Messerlis Finger

Neulich setze ich mich zum Mittagessen in der Cafeteria zum Kollegen Messerli – er ist in Begleitung einer jungen Frau, die er mir als die Praktikantin Diana vorstellt.

Messerlis Ehefrau kocht gerne, und so bringt er sein Mittagessen oft von zu Hause mit. Heute hat er rohes Gemüse dabei, das er in eine Dip-Sauce taucht. Diese hat ungefähr die Farbe und Konsistenz von etwas zu flüssiger Erdnussbutter. Bald ist das Gemüse alle. Vom Dip dagegen ist noch eine Menge da. Das Sösseli scheint schmackhaft zu sein. Denn während Messerli mit seiner üblichen Leichtigkeit konversiert, taucht er bald den Finger tief in das durchsichtige Plastikgefäss, führt ihn mit erdnussbuttriger Last zum Mund, steckt ihn hinein und leckt ihn genüsslich ab. Das tut er, bis im Plastik nur noch ein paar schleimige Reste übrig sind – und dann tut er es wieder. Zweimal, dreimal, viermal. Ich glaube, er merkt gar nicht, was er tut.

Ich lasse bei Leuten, die gut plaudern, gerne puncto Tischmanieren die Fünf gerade sein. Man ist ja selber nicht perfekt. Aber Messerlis Gelecke ekelt mich doch ein bisschen. Und als ich Diana einen Seitenblick zuwerfe, sehe ich, wie sie angewidert die Mundwinkel nach unten zieht. Die jungen Leute sind ja in solchen Dingen noch viel heikler als wir Endvierziger.

Es ist an mir, Messerli zu stoppen. Diana wird es nicht tun, dafür hat sie hier zu wenig zu melden. Ich bin die ältere und theoretisch im Besitz von genügend Autorität. Aber ich winde mich. Um ehrlich zu sein: In solchen Momenten fehlt es mir an Fingerspitzengefühl und Zivilcourage. Ich meine: Man muss bei einer solchen Sache locker und fröhlich bleiben, sie zur Sprache bringen, als ob sie eine amüsante Kleinigkeit wäre. Sonst erreicht man nicht, was man erreichen will und riskiert eine blöde Retourkutsche. Und mit blöden Retourkutschen bin ich nie besonderes gut gewesen.

Messerlis durchsichtige Plastikgefäss hat schon fast ein speichliges Loch von Messerlis Finger, als ich endlich locker und fröhlich herausbringe: „Hör auf damit, Messerli, es ist ja nichts mehr da!“

Hat es funktioniert? Ja, hat es. Zum Glück.

Dies ist ein neuer Beitrag zu Dominik Leitners famosem Projekt *txt. Gewissermassen in letzter Sekunde habe ich noch etwas zum elften Wort, „Fingerspitzengefühl“ hinbekommen

Putztag in Grossmutters Laden

Meine Grosseltern hatten eine Bäckerei am Dorfrand. Und weil es damals noch weit und breit keinen anderen Lebensmittelladen gab, verkaufte meine Grossmutter nicht nur Brote, Weggli und Nussgipfel – sondern alles, was die Nachbarn so brauchten: Milch und Reis, Wienerli und Päcklisuppen, Rivella blau und Coca Cola, Gummibärli, Waschpulver und Tabakwaren. Als ich ein Kind war, verbrachte ich dort oft meine Ferien.

Schon meine Grossmutter war kein Putzteufel. So entdeckte ich eines Tages im Gestell mit den Tabakwaren eine Spinnwebe. Ich entschloss mich, gleich das ganze Gestell zu reinigen. Meine Grossmutter liess mich gewähren. Ich war noch keine zehn Jahre alt, und es war das letzte Mal in meinem Leben, dass ich nicht aus schierer Notwendigkeit putzte. Der Tabak krümelte ein bisschen, als ich die blauen Pakete aus dem Gestell räumte.

Aber es machte Spass, und so kam auch das Reisgestell an die Reihe. Und dann der Boden, wo die Waschmittelpackungen sich stapelten. Mittlerweile war ich ermüdet und wollte den Waschmittel-Turm nicht auch noch abräumen. Ich putzte den Boden um den Turm herum – es muss dabei ziemlich feuchtfröhlich zugegangen sein, denn die unterste Waschmittelpackung hatte bald ein nasses Loch in einer Ecke. Ein Waschpulver-Rinnsal ergoss sich auf den nassen Boden. Ich wollte das aufgeweichte Pulver wegputzen, beschädigte dabei den Karton noch mehr, und schon knickte das Behältnis ein, neigte sich der Turm zur Seite, und dann berührte die zweitunterste Packung die nassen Fliesen. Es war wie beim Goethes Zauberlehrling. Je mehr Waschpulver ich wegputzte, desto mehr kam nach. Bald schäumte es im Ladenlokal.

Schliesslich schritt Grossmutter doch noch ein und warf mich aus dem Laden. Es war das einzige Mal, dass sie wütend auf mich war, jedenfalls für fünf Minuten.

Zu Herrn Trittenheims inspirierendem Projekt „Die Läden meiner Kindheit“ – Hier weitere Beitrage von Mitbloggern

Enttarnt

„Neeeein, nicht noch ein Beitrag über diese Autorin Elena Ferrante!“ höre ich jetzt einige von Euch rufen. Aber Ihr müsst da jetzt durch, denn ich habe etwas zu dem Thema zu sagen. Ich bin vielleicht die erste Leserin auf der Alpennordseite, die alle vier Bände des „Napoletanischen Quartetts“ mit den Heldinnen Lila und Lenu verschlungen hat (auf Englisch – Italienisch kann ich zu wenig gut).

Und? Was soll ich Euch verraten über diese circa 1500 Seiten, auf denen zwei Italienerinnen um ein besseres Leben kämpfen? Fragt, wenn Ihr etwas wissen wollt! Hier nur so viel: Die Lektüre lohnt sich. Ferrante gibt uns eine vielschichtige Chronik weiblicher Erfahrung in den letzten sechs Jahrzehnten – und ein paar tief erschütternde Wendungen im Plot.

In den Medien war die Enttarnung der Autorin die noch grössere Sensation als die erstaunlichen Verkaufszahlen ihrer Bücher. Irgendein Journalist will herausgefunden haben, wer sich hinter dem Pseudonym Elena Ferrante verbirgt. Sie soll eine Übersetzerin in Neapel sein, deren Namen ich nicht zu wiederholen brauche. Hierzulande kennen sie wohl nur die wenigsten. In Neapel dürfte das anders sein – die Literaturszene ist dort wohl nicht sehr gross. Für die Frau, die sich angeblich hinter dem Pseudonym verbirgt, dürfte sich fast alles verändern.

Aber warum wählt so jemand überhaupt ein Pseudonym? Nun, wir als Blogger verstehen das: Wir erzählen am besten unter dem Schutz unseres Nicks. Wir erzählen am wahrsten, wenn wir für unsere Leser wie eine Fremde im Zug sind. Ich für meinen Teil möchte nicht, dass meine Arbeitskollegen oder – Gott bewahre! – meine Chefs meinen Blog lesen.

Vielleicht ist es das, was mir das Schreiben in letzter Zeit schwerer macht. Mittlerweile habe ich nur noch wenige Leserinnen und Leser. Ich habe den Verdacht, dass die meisten mich persönlich kennen. Versteht mich bitte nicht falsch – es rührt mich jedes Mal, wenn ich höre, dass mich überhaupt noch jemand liest. Aber manchmal verschlägt es mir deswegen fast die Sprache.

Trump und die Medien

Zwei Tage nach dem Trump-Sieg haben die Medien in den USA mit der Selbstgeisselung begonnen – das habe ich hier gelesen. Man habe in den grossen Städten in einer Blase gelebt und das Desaster nicht kommen sehen, wehklagen sie. Gut so, sollen sie sich bessern, und ich hoffe, das schwappt dann auch auf die Schweiz über. Ich sage das als Leserbriefredaktorin einer mittelgrossen Zeitung in einem konservativen Teil der Schweiz (grosses Geständnis, aber ich muss jetzt mal Dampf ablassen).

In der Schweiz haben wir ja reichlich Erfahrung mit Volksentscheiden, deren Ausgang „alle“ schockiert. Zum Beispiel das Minarett-Verbot. Oder die Masseneinwanderungsinitiative. Nur ich als Hüterin der Leserbriefspaltenn habe die Dinge jeweils kommen sehen. Als meine Stammkunden bis weit in die politische Mitte hinein über die angebliche Unverschämtheit der Muslime oder zu viel Zuwanderung zu klagen begannen, wusste ich: Da ist etwas im Busch. Bei der Minarettinitiative lag ich mit meiner Prognose besser als unser landesweit bekannter Umfragen-Guru Claude Longchamp.

Mein Problem ist: Die Leserbriefschreiber wiederholen in aller Regel auch nur die ewig gleichen Argumente. Ich habe mich deshalb schon hundertmal, schon tausendmal gefragt: Steckt eine authentische Erfahrung dahinter, wenn dieser oder jener nicht mal so ungebildete, wahrscheinlich nicht mal so schlecht situierte ältere Herr plötzlich das Klagelied von der Überfremdung anstimmt? Und was für eine Erfahrung ist das?

Hundertmal, tausendmal habe ich mir geradezu inbrünstig gewünscht, irgendjemand könnte es mir erklären. Ich kann ja nicht mit den Absendern dieser Leserbriefe diskutieren, das würde mir als Parteilichkeit ausgelegt. Und nur schon der Verdacht der Parteilichkeit ist Gift für eine Leserbrief-Redaktion.

So hoffe ich nun, dass die Amerikaner herausfinden, wie man die Probleme des unteren Mittelstandes versteht. Nur: Sogar wenn die Medien ein Phänomen wie den Trump-Sieg dereinst ohne Rückgriff auf die üblichen Klischees erklären können – was genau würde das verändern? Und: Die meisten Menschen machen politisch prägende Erfahrungen am Arbeitsplatz – und nichts ist vor der Öffentlichkeit so gut abgeschirmt wie die Vorgänge in den grossen und kleinen Firmen dieser Welt.

Und noch etwas: Dass man nicht mehr wisse, was im ländlichen Amerika vor sich gehe, habe auch mit dem Niedergang der Lokalmedien zu tun. „Nachrichten kosten Geld“, sagt eine amerikanische Journalistin im verlinkten Bericht. Und Geld ist genau das, was heute den meisten Medien fehlt.

Verdammtnochmal!!!

Mittlerweile verbringe ich mehr Zeit mit dem Versuch, mich auf mein WordPress-Kommentar-Konto einzuloggen als mit Bloggen selber. Das ärgert mich dermassen, dass ich im Moment üüüberhaupt keine Lust habe, von twoday nach WordPress umzuziehen. Jawohl!

Und, ja, ich war auch geschockt wegen Donald Trump. Aber lamentieren hilft nix – jetzt können wir nur abwarten, was kommt.

Das neue Café

Sonntagnachmittag. Der pedestrian und ich haben wieder einmal die gigantischen Baustellen am Seetalplatz besichtigt. Jetzt stehen wir beim Bahnhof Emmenbrücke und hoffen, in der Nähe einen guten Kaffee zu bekommen. Allzu zuversichtlich sind wir nicht. Cafés sind lange Zeit nicht so die Stärke von downtown Emmenbrücke gewesen. Es gibt in der Gegend bloss eine hohe Dichte von Kebab-Lokalen und ein paar Büezer-Beizen. Und eine Tierfutterfabrik.

Aber jetzt hat sich etwas getan: Gleich vis à vis vom Bahnhof leuchten die Neonfarben eines Cafés. Sieht aus wie ein Kaffeehaus für ältere Damen, mit Nussgipfeln auf den Tischen und so. „Caffe Mlinar“ heisst es – ein merkwürdiger Name, denke ich. Aber interessant.


(Quelle: zentralplus.ch)

Wenig später sitzten wir im rappelvollen Lokal. Es ist tatsächlich ein Kaffeehaus. Aber ohne Nussgipfel – in den Körbchen liegen Böreks und andere Produkte aus Filo-Teig. Hier sitzen Alt und Jung, die Stimmung ist fröhlich. Ich finde es so spannend, dass ich für eine halbe Stunde glatt an meinen Ohren zu leiden vergesse. Und der Kaffee ist intensiv, ganz wie er mir mundet.

Emmenbrücke beginnt sich zu verändern. Es ist immer noch ein Moloch aus Fabriken, Verkehr und billigen Wohnungen. Hier leben immer noch die Büezer und die Migranten, aus Sri Lanka und Bosnien, aus Kosovo, Kroatien und der Türkei, aus Äthiopien und Eritrea. Nur auf den Hügeln drängen sich Einfamilienhäuschen, die den hiesigen Lehrern und ein paar Bauunternehmern gehören. Im neuen Café scheinen alle einen Treffpunkt gefunden zu haben. Und wenige Schritte weiter entsteht ein neues Stadtquartier.

Zu Hause google ich ein bisschen und stelle fest: Das Caffe Mlinar hiesse zu Deutsch Café Müller und gehört zu einer kroatischen Kaffeehauskette. Und es hat eine aussergewöhnliche Geschichte, bei der ein lokaler Spitzenfussballer eine wichtige Rolle spielt.

Besoffen

Normalerweise rettet mich Herr T. Wenn ich nicht mehr allein gehen kann, rufe ich ihn an. Dann holt er mich ab. Aber Herr T. ist auf Reisen. Ich muss mich diesmal selber retten. Herr Menière hat mir eben von hinten einen Stoss verpasst. Ich schaffte es, gegen das Mäuerchen am Wegrand zu torkeln. So bin ich wenigstens nicht der Länge nach auf den Asphalt geknallt. Ich stehe, aber vor mir dreht sich alles. Eine Drop Attack – auch Tumarkin-Anfall genannt.

Weit und breit keine Busstation, nicht einmal eine Strasse, sonst könnte ich’s mit einem Taxi versuchen. Ich schlucke ein Motilium gegen den Brechreiz und kämpfe mich den Hügel hoch, heimwärts, hangle mich von Mäuerchen zu Lattenzaun zu Treppengeländer. Wenn Leute kommen, bleibe ich diskret stehen. Ich will nicht, dass sie denken, ich hätte 2,4 Promille intus.

Ich schaffe es auf den Hügel hinauf, aber ich muss auch noch auf der anderen Seite hinunter. Und hinunter ist schwierig. Hinunter fühlt sich an wie freier Fall. Als drei Personen kommen, weiss ich: Ich muss jemanden um Hilfe bitten. Es sind zwei ältere Damen und ein junger Freak mit gedrehten Locken und einem Hund.

Ich wähle den Freak – die alten Damen sehen mir zu proper aus, propere Leute betrachten eine Krankheit oft als moralisches Versagen. Ausserdem ist schwer einzuschätzen, wie gut sie selber zu Fuss sind. Der junge Mann aber sieht schon von hinten aus, als ob er wüsste: Der Mensch ist manchmal Kräften ausgesetzt, für die er nichts kann. Ich rufe nach ihm.

Er reagiert sofort und lässt mich seinen Arm nehmen. Das reicht schon. Jetzt kann es abwärts gehen.

Mein Gott, wie er nach Alkohol riecht!

Aber er erweist sich als genau das, was ich gebraucht habe: Standfest und kein bisschen neugierig. Er macht ein paar Witzchen und erzählt, wie er sich bei einem Sturz über ein Mäuerchen die Fussknochen zersplittert hat – und dass diese Art Schwindel kennt. Er hätte die Kurve auch schon nicht gekriegt.

Er führt mich noch schnell vor meine Haustür, obwohl das gar nicht an seinem Weg liegt und ihm sein Fuss wehtut.

Vor meiner Haustür schüttle ich ihm dankend die Hand und schaue ihm zum ersten Mal in die Augen. „Kann ich etwas für Sie tun?“ frage ich und denke: Gleich wird er mich um Geld bitten. Aber er schaut mich nur an und schüttelt den Kopf. Er hat etwas merkwürdig Totes in den Augen.

Selbstverständlich

Beim Einkaufen im Coop muss ich mich mal kurz an dem Gestell mit den Duschgel-Aktionen festhalten. Mein Gleichgewichtssin spinnt wieder. Nur wenn ich mich irgendwo festhalten kann, fühle ich mich sicher. Ich versuche, nicht aufzufallen. Ich beobachte die Kundinnen, die an mir vorbeihasten. Wie sicher sie die Kurven nehmen! Mit welch tänzerischer Leichtigkeit sie sich drehen und wenden! Beneidenswert. Sie sehen dabei ein bisschen arrogant aus, finde ich. Wie Töchter aus gutem Hause, die Gewissheit haben, dass die Dinge ihnen ganz selbstverständlich zustehen.

Düster, düster

Die Weltlage ist ungemütlich, auch in unserem kleinen Europa. Seit der Brexit-Abstimmung ist der Zerfall der Europäischen Union in den Bereich des Möglichen gerückt. Der Klimawandel schickt schon mal seine Regenfluten voraus. Und wenn man gewissen Experten glauben will, hat die so genannte Flüchtlingskrise eben erst begonnen.

Früher, denken, früher war alles besser. Wir hatten Gewissheiten: Die EU wird weiter wachsen. Wir werden immer einen Job haben (wenn wir uns nicht zu blöd anstellen), und für unsere Kinder wird alles gut. Und das mit dem Klimawandel: Naja, das sagt man uns seit dreissig Jahren. Aber wir wären ja blöd gewesen, wenn wir deswegen auf’s Fliegen verzichtet hätten. Alle anderen haben das schliesslich auch nicht getan.

Ja, eben. Dieses Horrorszenario kennen wir seit zwanzig Jahren. Überhaupt gab es eigentlich immer jede Menge Schrecknisse am Horizont. Wer sich nicht daran erinnert, verklärt die Vergangenheit. Meine Mutter hat einmal gesagt: „Als du zwei Jahre alt warst, hatten wir den Sechstagekrieg. Wir hatten schon Angst, dass daraus ein Weltkrieg wird. Und du warst doch noch so klein.“ Meine Mutter war nicht mit der Gewissheit geboren, dass es nie wieder Krieg geben wird. Sie hat Jahrgang 1942. Aber wer erinnert sich hier in der Gegend heute noch an den Sechstagekrieg?

Bis zu meinem 24. Lebensjahr war sowieso Kalter Krieg mit allem, dazugehörte: Atombomben, Stellvertreterkriege in Vietnam und Afghanistan, dem bösen Kommunismus. Wer damals in die Kristallkugel blickte, sah nichts als Tod, Zerstörung und Knechtschaft.

Als ich 16 war, kam die Horrorvision vom Waldsterben. Ich erinnere mich noch gut, wie ich als junges Mädchen in unserer Gegend durch den Wald fuhr und die Abgas-Schäden zu sehen versuchte.

Als junge Menschen liebten wir es, nach ein paar Gläschen Wein richtige Horrorszenarien auszumalen. Eines Abends im Jahre 1991 sassen wir in einem Industrievorort meiner Stadt. Wir begannen aufzuzählen, welche Fabriken verkauft worden waren, welche Leute entlassen hatten und welche demnächst schliessen würden. Es drohte Massenarbeitslosigkeit. Wie sollte das herauskommen? Was würde aus all diesen Leuten werden?

Aber die entlassenen Büezer fanden irgendwo wieder Arbeit. Gegen das Waldsterben erfand man den Katalysator. Und der Kommunismus brach eines Tages einfach in sich zusammen.

Ich will nicht sagen, dass wir diesmal auch so glimpflich davonkommen. Ich sage nur: Früher gab es auch Horrorszenarien. Nicht alle sind Realität geworden.

Mein Beitrag zum siebten Wort von Dominik Leitners famosem Projekt *txt. Das Wort heisst „verklären“.

Mein Wäschekorb, mein Brotmesser

Mein Erwachsenenleben begann mit genau zwei Anschaffungen: einem Brotmesser und einem Wäschekorb. Beide Gegenstände erinnern mich heute noch daran, wie knapp ich damals die Kurve gekriegt habe.

Ich war 21, hatte eben ein Studium an der Uni begonnen und war in eine fremde Stadt gezogen. Ich wohnte zur Untermiete bei einem Kumpel. Der Kumpel hatte kein Brotesser. Und ohne Brotmesser, gopfriedstutznochmal, ohne Brotmesser kann die Enkelin eines Bäckers nicht leben, sagte ich. Also kaufte ich eins. Sonst jedoch fügte ich Kumpels wenigen Besitztümern kaum etwas hinzu. Auch nicht in meinem möblierten Zimmer, in dem ein fremder Schreibtisch stand und ein fremdes Büchergestell und ein fremdes Bett – und mein eigener Wäschekorb, dessen Anblick wahrhaftig meine Seele wärmte, wenn auch nicht hinreichend.

Sagt unsere Wohnungseinsrichtung etwas über den Zustand unserer Seele? Wahrscheinlich schon. Aber wer kann die Zeichen richtig lesen?

Ich frönte der Kargheit. Ich hatte wenig Geld, aber daran allein lag es nicht. All den Krimskrams meiner Mädchenjahre, meine Bücher, meine Bilder hatte ich bei meinen Eltern zurückgelassen. Dass ich dort quasi fluchtartig auszog, fühlte sich an wie ein Racheakt – auch wenn ich nicht genau wusste, wofür. Ich liess mir sogar die Haare schneiden, meine dichten, lockigen Haare. All diese Äusserlichkeiten, ich brauche sie nicht. Ich war Asketin. Ich war nackt und neu auf dem Planeten. Ich würde mich selber erfinden.

Zuerst ging alles gut. Ich blickte aus neunten Stock von Kumpels Wohnsilo hinaus in die grauen Novembertage. Ich schwelgte im Lesen, ich schrieb. Aber immer öfter begannen die Novembertage in mich hineinzublicken. Und dann die Dezembertage. Ich war oft allein. Vier Seminare und vier Vorlesungen die Woche – sie vermochten mein Bedürfnis nach Gesellschaft nicht zu stillen. Die Einsamkeit nahm mich in ihren Würgegriff. Ich glaubte, wahnsinnig zu werden. Ich blickte vom neunten Stock in die Tiefe und spürte unten, im Sandkasten, ihren Sog. Ich konnte mit niemandem darüber sprechen. Es war unaussprechlich. Das ging über Monate so. Oft konnte ich mich nur mit Mühe auf meine Bücher konzentrieren.

Im Februar flüchtete ich in eine Liebe, die nicht in meinen Lebensplan passte. Egal. Der Mann war wunderbar. Und hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet. Der Plan – zweitrangig.

Später zog ich um. Allmählich begann sich mein Zimmer mit Habseligkeiten zu füllen. Die Angstzustände wurden seltener und kürzer. Hätte mein Leben eine andere Richtung genommen, wenn ich meine Wohnung von Anfang an anders eingerichtet hätte? Keine Ahnung. Egal. Es ist doch alles gut herausgekommen, denke ich heute.

Dies ist ein Beitrag zum famosen Projekt *txt von Dominik Leitner. Das fünfte Wort lautet Habseligkeiten.

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