Kürzlich wurde meine Nichte Marie-Christiane konfirmiert. Da stand sie, sechzehn Jahre alt, überragte mich in ihren Pumps fast um Haupteslänge, eine grazile junge Göttin im roten Kleid. Die schönste von allen. Ich sah sie noch vor mir, wie sie mit vier war, ein Kind das mit grossen Augen und ein paar Playmobil-Puppen Geschichten dahinfabulieren konnte, stundenlang (Hier habe ich davon erzählt). Tempi passati, sie wird jetzt erwachsen.
In der Kirche mussten die Konfirmanden über immaterielle Schätze sprechen, über die Dinge, von denen sie im Leben zehren. Sie nannten die Familie, Freunde, gar das Tennis. Meine Nicht sagte, die Erinnerung sei ihr Schatz. Kluges Kind, dachte ich. Wenn man jung ist, ist die Erinnerung etwas von Wertvollsten, was man hat. Sucht man Halt, steigt man in die Kammer der Erinnerunngen, zieht ein paar Stücke hervor, sieht sie schillern, drückt sie in seinen Händen und steigt gestärkt und seiner selbst gewiss wieder in den Alltag. So war das jedenfalls bei mir. Klar, es gibt düstere Ecken in dieser Truhe – aber man übersieht sie so leicht!
Seit ich fünfzig bin, ist es anders. Man hat ja mittlerweile so viel von diesem Zeugs! Es scheint in einem riesigen Estrich zu liegen, der einmal entrümpelt gehört. Wenn ich dann da hochsteige, sehe ich zuerst einmal eine mächtige Unordnung. Dann finde ich durchaus noch zum Weinen schöne Stücke – vergangene Freundschaften, vergangene Reisen, bestandene und nicht bestandene Bewährungsproben, veröffentlichte und nie veröffentlichte Texte. Vergangen, alles vergangen. Ich kann dort oben nicht zu lange verweilen, sonst verliere ich mich.
Ich glaube, ich muss mir ab und zu in Erinnerung rufen, dass es auch jetzt noch Momente gibt, an die zu denken sich einmal lohnen wird. Meine Nichte im roten Kleid zum Beispiel.