’s Canal entlang bis zum Camden Market. Später sagte Tim, ihm hätten die Parks besonders gut gefallen.

Am Tag 3 gingen wir auf Oligarchen-Tour. Über meine Londongrad-Recherchen habe ich hier ausführlich berichtet. Ich hatte sie zu einer etwa dreistündigen Tour kondensiert: Start in Stamford Bridge Stadion, dem einstigen Wirkungsort von Roman Abramowitsch, Ex-Besitzer des FC Chelsea. Das kam gut an bei Tim, er mag Fussball und konnte zusätzlich Informationen beisteuern. Dann eine Busfahrt (für uns alle ein spezielles Abenteuer) zum Kaufhaus Harrods, das vor Luxus überschäumt. Lustigerweise interessierten sich die beiden Youngsters besonders für das Schaufenster des Liegenschaftenhändlers auf der anderen Strassenseite, wo sie angeregt über die Preise von Wohnungen diskutierten. Sie wollten ausdrücklich den so genannten Roten Platz (Eaton Square) sehen, wo zahlreiche Oligarchen wohnen oder gewohnt haben. Nach einem Blick auf One Hyde Park, wo ein ukrainischer Oligarch ein Penthouse besitzt, bogen wir in die Kensington Gardens ein, wo es Lunch gab. Wir schlossen mit einem Abstecher zum Kensington Palace, in dem Lady Diana einst wohnte. Tim wollte die tragische Geschichte der Prinzessin hören. Er hatte sie noch nicht gekannt. Unvorstellbar.

Herr T. hatte grosse Pläne für Tag 4. Seine Stadtführung in den Docklands hatte er sorgfältigst vorbereitet. Mina war nicht mit von der Partie, wir waren zu dritt: vom Canary Wharf bis zum Greenwich Foot Tunnel, einem Fussgängertunnel unter der Themse, der immer wieder einen besonderen Kitzel hat.

Am Canary Wharf

Mittagessen bei der Cutty Sark in Greenwich, wo es zahlreiche Street Food Restaurants gibt. Sehr spannend, das alles, sagte Tim. Dann zum O2-Stadium und mit der Gondelbahn wieder auf die Nordseite der Themse. Wir warfen einen letzten, etwas wehmütig gestimmten Blick von der Fussbrücke auf das wahrhaft majestätische Royal Victoria Dock, über das die Flugzeuge im Landeanflug auf den London City Airport ziehen. Die Themse-Barrier, nur zwei weitere Kilometer von dort entfernt, wollte Tim dann nicht mehr unbedingt sehen, möglicherweise aus Rücksicht auf mich. Ich war restlos erschöpft. 12 Kilometer Fussmarsch.

Am nächsten Tag reisten die beiden Youngsters weiter nach Norden. Herr T. und ich bestiegen den Eurostar Richtung Paris.

Die Wahrheit über die Ehefrauen von Aberystwyth

Wo also hatten mein damaliger Liebster Konrad und ich die Ehefrauen von Aberystwyth wirklich beobachtet? Das fragte ich mich, während wir unserem Ziel entgegentuckerten. 15 Minuten vor Aberystwyth rückte eine lange, gelbliche Strandlinie ins Blickfeld, und dann hielt der Zug kurz, bei einem Dorf namens Borth, und ich war wieder sicher: Ja, hier war es gewesen! Nicht in Aberystwyth. Aber warum hatten Konrad und ich uns Jahre zuvor überhaupt in Borth aufgehalten? Der Ort liegt gar nicht an der Hauptstrasse nach Machynlleth, das wir damals durchquert haben müssen.

Die Antwort darauf fand ich erst Wochen später in einem alten Tagebuch-Eintrag, datiert am 28. August 1990, Ort: „kurz vor Machynlleth“: „Murphy’s Law funktioniert auch in Wales bestens! Am Morgen telephonierten wir von A’wyth nach Borth, da wir in Erfahrung gebracht hatten, dass es nur in Borth Velos zu mieten gibt. Man sagte uns, der Velovermieter sei weg. Aber wir sollten doch einmal herkommen, er komme wahrscheinlich schnell zurück. So gingen wir nach Borth.“ Auf den Fahrradmechaniker mussten wir dann bis fünf Uhr nachmittags warten, weshalb wir Zeit hatten, neben dem Markt in Borth herumzusitzen und wohl auch etwas entnervt waren. Dort beobachteten wir die an der Nase herumgeführten Frauen. Zu meinen anderen Fragen über die damalige Velotour gab es keine Antwort. Denn das Tagebuch bricht noch am selben Abend ab, über den ganzen Rest unserer Reise habe ich nur noch einen einzigen Text geschrieben, den über das Walisische.

Herr T. sagt zwar nonchalant: „Dass Erinnerungen fragile Konstrukte sind, ist doch ein Gemeinplatz.“ Aber mich haben meine Gedächtnislücken erschüttert. Neuerdings führe ich deshalb mein privates Tagebuch anders als je zuvor: Ich versuche, abends so oft wie möglich noch ein paar präzise Notizen über das zu machen, was den ganzen Tag so gelaufen ist. Eine kleine Abendmeditation, mit der sich später Geschichten rekonstruieren lassen (sollen).

Und ich habe mir überlegt, welche Erinnerungen wirklich zählen. Denn ich habe durchaus Erinnerungen an unsere Ferien von 1990 in Wales. Sie sind vielleicht ebenso trügerisch wie das, was ich hier aufgezeichnet habe. Aber sehr viel wichtiger.

Die Ehefrauen von Aberystwyth

Bei bestimmten Gelegenheiten erzähle ich die Geschichte von den Ehefrauen von Aberystwyth: Wie mein einstiger Liebster Konrad und ich dort 1990 hinter einem trostlosen, gelben Strand sassen, links von uns ein Jahrmarkt. Wir liessen zahlreiche Familien an uns vorbeiziehen, die aus einem Markt kamen, die Männer immer mit stattlichen Bäuchen voraus, die Frauen mit etlichen Kindern hinterher. Mit einer Haltung und einem Gesichtsausdruck, als würden sie von ihren Ehemännern an an einer Schnur in der Nase in eine Richtung gezogen, in die sie nicht wollten.

Es sind Beobachtungen aus dem Jahre 1990, die bestimmt mehr über mich aussagen als über die Frauen, die ich beobachtet habe. Sie sind bestimmt heute glückliche Grossmütter und haben Herausforderungen bewältigt, die mir nie begegnet sind. Manchmal erzählte ich die Geschichte heute dennoch als leicht surreale Anekdote über das Strandleben in Grossbritannien. Einmal habe ich sie erzählt, um zu erklären, warum ich nie einen Nasenring tragen würde. Und manchmal wollte ich damit auch einem Mann sagen: Nie will ich wie die Ehefrauen von Aberystwyth werden!

Im Zug habe ich sie auch Herrn T. wieder erzählt, als Vorbereitung auf Aberystwyth. Überhaupt: Auf der ganzen, langen Zugreise von Porthmadog nach Aberystwyth haschte ich nach Erinnerungen an meinen letzten Aufenthalt hier.  Ich wusste noch: Wir mieteten damals in Aberystwyth Fahrräder und fuhren zunächst nach Machynlleth (sprich: Mahanthleth, das hatte uns mein Freund Peter beigebracht, und der war Welsh). Wir hielten dort jedoch gar nicht an, sondern fuhren durch und bogen sogleich in die Passstrasse Richtung Dolgellau (sprich: Dolgethlai) ein. Denn wir wollten noch am selben Abend einen Teil der Steigung bewältigen. In der Abenddämmerung fanden wir ein traumhaft schönes Bed & Breakfast unter Bäumen und übernachteten dort. Allerdings: Es gibt zwei Strassen durch das Hochland zwischen Machynlleth nach Dolgellau. Welche der beiden haben wir wohl genommen? Ich weiss es nicht mehr. Sicher ist: Wir kamen in Dolgellau an. Ich erinnere mich an eine Strassenkreuzung dort, an der wir in einem Café Kuchen assen. Obwohl Kuchen viele Kalorien hat. Aber man mit dem Velo einen Pass überquert hat, darf man das. Doch warum habe ich all die herrlichen Landschaften vergessen, die wir dabei  gesehen haben müssen? Was für eine Energieverschwendung!

Meine Gewisseheiten bekamen erste Risse, als Herr T. und ich in Machynlleth umstiegen (er hat hier davon erzählt). Wir mussten 30 Minuten vor Aberystwyth ¨über eine Stunde auf den nächsten Zug warten. Ich ging kurz im Städtchen spazieren, und da sah ich sie! Die Strassenkreuzung, an der wir Kuchen gegessen hatten! Ich hatte einen richtigen Freudenschauer. Aber Halt! Die Kreuzung von damals war doch in Dolgellau! Wie konnte das sein?! Hatten wir etwa Kuchen gegessen, bevor wir über den Pass fuhren? Das hätte mein jüngeres Ich mir doch niemals erlaubt! Oder irrte ich mich? Glaubte ich nur, dass dies die besagte Strassenkreuzung sei, weil ich mich so sehr danach sehnte, etwas von damals zu sehen?

Im Anschlusszug dämmerte mir dann auch: Ich kann die Ehefrauen von Aberystwyth gar nicht in Aberystwyth gesehen haben. Denn Aberystwyth ist nicht trostlos, sondern stemmt mit grosser Geste eine lange Häuserfront den Naturgewalten entgegen. Und es hat auch keinen gelben Strand, sondern einen grauen und eigentlich keinen Platz für einen Jahrmarkt.

Aberystwyth im Juni 2023. Der Mann mit dem Beret links im Bild ist mein Ehemann, Herr T., und nein, er hat keine Schnur.

Warum ich so viel über Wales schreibe

Auf Strandspaziergang in der Nähe von Deganwy, North Wales.

Die einen oder anderen von Euch werden sich gefragt haben: Warum widmet Frau Frogg den Erinnerungen an ihre Reise nach Grossbritannien so viel Zeit? Die Fahrt durch Wales liegt doch schon mehr als einen Monat zurück. Nun ja, es gibt oberflächliche Antworten: Ich hatte letzte Woche eine kleine Operation im Spital, eine Frauensache. Ich bin noch krankgeschrieben und habe Zeit. Und: die Macht der Gewohnheit. Früher habe ich ausführlich über unsere Reisen gebloggt. Mein Türkei-Epos im Jahre 2008 etwa zog sich über mehrere Monate hin. Doch diese Sache geht tiefer. In den letzten Tagen sass ich oft da und bloggte und dachte: Das hier ist das einzige, was ich im Moment überhaupt tun will. Ich will nicht einmal Besuch. Ich will nur schreiben. Es gibt mir dasselbe Gefühl, wie wenn ich an einem müssigen Nachmittag meine Schubladen aufräume – ein Gefühl der Ruhe, der Ordnung und eines warmen, heiteren Lichts in den Zimmern meiner Seele.

Als wir abreisten, glaubte ich, die Reise ins Vereinigte Königreich würde vor allem eine Reise für die Zukunft. Für meinen Gottenbuben Tim, dem ich mein Bestes für seinen ersten London-Aufenthalt geben wollte. Es war Herr T., der das Reiseziel Wales für die beiden anderen Ferienwochen wählte. Ich mischte mich kaum in die Planung ein, denn ich hatte die Destination Grossbritannien durchgesetzt. Jetzt sollte er sein Ding haben. Ich hatte ohnehin Zweifel, ob ich das Vereinigten Königreich immer noch mögen würde (siehe auch hier).

Erst nach und nach wurde mir klar: So viel von meiner Vergangenheit liegt in diesem Land! Ständig fand ich unterwegs Bruchstücke eines jüngeren Ichs wie Muscheln und Schieferstücke am Strand. Splitter meiner selbst von vor den Hörstürzen von 2009, vor dem Heute, heute und wieder heute bei der Zeitung. Bruchstücke eines Ichs vor der Pandemie und vor der Krebstherapie vom letzten Jahr. Ich könnte meine Reise-Erinnerungen jetzt auch einfach in eine Kiste schmeissen. Aber etwas in mir sagt: Du brauchst sie jetzt einfach. Jetzt poliere ich diese Sachen und stelle sie an den richtigen Ort in den Zimmern meiner Seele.

Vielleicht wäre es vernünftiger, ein paar real existierende Schubladen aufzuräumen. Ich weiss auch nicht, wie lange ich auf das hier noch Lust habe. Und viele von Euch werden das alles sowieso für wertlosen Krimskrams halten. Egal, es hilft mir, diese Dinge wenigstens annähernd präsentabel zu machen. Ich poliere sie weiter und stelle sie Euch hin.

 

Porthmadog und das Wesen der Erinnerung

Porthmadog – hier muss ich einmal den Weg zu einem phänomenalen Ziel eingeschlagen haben. (Bild: Robert Parry Jones/North Wales Live)

Kaum waren wir in Porthmadog angekommen, beschäftigten mich Fragen nach dem Wesen der Erinnerung fast mehr als die Gegenwart. Porthmadog ist ein erstaunlich lebhaftes Dorf in einer Landschaft von geradezu alpiner Kargheit. Es hat an jedem Ende einen Bahnhof, und auf dem Weg vom einen zum anderen gingen wir fast die ganze High Street hoch. „Ich bin schon hier gewesen“, rauschte es mir durch den Kopf, „Hier muss ich zusammen mit meinem damaligen Liebsten Konrad den Zug nach Blaenau Ffestiniog bestiegen haben. Es kann gar nicht anders gewesen sein, denn nur von hier aus gibt es einen Zug dorthin.“ Ich weiss noch, dass wir aus Aberdaron kamen und die Schiefergruben in Blaenau Ffestiniog besichtigten, und dass das phänomenal war. In meiner Erinnerung verschwimmen die Bilder von der Fahrt in die Tiefe des Berges mit jenen von Harry Potters Ausflügen in die Gewölbe von Gringott’s Bank. Immer wieder Harry Potter! Aber Porthmadog? Ein weisser Fleck in meinem Hirn.

Als ich jung war, legte ich grossen Wert auf die Pflege meiner Erinnerungen. Die Erinnerung ist ein Schatz, sagte ich mir. Sie macht uns zu der Person, die wir sind. Mit den Jahren setzte ich andere Prioritäten. Manche Erinnerungen legte ich in Grümpelkisten, irgendwo im Hirn, sie waren mir egal, aber fortschmeissen kann man sie ja nicht. Bei Bedarf braucht es manchmal etwas Zeit, bis ich sie hervorgekramt habe. Aber dass eine Erinnerung gar nicht mehr auffindbar war, war doch beunruhigend. Ich meine: Wer sind wir, wenn wir nichts mehr über den Ort wissen, von dem aus wir ans Ziel unserer Reise gelangten?

Herr T. und ich kamen beim zweiten Bahnhof an und picknickten auf einer Bank. Wir hatten noch Brot aus Conwy, Cherrytomaten und frischen Cheddarkäse. Wo wir den gekauft hatten, weiss schon jetzt nicht mehr. Ein Stück Käse fiel mir vom Brot auf eine Zigarettenkippe unter der Bank. Ich ging ein paar Meter zum nächsten Abfalleimer, um es wegzuschmeissen.

Es war kalt. Wir warteten, bis es 13 Uhr war und der Pub am Bahnhof öffnete. Auch das Lokal war karg, trotz nostalgischen Reisebildern an den Wänden. Die Wirtin machte Tee für meinen Mann und – widerwillig – eine Tasse Nescafe für mich. Eine ältere Frau in einem Kleid in verwaschenen Farben trank ihr erstes Bier, am runden Tisch sassen ein paar junge Männer mit anthrazitfarbener Sportbekleidung. Über allem hing der überwältigende Geruch von Bleach. Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, was sich am Vorabend hier zugetragen haben könnte, dass es so viel von diesem chlorhaltigen Reinigungsmittel gebraucht hatte. Bleach tötet Bakterien und Viren und überdeckt alle anderen Gerüche.

In Grossbritannien laufen solche Putzmittel generell unter der Bezeichnung „Bleach“. (Quelle: cloroxa.ca)

Aber bei mir belebte der ätzende Geruch Erinnerungen. Keine an Porthmadog, aber mehrere an etwas auch fast Vergessenes: das Heim in Südengland, in dem ich mit 20 ein Jahr lang gearbeitet habe und an die zwei weissblonden Kinder des Heimleiterpaares. Der Bub war vier, das Mädchen zwei, es hiess Emily. Sie hatten beide Keuchhusten, wochenlang. Wenn sie einen Anfall hatten, bellten sie in den Gängen herum, bis der Brechreiz kam. Nie wieder habe ich kleine Menschen so erbärmlich husten sehen. Damals lerne ich das Wort Bleach kennen, weil die Heimmutter immer damit hinter ihnen herputzte, als wäre Bleach ihr Nothelfer. Sie war Anthroposophin, und sonst waren Calendulasalbe und Ruhetage ihr probates Rezept gegen die meisten Übel. Hier aber: Bleach. Sie muss in 1000 Ängsten gewesen sein, dass der Erreger unter den Jugendlichen im Heim eine Epidemie auslösen könnte. Aber das wird mir erst beim Erinnern klar.

Singende Horizonte

Zwischen Caernarfon und Portmadog, aus dem Zug fotografiert (Bild: kulturflaneur.ch).

Für unsere Weiterreise durch das Kymrische Hochland war Reiseleiter T. ein Geniestreich gelungen: Er hatte eine Bahnverbindung der Welsh Highland Railway gefunden, keine ÖV-Strecke, sondern eine Nostalgiebahn für Dampflok-Fans und gediegene Familienjubiläen. „Ich habe sogar ins Büro der Firma in Porthmadog anrufen müssen, um die Buchung abzuschliessen. Im Internet kann man keine einfache Fahrt kaufen, nur Rundreisen“, berichtete er.

So schnauften wir in gemütlichem Tempo durch eine grossartige Landschaft: Berge, die wie Walrücken aus einem Meer von Weiden, Seen und verwunschenen Wäldern auftauchen. An den Brücken und Bahnhöfen erwartete uns stets ein halbes Dutzend Trainspotters. Sie standen mit ihren Kameras da, manche sogar mit Tonaufnahmegeräten, um die Dampflok in ihrer Sammlung zu verewigen.

Herr T. war etwas betrübt über das Wetter. „Aber nein“, sagte ich, „Regen und Nebel machen das alles erst richtig poetisch.“ Während Herr T. den Zug erforschte und oft knipste, tat ich nichts als aus dem Fenster zu schauen.

Unser Zug im verwunschenen Wald (Bild: kulturflaneur.ch).

Das Hochland hier ist auch eine grosse Kulturlandschaft. In der Nähe der Station Beddgelert ist gemäss Legende der Ort, wo der walisische rote und der sächsische weisse Drache einst kämpften. Hier war der grosse Zauberer Merlin zugange, hier ruht Gelert, der beste aller Hunde. Und: Versteckt in den Tälern liegen die Schieferbergwerke von Nordwales, wo im 19. Jahrhundert Millionen Tonnen des schimmernden Steins ausgehoben wurden.

Die Schieferindustrie ist geschrumpft, aber noch immer werden mit den grauen Platten tolle Häuser gebaut. In der kymrischen Hauptstadt Cardiff steht das Wales Millennium Center, ein Konzertbau der Superlative aus dem Jahre 2004, erbaut unter anderem aus 1300 Tonnen Schiefer aus Nordwales. Auf dem mächtigen Portal steht das Motto: „In these stones horizons sing“ der Nationaldichterin Gwyneth Lewis.

Das Cardiff Millennium Center (Quelle: Wikipedia)

 

 

 

Luxusprobleme und echte Sorgen in North Wales

In meinem vorletzten Beitrag habe ich ein grosses Drama um meine  befremdlichen, ersten Eindrücke in Caernarfon, North Wales, gemacht. Ich möchte hier betonen: Ich habe es nicht getan, um jemanden dort schlecht aussehen zu lassen. Wenn Herr T. und ich von einer Reisedestination stets blitzblanke Küchen, perfekte Blümchendekos und blauen Himmel erwarten würden, dann würde ich Hotelkritiken auf tripadvisor.com schreiben. Aber wir beide reisen und schreiben, um die Welt besser zu verstehen. So habe ich hingeschaut und mich seither oft gefragt: Weshalb verfallen in einer so schönen Stadt wie Caernarfon so viele Häuser warum stehen so viele leer oder zum Verkauf?

Verkaufsschilder und Baugerüste ohne Arbeiter: Etwas stimmt nicht im Walisischen Wohnungsmarkt.

Den Leuten, denen wir in Nordwales kurz  begegnet sind, konnten wir leider keine solchen Fragen stellen. Dafür hätte es ein blitzschnelles Gehör und etwas Glück gebraucht. Heute ersetzt mir das Internet oft beides, oder verschafft mir wenigstens ein passioniertes Halbwissen. So habe ich herausgefunden, dass die Walisische Regierung in Cardiff ebenfalls hingeschaut hat. Sie hat Anfang dieses Jahres Beihilfen im Umfang von 50 Millionen Pfund bereitgemacht. Für Hauseigentümer, die ein heruntergekommenes, leerstehendes Haus wieder bewohnbar machen. Die so unterstützten, neuen Besitzer müssen dann aber auch mindestens fünf Jahre im renovierten Haus wohnen (hier der Bericht). Laut Regierung gibt es 22000 solche Liegenschaften in ganz Wales. Mich erstaunt, dass es nicht mehr sind.

Schnell musste ich leider auch feststellen, dass in Nordwales nicht nur viele Häuser leerstehen – sondern dass gleichzeitig eine dramatische Wohnungsnot herrscht.  Ist das nicht komplett bescheurt? Beim Lesen der Berichte musste ich mir eingestehen, dass mein Unbehagen in Caernarfon wahrscheinlich ein Luxusproblem war. Dieses Bild jedenfalls machte mich sehr betroffen.

Der Schlossplatz von Caernarfon am 8. Mai 2023 (Quelle: bbc.com)

Es zeigt den Hauptplatz der Stadt ziemlich genau von jener Stelle aus, auf der wir ihn zum ersten Mal betraten. Am 8. Mai fand dort eine Demonstration gegen die Wohnungsnot in Wales statt, an der trotz offensichtlich himmeltraurigem Wetter 1000 Menschen teilnahmen. Dass mit bbc.com hier ein nationales Medium über den Anlass berichtete, unterstreicht dessen Relevanz.

Das Online-Magazin dailypost.co.uk widmete sich am 15. Juni 2023 der Wohnungskrise in Nordwales. Die Schlagzeile: „Alle eineinhalb Stunden meldet sich im County Gwynedd jemand obdachlos.“ Gwynedd, dessen Hauptort Caernarfon ist, zählt 117400 Einwohner, 652 Personen sind ohne festen Wohnsitz, heisst es in einem Bericht der Regierung. Das ist einer von 170 Menschen. Zum Vergleich: In ganz Deutschland ist es etwa einer von 320.

62 Kinder wohnten laut einem Regierungsbericht in provisorischen Unterkünften, 36 Kinder in einem Bed & Breakfast. Und hier reden wir nicht von Gaststätten mit Handtuchwärmern und einer Landlady, die den Kleinen beim Teeeinschenken liebevoll übers Haar streicht. Sondern von eiskalten Zimmern und auch mal von sexuell übergriffigen Mitbewohnern (hier). Fast 7000 Kinder und Jugendliche gelten in Gwynedd als arm, das ist gut ein Drittel der Minderjährigen. Zwei Drittel der Einwohnerinnen und Einwohner könnten sich gar kein Haus leisten, heisst es. Die Regierung will nun sogar ein leerstehendes Verwaltungsgebäude zu Notunterkünften für rund 30 Personen umbauen.

Die Gründe für das Übel sind wohl vielfältig: die Teuerung ist gerade in ganz Europa hoch – in Grossbritannien ist von einer eigentlichen Cost of Living-Crisis die Rede, bei der die Lebenskosten deutlich schneller stiegen als die Einkommen. Die steigenden Hypothekarzinsen bereitet im übrigen auch zahlreichen Hauseigentümerinnen und Mietern in der Schweiz Bauchschmerzen. In Grossbritannien führt er breite Bevölkerungsschichten in die Bredouille, wie hier gut erklärt wird.

In Wales kommt der Boom der Zweitwohnungen dazu. Gerade, weil die Gegend schön ist, begehren reiche Engländerinnen und Engländer für ein paar Wochen im Jahr hier zu wohnen. Und sie können für so ein Häuschen viel mehr Geld in die Hand nehmen als Einheimische. Während der Pandemie hat sich der Anteil der Zweitwohnungen allein in Gwynedd mehr als verdoppelt. Diese Feriendomizile stehen ja dann auch noch die meiste Zeit des Jahres leer. Dazu kommen die Anbieter von Airbnb, die ja teils auch in Konkurrenz zu einheimischen Möchtegern-Hauseintümern stehen. Im April 2023 reagierte Cardiff: Jetzt dürfen die Gemeinden in Wales von Zweitwohnungs-Eigentümern viermal so viel Grundstücksteuern verlangen wie von Dauer-Anwohnenden. Das könnte allerdings dazu beigetragen haben, dass wir an einem kleinen Hafen Felinheli Mitte Juni eine ganze Strasse mit Häuschen sahen, vor denen fast überall „For Sale“-Schilder standen.

Nun, Herr T. und ich haben wahrscheinlich wenigstens etwas richtig gemacht: Herr T mag Airbnb nicht und hat uns deshalb stets in altmodische, halt etwas teurere Hotels gebucht. Da haben wir hoffentlich niemandem einen Platz zum Wohnen weggenommen.

 

 

 

Regentag in Caernarfon

Wir stiegen hoch in unser Zimmer im Dachgeschoss des Hotels in Caernarfon. Ich dachte: „Nun ja, das Gute an einer ausgebrannten Hotelküche ist, dass sie wahrscheinlich kein zweites Mal ausbrennen wird.“ Dann legten wir uns ins Bett und ich zog die Decke über den Kopf. „Hier ist meine Insel, hier fühle ich mich sicher“, sagte ich mir. Dann schlief ich ein. Am nächsten Morgen hatte Regen den Möwenkot an unserem Fenster beinahe abgewaschen. Und ich hatte begriffen, dass es auf dieser Reise an den raueren Orten nur eins gibt: Inseln der Geborgenheit suchen; das Schöne finden. Und ich muss jetzt auch einfach sagen: Wir haben immer wieder freundliche Leute getroffen, die uns dabei geholfen haben. Ich habe sie umso mehr schätzen gelernt.

Wir fanden: Das Caffi Maes, auf dem Schlossplatz, wo uns eine junge Frau mit regenbogenfarbig geschminkten Augen das Frühstück servierte – es war Pride Month. Dort lernten wir unsere erste kymrische Vokabel: „Caffi“ heisst Café.

Wir fanden einen tollen Spazierweg entlang der Meerenge von Menai, auf einem ehemaligen Eisenbahngleis, den Lôn Las Menai.

Herr T. beim Spazieren auf dem Lôn Las Menai in verwunschenen Wäldern.

Die Meerenge ist auf dem Bild oben gerade nicht zu sehen. Sie ist auch nicht sehr fotogen, es handelt sich einfach um einen breiten Meerwasserstreifen, der Nordwales und die Insel Anglesey trennt. Aber für uns zwei Binnenländer war sie ein faszinierendes Gewässer, wir sammelten dort Muscheln und Schiefersteine. Der Weg ist teils von regenwaldartigem Gehölz umwuchert, so dicht und dunkel wie ich es noch selten gesehen habe. Als dann wieder Regen einsetzte, waren wir an einem kleinen Hafen namens Y Felinheli angelangt. Dort fanden wir schnell eine Bushaltestelle mit Wind- und Wetterschutz, und innert zehn Minuten fand uns ein Bus.

Das walisische Wappentier.

In der sehr charmanten Altstadt von Caernarfon, an der Palace Street, fand ich einen ausgezeichneten Buchladen, Palas Print, mit einer englischen und einer grossen walisischen Abteilung. Ich verbrachte dort fast eine Stunde und musste am Schluss schwierige Entscheidungen treffen, denn der Platz in meiner Reisetasche war beschränkt. Ich fand ausserdem einen Souvenirladen, der mir eine Teetasse mit dem walisischen Wappentier verkaufte, einem roten Drachen, in den ich mich ein wenig verguckt hatte. Er ist ein Symbol für den Unabhängigkeitswillen der Menschen in Wales.

Mein Lieblingsplatz aber wurde die Stelle, wo der River Seiont in die Meerenge mündet. Dort trennt eine Fussgänger-Drehbrücke aus dem Industriezeitalter den Hafen vom Meer. Manchmal schrillt auf der Brücke der Alarm, alle müssen sie verlassen, und sie quietscht und knarzt und öffnet sich. Dann zieht ein halbes Dutzend Segelboote in Gänseformation hintereinander ins Meer. Sie liegen schon im Hafen in Wartestellung, bei Ebbe auf ihren Keilen im Schlick.

Die Brücke über den River Seiunt, geöffnet.

Gegenüber steht das Schloss, erbaut vom König Edward I. und auch Aufenthaltsort der Königin Eleanor, der ich anderswo schon einen Beitrag gewidmet habe. Hier brachte sie den ersten englischen Prince of Wales zur Welt, den späteren Edward II. Die Ausstellung über sie im Schloss hebt hervor, dass Eleanor 19 Kinder zur Welt brachte, von denen nur sechs sie überlebten. Seither weiss ich, weshalb die Gebärerin unter den Bienen „Königin“ heisst.

Als wir am nächsten Tag Richtung Süden aufbrachen, stellte ich überrascht fest: Die Stadt ist mir ein bisschen ans Herz gewachsen.

Fremdeln in Caernarfon

Das Schloss von Caernarfon ist eine Wucht. Der erste Blick auf die Stadt weniger erhebend.

In Llandudno hatten wir zwei Nächte lang in einem hübschen, kleinen B&B mit Blick aufs Meer übernachtet. Vom Zimmer aus hatten wir traumhafte Sonnenuntergänge gesehen. Als wir abreisten, verabschiedete uns der Hotelier mit den Worten: „So, you’re going to Caernarfon? Well, you will see, the castle is beautiful, but the town is a little bit rubbish.“ Ein Tourismus-Profi dürfte nie einen solchen Satz über eine benachbarte Destination aussprechen. Und mein Englischlehrer hätte ihn auch nicht als englischen Satz akzeptiert. Dennoch machte sie mich auf der  zweistündigen Busfahrt nach Caernarfon etwas bange. Was uns wohl dort erwartete?

Caernarfon präsentierte sich zunächst als Landstädtchen, das seine besten Zeiten im 19. Jahrhundert gesehen hat. Der Schlossplatz lag grau vor uns, gegenüber unser Hotel. Dazwischen die Statue eines Mannes, der Kopf weiss von Möwenkot. Das Hotel hat ein Pub im Erdgeschoss, und wir fragten den Wirt erst mal, ob wir hier ein Mittagessen bekämen. „Nein, tut mir leid. Es gibt hier  nichts zu essen. Die Küche ist ausgebrannt“, sagte er. Wir bezogen unsere Zimmer im Dachstock.

„Die Küche ist ausgebrannt!“ sagte ich beim Auspacken vorwurfsvoll zu Herrn T. Er ist unser Reise-Organisator, und manchmal erwischt er bei den Hotelbuchungen ein faules Ei. Man schaut sich dann mit grösster Wachsamkeit im Zimmer um, wer weiss, was man alles zu sehen bekommt. Doch der Raum war sauber und frisch gestrichen, das Bad karg, aber sauber. Nur auf der Fensterscheibe klebte ein grosser, weisser Möwendreck. Und ich hatte kein Netz. Die Stadt hat zwar ein offenes WLAN, aber mein Handy verweigerte das Login, aus Sicherheitsgründen. Ich fühlte mich wie aus der Welt gefallen.

Ich beschloss, mich erst mal zusammenzunehmen. Wir gingen zurück auf den Schlossplatz und picknickten auf einer Bank. Dabei waren wir ganz froh, dass wir mit dem Rücken zur Presbyterianischen Kirche sassen, denn diese bot einen traurigen Anblick: geschlossen, die Tore mit Sperrholzbrettern verbarrikadiert. Auch die Post und die Bank hinter uns: bröckelnde Farbe, bröckelnder Stein. Schräg links ein architektonisch ansprechendes Lokal aus den 1960er-Jahren: geschlossen. Durch die grossen Glasfenster waren die verdreckten Trümmer einer einstigen Einrichtung zu sehen. Überhaupt, die Stadtseite östlich des Schlossplatzes: viele leere Bauten, zum Teil verbrettert, da und dort Baugerüste, aber keine Arbeiter. Dazwischen zwei oder drei in fröhlichen Farben frisch gestrichene Häuser. Als seien ihre Bewohner entschlossen, dem Verfall etwas entgegenzusetzen.

Wir waren bei der zweiten Scheibe Brot, als eine Möwe direkt vor uns landete und uns böse anschaute. Sie wollte unser Brot, das war offensichtlich. Die Möwen in Wales sind so gross wie dicke Katzen. Sie haben Hackschnäbel und es gibt kein anderes Wort für ihren Blick als böse. Richtig böse. Plötzlich eine alte Frau hinter uns, die mit verschrecktem Blick auf den Vogel zeigte. „Be careful!“ warnte sie uns und zeigte mit einer wilden Armbewegung, wie der Vogel einen Angriff auf uns fliegen würde. Sie meinte es gut. Aber ich weiss nicht, ob ich mich mich mehr vor dem Vogel oder vor ihr fürchtete. Sie war hager, ihr zerfurchtes Gesicht liess ahnen, dass sie Dinge erlebt hatte, die man selbst lieber nicht erleben möchte.

Unter höchster Wachsamkeit assen wir. Dann nahmen wir unseren touristischen Auftrag wahr und besichtigten das Schloss von Caernarfon. Es ist ist eine Wucht, aussen und innen. Das Abendessen im Pub The Anglesey Arms war köstlich. Danach ein Spaziergang am Strait of Menai in der langen Junidämmerung.

Dann betraten wir wieder unser Hotel. Im Pub ein einziger Gast, angetrunken. Er kam uns entgegen und sagte mit irrem Grinsen: „Es gibt hier nichts zu essen, die Küche ist abgebrannt.“