Bergsteigen verboten


Der Pilatus bei Luzern. Heute ist er eine gut besuchte Tourismus-Destination. Aber das war nicht immer so.

637861 Besucher beförderten die Pilatusbahnen 2014. Wie viele dieser Fahrgäste ganz auf den Berg hinauf fuhren, weiss ich nicht. Aber ich weiss: An einem sonnigen Tag herrscht dort oben ziemlich Betrieb. Asiatische Touristen, einheimische Wanderfreunde, der obligate Alphornbläser, Familienausflügler – und die meisten ersteigen auch die höchste Stelle des Berges – den Esel (2182 müM).

Heute nennen ihn manche Luzerner bieder unseren Hausberg. Aber unsere Vorfahren mochten ihn nicht. Im Mittelalter verbot der Stadtrat sogar, ihn zu besteigen. Und das wurde auch geahndet: Als 1387 sechs Geistliche hinaufkraxelten, warf man sie danach ins Gefängnis.

Warum? Nun, im Mittelalter war diese Beschäftigung ohnehin suspekt, sogar subversiv. Als der Dichter Petrarca anno 1336 auf den Mont Ventoux stieg, war das ein Wendepunkt in der Kulturgeschichte. Petrarca ging da hinauf, um selber zu sehen. Er machte eine Entdeckungsreise. So etwas wurde damals von der Obrigkeit nicht ermutigt. Wer würde noch glauben, was irgendein Pfaffe sagte, wenn er jederzeit selber hingehen und sich ein Bild machen konnte?

Beim Pilatus begründete man das Verbot mit einer gruseligen Geschichte. Es hiess, dort oben liege die Leiche von Pontius Pilatus – jenes römischen Statthalters also, der Jesus einst ans Kreuz geliefert hatte. Den Magistraten hatte danach Gewissenspein geplagt, und er fand auch im Tod keine Ruhe. Er wurde ein bösartiges Gespenst. Wo man ihn auch begrub, er brachte Pest und Cholera und Unwetter. Also suchte man für ihn ein abgelegenes Plätzchen – fand den fraktus mons und warf die Leiche des Pontius dort in einen kleinen See. Doch auch hier soll er keine Ruhe gegeben haben. Wenn naseweise Leute auf den Berg stiegen und Steine in den Tümpel warfen, geriet seine arme Seele wieder in Aufruhr – er schickte Blitz und Donner und liess die Bäche über die Ufer treten.

Alte Sage oder Erfindung der Luzerner Obrigkeit? Möglicherweise letzteres. Erst gegen 1600 glaubte auch der Luzerner Stadtrat nicht mehr an den Hokuspokus mit dem Pilatusseeli. Die Ironie daran ist: Heute locken die Pilatusbahnen ausgerechnet mit dieser Story (hier Reisende aus aller Welt auf den Berg.

Das ist mein Beitrag zu Dominik Leitners wunderbarem Projekt *txt. Das zweite Wort in diesem Jahr lautete „Berg“.

7 Gedanken zu „Bergsteigen verboten“

  1. Meines Erachtens sollte das Bergsteigen wirklich verboten werden. Nur ist es dafür schon zu spät. Es führen bereits überall Seilbahnen oder Autostraßen hinauf. Damit gelangen die Menschen, auch ohne sich selber anstrengen zu müssen, auf die Gipfel. (Auf dem Pilatus war ich übrigens, aber das tut jetzt nichts zur Geschichte.)

    In Tirol gibt es z.B. die Hohe Salve. Dieser Berg steht allein da. Wenn man dort Ski fährt gibt es eine Skischaukel mit der man rund um den Berg verschiedenste Abfahrten fahren kann. Nach dem zehnten Lift ist man dann wieder am Ausgangspunkt. (Das tut jetzt aber auch nichts zur Geschichte, – ich meine das Skifahren.)

    Nicht jeder Berg eignet sich für die nun folgenden Betrachtungen, die mich schon sehr lange, eigentlich Jahrzehnte, begleiten. Ich sitze auf dem Gipfel eines Berges wie z.B. auf der Hohen Salve und schaue in die Täler rund herum herunter. Da sehe ich Straßen und Eisenbahnen. Die Menschen sind nicht einzeln zu erkennen, man kann aber aufgrund der Eisenbahn und der Autos erkennen, wie klein sie wirken müssen.

    Jetzt wird es metaphysisch. Wäre ich streng gläubig, müsste ich meinen Glauben bei den Betrachtungen verlieren. Denn die Eigenschaften Allwissen und Allmacht werden hier stark auf die Probe gestellt. Ich kann mir z.B. vorstellen, dass zwei Züge zusammenstoßen werden, wie das eben in Bayern passiert ist. Ich kann also quasi in die Zukunft sehen. Ich kann die Züge aber nicht aufhalten. Nicht ohne ein Wunder zu bewirken.
    Jetzt ist das in Japan z.B. etwas anders. Wenn ein Sturm oder ein Erdbeben droht, müssen alle Hochgeschwindigkeitszüge halten, weil sie in relativ dichtem Abstand hintereinander fahren. Man kann nicht einen halten, ohne dass der nächste Gefahr läuft, aufzufahren.

    Wenn Gott also alles weiss und Unfälle verhindern wollte, müsste er bildlich gesprochen unser gesamtes Leben anhalten. Er scheint das nicht zu tun, und damit ist die Allmacht eher eine sehr stumpfe Waffe.

    Doch abgesehen davon müsste Gott, der von sehr weit auf die Erde schaut, von unserer Kleinheit entsetzt sein. Ich meine nicht die metrifizierbare Körpergröße sondern die Kleinheit unserer Gedanken. Dass er sich dann noch besonders anstrengen möchte, um unsere Unfälle zu verhindern, kommt mir nicht plausibel vor.

    Ja, das sind so einige – die zahmeren – Gedanken, wenn ich am Gipfel eines Berges stehe und hinunter sehe. Und deswegen denke ich, dass das Bergsteigen verboten gehört. Doch wie das so allgemein mit den Menschen funktioniert: alles, was machbar ist, wird gemacht.
    Und so ganz allgemein dahin gesagt: was man in der frischen Luft am Berg an Denkanstößen hat, ist schon eine gefährliche Inspirationsquelle.

  2. REPLY:
    Das füllt eigentlich die theologische Lücke, die sich in diesem Text auftut – auch wenn es zurzeit von Petrarca noch keine Eisenbahnzüge gab. Danke Herr Steppenhund!

  3. Sehr nett geschriebene Geschichte. Ich liebe ja Phantasie! 🙂 Im Mittelalter war diese mehr ausgeprägt, als in unseren heutigen rationalen Welt.

  4. REPLY:
    Ja, die Geschichte von Pontius Pilatus hat mich auch immer fasziniert. Sie gehörte zur Folklore meiner Kindheit. Aber ich möchte nicht zu den sechs Geistlichen gehören, die in den Knast wanderten. Zumal die Haftbedingungen damals noch nicht so ganz nach unserem Gusto waren 😉

  5. REPLY:
    … auf die Leseliste nehmen. Als ich über die Geschichte nachgedacht habe, wurde mir bewusst, dass Pilatus eigentlich eine geradezu kafkaeske Figur ist. Macht seinen Job, wahrscheinlich Dienst nach Vorschrift, will sich Ärger sparen. Ist von der Vorsehung dazu bestimmt, durch mangelndes Engagement einen höchst bedeutsamen Mord nicht verhindert – oder verschuldet (?) – zu haben. Erst danach erkennt er seinen Irrtum – den er ja begehen musste, weil er dazu ausersehen war. Trotzdem quält ihn das Gewissen bis über den Tod hinaus. Ich muss sagen: Ich habe ein gewisses Mitleid mit ihm.

    Wie Faust und Pilatus zusammenhängen – das kann ich allerdings nicht nachvollziehen.

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