Mein Erwachsenenleben begann mit genau zwei Anschaffungen: einem Brotmesser und einem Wäschekorb. Beide Gegenstände erinnern mich heute noch daran, wie knapp ich damals die Kurve gekriegt habe.
Ich war 21, hatte eben ein Studium an der Uni begonnen und war in eine fremde Stadt gezogen. Ich wohnte zur Untermiete bei einem Kumpel. Der Kumpel hatte kein Brotesser. Und ohne Brotmesser, gopfriedstutznochmal, ohne Brotmesser kann die Enkelin eines Bäckers nicht leben, sagte ich. Also kaufte ich eins. Sonst jedoch fügte ich Kumpels wenigen Besitztümern kaum etwas hinzu. Auch nicht in meinem möblierten Zimmer, in dem ein fremder Schreibtisch stand und ein fremdes Büchergestell und ein fremdes Bett – und mein eigener Wäschekorb, dessen Anblick wahrhaftig meine Seele wärmte, wenn auch nicht hinreichend.
Sagt unsere Wohnungseinsrichtung etwas über den Zustand unserer Seele? Wahrscheinlich schon. Aber wer kann die Zeichen richtig lesen?
Ich frönte der Kargheit. Ich hatte wenig Geld, aber daran allein lag es nicht. All den Krimskrams meiner Mädchenjahre, meine Bücher, meine Bilder hatte ich bei meinen Eltern zurückgelassen. Dass ich dort quasi fluchtartig auszog, fühlte sich an wie ein Racheakt – auch wenn ich nicht genau wusste, wofür. Ich liess mir sogar die Haare schneiden, meine dichten, lockigen Haare. All diese Äusserlichkeiten, ich brauche sie nicht. Ich war Asketin. Ich war nackt und neu auf dem Planeten. Ich würde mich selber erfinden.
Zuerst ging alles gut. Ich blickte aus neunten Stock von Kumpels Wohnsilo hinaus in die grauen Novembertage. Ich schwelgte im Lesen, ich schrieb. Aber immer öfter begannen die Novembertage in mich hineinzublicken. Und dann die Dezembertage. Ich war oft allein. Vier Seminare und vier Vorlesungen die Woche – sie vermochten mein Bedürfnis nach Gesellschaft nicht zu stillen. Die Einsamkeit nahm mich in ihren Würgegriff. Ich glaubte, wahnsinnig zu werden. Ich blickte vom neunten Stock in die Tiefe und spürte unten, im Sandkasten, ihren Sog. Ich konnte mit niemandem darüber sprechen. Es war unaussprechlich. Das ging über Monate so. Oft konnte ich mich nur mit Mühe auf meine Bücher konzentrieren.
Im Februar flüchtete ich in eine Liebe, die nicht in meinen Lebensplan passte. Egal. Der Mann war wunderbar. Und hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet. Der Plan – zweitrangig.
Später zog ich um. Allmählich begann sich mein Zimmer mit Habseligkeiten zu füllen. Die Angstzustände wurden seltener und kürzer. Hätte mein Leben eine andere Richtung genommen, wenn ich meine Wohnung von Anfang an anders eingerichtet hätte? Keine Ahnung. Egal. Es ist doch alles gut herausgekommen, denke ich heute.
Dies ist ein Beitrag zum famosen Projekt *txt von Dominik Leitner. Das fünfte Wort lautet Habseligkeiten.
REPLY:
Herr BoMa – ich glaube, den Sog der Tiefe spüren viele in gewissen Lebenslagen. Aber es ist schwierig, darüber zu sprechen. Ein Tabu, mit Angst behaftet, man vergisst ihn am besten, so schnell man kann. Aber ich kann ihn nicht vergessen. Ich spüre ihn immer unmittelbar nach meinen besten Stunden: Wenn ich mich ganz ans Schreiben verliere. Er ist der Grund, weshalb ich bis jetzt nichts Literarisches richtig hinbekommen habe – und ich weiss immer noch nicht, wie ich mit ihm umgehen soll.
REPLY:
… als würde es mir den boden unter den füßen wegeziehen, oder als würde ich an einer steilwand hängen und mir wird dies urplötzlich bewusst – jedenfalls einen unheimlichen moment lang.
ich suche halt, klammere mich mit verschwitzter hand an mein bier oder an einer tischkante…
REPLY:
wenn ich einen Schwindelanfall habe 🙂 (Aber für alle Mitlesenden: Bitte keine psychosomatischen Theorien jetzt, damit ist dem Problem eh nicht beizukommen). Bei mir sind es eher Einsamkeitsgefühle in solchen Momenten. Das Gefühl, in einer unendlich weiten Ebene ganz allein zu stehen, und die Sonne brennt auf mich. Der Sog der Tiefe kommt dann erst, wenn aktuell Tiefe zu sehen ist …
Liebe Fröschin, erst jetzt gelesen, weil ich vorher meinene Habseligkeitentext abliefern wollte – hach, kenne ich auch, den ziehenden Blick …schön geschrieben, ich vermisse Sie, kommen Sie bald wieder nach Wien, bitte…
REPLY:
Ja, ich weiss, ich habe das Schreiben vernachlässigt. Mein Kopf produzierte plötzlich nur noch Fotografien, keine Texte mehr. Aber es wird wieder anders werden!
Ich würde sehr gerne nach Wien kommen – muss noch ein wenig abwarten, wie sich mein Gesundheitszustand entwickelt. Das Tessin habe ich mit abartigem Schwindel absolviert. Möchte Wien Wien – und Euch – mit einer gewissen Standfestigkeit begegnen.
Liebe Frau Frogg!
Graue Novembertage. Nebel. Sich im Würgegriff der Einsamkeit fühlen.
Ich habe Ihre Erzählung erst heute entdeckt, Februar 2017. Und gelesen. Manches erinnert mich an meine Geschichte. Die grauen Nebeltage. November. Ich war 17 und von daheim ausgezogen. „Ich will auf eigenen Beinen stehen“ war mein Motto geworden und war auf den Hof meines damaligen Freundes gezogen. Als junge Bäuerin. Selbständig. Mein Freund war außer Haus berufstätig und ich den ganzen Tag allein.
Allerdings habe ich andere Schlüsse aus meinem Alleinsein gezogen, als ich Sie in ihrer Erzählung las. Für mich war diese Zeit eine Zeit, in der ich den Sinn des Lebens, die Religion und ihre Rituale, mein Dasein hinterfragte und daraus wertvolle Erkenntnisse gewann. Tag für Tag allein sein, ohne Auto oder Moped, ohne Telefon, ohne fließendes Wasser im Haus. Kein Lärm, kein Dröhnen von Verkehr oder die Geschäftigkeit in Einkaufsstraßen. Allerdings hielt ich mich gerne in der Natur auf. Draußen bei den Bäumen, zog über die Flur oder schaffte etwas im Garten. Die Natur war meine Lehrmeisterin des Lebens. Der graziele Bau der Birken, der knorrige Wuchs alter Birnbäume, die dornigen meterlangen Ranken der Brombeersträucher, der Flug der Schmetterlinge zu blühenden Wildkräutern wie Oregano, das Summen der Hummeln …. die blauen Augen der ersten Leberblümchen im Frühling ….