Fernbeziehung

„Er hat eine Stelle in Berlin in Aussicht. Wenn er die bekommt, na, dann haben wir eben wieder eine Fernbeziehung. Schon wieder“, sagte meine Lunch-Bekannte Elfie. Sie wohnen erst seit kurzer Zeit zusammen. „Ich hatte auch mal eine Fernbeziehung“, sagte ich. „Das war während meines Studiums. Er war in Luzern, ich in Bern. Eine Stunde vierzig war das damals mit dem Zug.“

„Das kann man ja kaum eine Fernbeziehung nennen!“ lacht Elfie. Ja, klar. Heute ist das keine Fernbeziehung mehr. Heute ist Hamburg-Zürich das Minimum. Alles andere ist kleinkariert. Fernbeziehungen sind Status-Symbole. Wenn man schon die Strapazen einer vierstündigen Zugfahrt mit einem Hörsturz bezahlt wie ich, fällt einem das auf. Das Gegenüber sagt dann nicht nur: „Ich habe eine Fernbeziehung.“ Es sagt auch: „Ich bin stark. Ich brauche den Liebsten nicht täglich an meiner Seite.“ Und: „Ich bin tough. Ich habe die Kraft für diese Reisen.“ Und: „Ich habe einen intimen Kontakt in einer fernen, grossen Stadt. Ich habe ein aufregendes Leben.“

Nun gut, vielleicht hat Elfie das alles gar nicht mitgemeint. Elfie ist jung, klug und wirklich sehr liebenswürdig.

Aber ich habe es damals mitgemeint. Ich wusste es nur noch nicht. Bern-Luzern ging damals als Fernbeziehung noch ziemlich gut durch.

Ich sage Elfie dann doch nicht, was ich damals gelernt habe: dass eine Fernbeziehung erst richtig aufregend wird, wenn aus ihr eine Nahbeziehung werden könnte. Dann fallen die Antworten auf die wirklich wichtigen Fragen: Bin ich tatsächlich stark? Oder habe ich mich nur für stark gehalten, weil er mich aus diskretem Abstand beschützt hat? Bin ich schon bereit, die Ketten der Monogamie definitiv zu tragen? Schrecke ich zurück, wenn ich die Schnappfalle Mutterschaft aufblitzen sehe? Manchmal fallen sie dann wie Hackebeilchen, die Antworten.

„Distanz“ heisst das sechzehnte Wort im Projekt *txt auf neonwilderness. Das hier ist mein Beitrag.

14 Gedanken zu „Fernbeziehung“

  1. Elfie spricht davon, wieder eine Fernbeziehung zu haben, es ist also nicht das erste Mal, dass die beiden so leben (müssen). Ich höre da eher die Hoffnung heraus, dass es auch diesmal wieder gut gehen möge.

    Bei 110 Kilometern und 1 1/4 Stunden Fahrt mit dem Auto bzw. 1 3/4 Stunden mit dem Zug hätte ich aber auch nicht von einer Fernbeziehung gesprochen. Diese Strecke kann man zur Not auch mal unter der Woche abends fahren, und es ist auch klar, dass man sich jedes Wochenende problemlos sehen kann (sofern nicht totale Geldnot herrscht). Bei Fernbeziehungen ist das nicht automatisch der Fall. Ich hatte mal eine mit einem Mann in Moskau und zwei mit Männern in Berlin. Das waren Fernbeziehungen – und als Statussymbol hat das keiner von uns angesehen.

    Oder habe ich mich nur für stark gehalten, weil er mich aus diskretem Abstand beschützt hat?

    Dieses Argument leuchtet mir nicht ein. Meiner Erfahrung nach sind bei Fernbeziehungen ganz andere Fragen hinsichtlich Nähe und Distanz wesentlich.

  2. REPLY:
    Ein Brief von oder nach Moskau war damals 14 Tage unterwegs, sofern er überhaupt ankam. Telefonate waren unerschwinglich teuer, mal abgesehen davon, dass jener Freund damals nur an seiner Arbeitsstelle telefonisch erreichbar war. Er war Physiker und arbeitete damals im Sternenstädtchen bei Moskau, war mithin potenzieller Geheimnisträger. Die große Frage war also, bekommt er überhaupt ein Ausreisevisum, um mich zu besuchen. Es dauerte ein Jahr, und gelang auch nur, weil sein Freund, mit dem er sich das Zimmer im Wohnheim teilte, ebenfalls eine Einladung nach Deutschland hatte und dem KGB wegen der Genehmigung für das Ausreisevisum unermüdlich auf die Nerven ging.

    Der eine der beiden anderen Männer wohnte in Berlin, der andere wusste schon, dass er sein Studium in Berlin fortsetzen und in wenigen Tagen dorthin ziehen würde, als wir uns kennenlernten. Er hatte das Glück, dass sein Vater bei einer großen deutschen Fluglinie arbeitete, deshalb konnte er kostenfrei in die alten Heimat fliegen, so dass wir uns häufiger sehen konnten als das in der anderen Berlin-Beziehung der Fall war. Telefonieren war auch schwierig. Beide wohnten in Ost-Berlin, der eine musste in die öffentliche Telefonzelle, der andere hatte zwar ein Telefon in der Wohnung, den Anschluss teilten die sich aber mit der Redaktion einer Heavy-Metal-Zeitschrift, die ebenfalls in dem Haus ansässig war. Da kam man auch nicht immer durch, einmal schnitt auch deren Anrufbeantworter ein intimes Telefonat mit. Die hatten bestimmt Spaß am nächsten Morgen.

    Wenn man seinen Alltag aufgrund der großen Distanz nicht teilen und sich auch nicht an jedem Wochenende sehen kann, ergibt sich leicht das Problem, dass man erst einmal fremdelt. Oder glaubt, ganz viel in diesem kurzen Wochenende unterbringen zu müssen (der Student hatte schließlich auch noch Freunde hier in der Gegend, die er auch sehen wollte). Generell steht halt auch irgendwann die Frage im Raum, ob man Nähe überhaupt aushält.

  3. REPLY:
    … ist Wochenendbeziehung die präzisere Bezeichnung für das, was ich damals hatte. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das einen so grossen Unterschied macht. Ich meine, dass beides gewisse Beziehungsfragen auf eine ähnliche Art aufschiebt.

    Noch zu dem Satz über den „Schutz aus der Distanz“. Als meine „Fernbeziehung“ begann, war ich 21. Ich hatte eine Jugend mit – vorsichtig ausgedrückt – schwierigen Familienverhältnissen hinter mir und wollte nicht auf emotionalen Rückhalt von meiner Familie zählen, obwohl ich ihn gebraucht hätte. Mein damaliger Liebster gab mir diesen Rückhalt. Aber da war auch diese räumliche Distanz, die dazu führte dass ich mich erwachsener wähnte als ich war. Erst als wir dann hätten zusammenziehen können, merkte ich, dass ich im Grunde noch nicht ganz fertig war. So habe ich diesen Satz gemeint.

    Wie das für und bei Elfie genau aussieht, weiss ich nur teilweise. Vor allem was das Wort „wieder“ betrifft, würde hier alles weitere eine Indiskretion bedeuten.

    Aber ich sehe sehr wohl, dass für andere Leute andere Fragen im Vordergrund stehen. Welche waren es denn bei Dir?

  4. REPLY:
    Das sind ja heftige Geschichten, danke fürs Erzählen! Und alles aus einer Zeit vor E-Mails und Skype!

    Da stelle ich mir auch vor, dass Träume und Projektionen eine sehr viel wichtigere Rolle spielten als in einer Wochenendbeziehung – mir fiel beim Lesen dieser Geschichten eine merkwürdige Affäre ein, die ich mal hatte. Er pendelte zwischen einem drei Zugstunden entfernten Städtchen in Deutschland und London. Ich lebte noch in Bern, später wieder in Luzern. Das war vor E-Mails und im Zeitalter happiger Telefontarife. Ich wäre allerdings nie auf die Idee gekommen, das als Fernbeziehung zu bezeichnen. „Fern“ wars zwar schon, geografisch und innerlich, aber ich rätsle heute noch, ob das Wort „Beziehung“ darauf zutrifft. Und doch hat’s in verschiedenen Verwandlungen viele Jahre lang gehalten. Eine Weile lang war’s wohl nicht viel anderes als Träume und Projektionen und alle paar Monate ein sehr verschwitztes, sehr alkoholseliges, merkwürdig befremdliches Wochenende.

    Und die Frage, ob man Nähe überhaupt aushält? Die habe ich mir damals sehr viel weniger gestellt als heute. Aber das ist eine andere Geschichte.

  5. REPLY:
    Klar, spielten beiderseits mitunter auch Träumereien und Projektionen hinein. Bei der russischen Liebe dürfte aucn noch ein Kulturschock hinzugekommen sein. Zwar kannte er die DDR, er hatte als Kind dort fünf Jahre gelebt, aber stellen Sie sich einmal vor, Sie kommen aus dem noch grauen Sozialismus der sich bald auflösenden Sowjetunion – während seines Besuchs bei mir geschah der Augustputsch in Moskau – in den Westen. Ich weiß ja, wie es mir nach meinem Schultrip in die Sowjetunion der Prä-Perestroijka-Zeit am Frankfurter Flughafen erging. Die bunte Werbung drohte mich fast zu überwältigen, nachdem ich zehn Tage lang nur solche Banner gesehen hatte.

  6. REPLY:
    Hoffentlich konnte Dein Liebster irgendwo die Nachrichten verfolgen – sicher sehr beängstigend, wenn man im Ausland ist und zu Hause gerade solche Umwälzungen stattfinden!

    Ich war 1998 in Russland, als fast zehn Jahre nach dem Mauerfall. Wir logierten eine Woche in einem hübschen Städtchen südwestlich von Moskau. Da erlitt ich meinen Kulturschock – ein Landstädtchen mit nur zwei geteerten Strassen, kaum Schaufenster, Restaurants Fehlanzeige. Ich kannte dort einen Schweizer, der eine grössere Schreinerei saniert und hatte und nun markttaugliche Holzprodukte herstellte. „Särge machen wir auch, am meisten im Februar, dann verhungern und erfrieren die alten Leute, die keine Angehörigen haben.“ Und dann gingen wir nach Moskau – Prachtsbauten, mörderischer Verkehr, aber insgesamt alles noch sehr ärmlich und kaum eine touristische Infrastruktur.

    Mein Schreiner-Bekannter heiratete wenig später eine Russin, aus dem Kleinstädtchen. Er wollte dortbleiben. Zuerst brachte er sie trotzdem ein paar Monate in die Schweiz. „Sie muss wissen, wie das hier ist. Sonst hat sie falsche Vorstellungen von der Schweiz“, sagte er. Nach ein paar Wochen hatte ich sie mal am Telefon. „Wie gefällt es Dir hier?“ fragte ich sie. Sie sagte: „Koschmar!“ Ein Alptraum. Und dann fragte sie mich, ob es hier keinen Schnee gäbe. Sie hatte solche Sehnsucht nach Schnee. „Nur auf den Bergen“, sagte ich. Es war im November. „Ach die Berge!“ Sie hasste die Berge.

  7. REPLY:
    Ja, wir verfolgten die Nachrichten. Sein Freund aus dem Wohnheim war zur gleichen Zeit in Frankfurt, ein dritter Freund – der einzige, mit dem ich heute noch Kontakt habe – ebenfalls in der Nähe. Wir fragten uns wohl alle, ob sie überhaupt würden zurückkehren können.

    Wissen Sie, was aus den beiden wurde?

    Passend zum Thema des Threads stieß ich eben zufällig auf ein Kunstwerk von Wolf Spies: Sehnsucht stirbt im Schuhkarton – zum Thema:Die Liebe zu den Briefen.

  8. wie wahr, wie wahr, liebe Frau Frogg. Ja, Sie lesen richtig, mich gibt es noch… und als stille Leserin halte ich Ihnen konstant die Treue… aber zurück zum Thema.

    Ich war 29. Wohnte in Köln. Mein zum besagten Zeitpunkt kurzfristiger Partner ebenfalls. Er erhielt – oh Freude – eine Stelle in Berlin. HdK. Da gab es selbstredend kein Zögern. Für ihn. Für mich. Nur, dass mich noch etwas in Köln hielt. In Persona meine sterbende Mutter. Sie starb langsam. Und elendig. Das langsame Sterben bildete die wesentliche Koordinate meiner Fernbeziehung. Zwei Jahre. Zwei Jahre, die ich – was das Beziehungserleben anbelangte – genoss.

    Dann kam der Zeitpunkt und ich zog nach Berlin. Nein, nicht zu ihm. Eine eigene Wohnung war mir wichtig. Ein eigenes Berlin-Erleben war mir wichtig. Und es kamen der eigene Job, die eigenen Kolleginnen, eigene Freundinnen. Mein Freundeskreis in Köln hatte mich stets bewundert und ich mich in der Bewunderung abwinkend gesuhlt. Dass ich das könne … eine Fernbeziehung…. Was er doch alles in der Zeit meiner Abwesenheit wohl treiben könne… und wie ich das wohl schaffe. Jetzt auf der Ausblicksplattform Ihres Beitrages und aus der Vogelperspektive der Vergangenheit kam ich mir tatsächlich stark und unabhängig vor. Ein wenig die Jeanne d’Arc des liberalen Beziehungs-er-Leben. Oder auch nicht.

    es zerscholl alles.. an meiner Unfähigkeit eine verbindliche Nähe einzugehen, an meinem Unwillen, mich auf ein Morgen zu verpflichten, an meiner Erkenntnis, dass meine Autonomie als hochpolierte Lüge das Unvermögen, Nähe zu erleben verbarg.

    Es folgte später noch eine Affaire mit einem verheirateten Mann, wobei ich beim Eingehen der Affaire über seine ehelichen Verpflichtungen nicht informiert war. Egal. Tatsächlich lebte ich diese Affaire fünf Jahre. Und machte von Anfang an klar, dass ein späteres Miteinander, oder Erküren meinereins zur Hauptfrau für mich nicht in Frage komme….

    Das brauchte noch diverse Aeonen bis ich mich „traute“. Und das war nun beileibe für alle Beteiligten kein durchgehend vergnüglicher Akt. Tscha, so ist das, wenn frau sich selber ein Hackebeilchen ist…

    Mit herzlichem Gruß aus schweigender Nähe!

  9. ich glaub ja (trotz eines erfrischend gegenteiligen beispiels in meinem nächsten bekanntenkreis), dass fernbeziehungen um so schlechter funktionieren, je jünger man ist. oder sagen wir so: meine definitiv;)

  10. REPLY:
    Sehr poetisch!

    Was meine Freunde in Russland betrifft: Persönlich habe ich keinen Kontakt mehr mit ihnen. Die beiden haben aber ein Hilfsprojekt gegründet in seinem russischen Städtchen (hier mehr dazu) – ich spende jährlich und lese auch den Jahresbericht. Lange Zeit schien es aufwärts zu gehen mit Russland. Im letzten Bericht gab es aber einen sehr eindrücklichen Beitrag zu den Ukraine-Flüchtlingen, die nach Russland geströmt sind, und die Bevölkerung dort auch vor Herausforderungen stellt (wobei die von Anfang an sehr viel einfacher leben als wir hierzulande).

  11. REPLY:
    So schön, Sie hier zu lesen! Ja, bei diesen Schilderungen fühle ich mich sehr verstanden! – Bis hin zum Hackebeilchen. Vielleicht ist es einfach so: Wenn wir Frauen einmal die Freiheit geschmeckt haben, geben wir sie wohl nicht so leicht wieder her. Was dann aber auch zu einem sehr ungemütlichen Hin und Her führen kann.

  12. REPLY:
    Ich muss zwar sagen, meine Fern- (oder sagen wir präziserweise Wochenendbeziehung) von damals war von all den Problemen, die Sie hier schildern, so gut wie unbelastet. Ich habe einfach (fast) immer sehr unkomplizierte, kooperative Männer gehabt, dünkt mich, wenn ich das so lese.

  13. Hm … also ich würde eine Fernbeziehung nicht durchs Alter und schon gar nicht durch irgendwelche Statussymbole einordnen. Und auch nicht durch Kilometer und Zeiten, wann man sich trifft. Viel entscheidender ist es doch, was für eine Beziehung man allgemein will bzw. was für eine Beziehung man nun explizit mit diesem Partner will. Und dementsprechend auch, was der Partner für Vorstellungen hat. Nun ja, persönlich könnte ich mir jedenfalls auf Dauer keine Fernbeziehung vorstellen.

  14. REPLY:
    dass am Schluss zählt, was man allgemein will – und wie man sich entwickelt. Manchmal merkt man gewisse Dinge erst recht spät 😉

    Aber durchs Alter habe ich Fernbeziehungen eigentlich nicht geordnet und auch nicht ordnen wollen.

    Was die Statussymbole und die Liebe betrifft: Darüber könnte ich eine Doktorarbeit schreiben. Natürlich verliebt man sich nicht in jemanden, nur weil man sich durch seinen Wohnsitz in der Ferne einen Statusgewinn erhofft. Aber man erntet doch Neugier – und, wie von Frau Falkin geschildert – teils bewundernde Aufmerksamkeit in seinem Freundeskreis, wenn man einen fernen Lover hat.

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