Bedrohtes Paradies

Im Mietshaus im Vordergrund wohnen wir. Es ist unser kleines Paradies. Wie lange noch, wissen wir im Moment nicht.

Im Herbst vor zwei Jahren sah unsere Nachbarin Katharina in den Gärten hinter unserem Haus einen Mann mit Plänen in der Hand. Sie fragte ihn: „Was machen Sie hier?“ Er breitete die Arme aus, wies auf Häuser und Gärten und sagte: „Das kommt alles weg! Das kommt alles weg.“ Wir schlossen daraus: Die Häuser hier sollen abgerissen werden.

Na gut. Sie sind fast neunzig Jahre alt. Sie haben ihren Lebenszyklus wohl bald abgeschlossen, wie es in der Immobilienmakler-Sprache heisst. Das klingt so, als wäre ein Haus ein Lebewesen, das den Gesetzen der Natur unterworfen ist. Es verschweigt, dass es Menschen in Immobilienfirmen sind, die über die Lebensdauer von Häusern entscheiden.

Gut, unsere Häuser ächzen vor Alter. Die Treppenhäuser sehen sowjetisch aus. Die Wohnungen in den unteren Stockwerken sind gemacht für Kleinfamilien der dreissiger Jahre. Hier wohnen heute meist Singles, vor allem Frauen. Sie bleiben selten lange. Sobald sie einen Mann gefunden haben, ziehen sie mit ihm in etwas Grösseres. In einigen Wohnungen gibt hier auch Probleme mit Schimmel.

Gut, wir sind privilegiert: Wir wohnen im obersten Stockwerk in einer 1993 geschmackvoll eingebauten Dachwohnung. Vielleicht sollten wir Verständnis dafür haben, dass die Besitzer hier etwas Neues hinstellen wollen.

Aber hey, das hier ist Frogg Hall. Mein kleines Paradies. Es ist das Haus, in dem ich mit Herrn T. die bisher beste Zeit meines Lebens verbracht habe. 16 Jahre lang.

Als unsere Nachbarin den Mann mit den Plänen gesehen hatte, bekam ich Panik. Ich rief unsere Hausverwalterin an. Sie redete und redete. „Ach, bis Ihr Haus abgerissen wird, dauert das mindestens noch zehn Jahre“, beteuerte sie. Auf dem Internet fanden wir Pläne eines Architekturbüros für neue Häuser an unserer Strasse.

Vor einem halben Jahr wurde unsere Verwalterin pensioniert und von einer Grossverwaltung abgelöst.

Ich rief den neuen Verwalter an. Der sagte: „Ich sage Ihnen nichts über unsere Baupläne. Aber ich verspreche, dass Sie alle rechtzeitig informiert werden.“ Ich verkniff mir die Frage, was „rechtzeitig“ genau heisse.

Dann steckten Männer mit grünen Leuchtwesten Stöcke ins Kies auf dem Vorplatz. Sie sprayten rosarote Zahlen auf den Boden. Das war der Zeitpunkt, an dem ich unseren Estrich zu entrümpeln begann.

Vor zwei Wochen bekamen wir einen Brief von der Verwaltung. Darin steht, dass sie die Katze am nächsten Samstag aus dem Sack lassen. 2. September. Dann werden wir wissen, wann wir hier ausziehen müssen.

Seither entrümple ich wie eine Besessene meine Wohnung.

14 Gedanken zu „Bedrohtes Paradies“

  1. 90 Jahre – das ist doch kein Alter für ein Haus!
    Bei uns wurde gerade ein altes Schulgebäude saniert und der wesentlich neuere Schulbau daneben wurde abgerissen – weil die Energiebilanz des alten Gebäudes erheblich besser war als die des neueren.
    Insofern: Abwarten – alles ist möglich. Aber über Ihre Aufräumaktion werden Sie sich in jedem Fall freuen können, meine ich. Sowas tut einfach gut.

  2. ach scheiße, ich versteh die traurigkeit gut. die wohnung ist einfach wunderbar und liebenswert.
    und wohnungen und häuser sind halt ein bisschen wie unsere zweite haut. und auch, wenn wir manchmal aus der haut fahren möchten, wärmt sie und gibt uns sicherheit.

  3. REPLY:
    … Optimismus, liebes iGing. Ich kann ihn gebrauchen. Ja, ein entrümpelter Estrich ist etwas Schönes, da pflichte ich Dir bei. Leider ist in meinem Gesundheitszustand schon die nervliche Belastung durch die Unwissenheit eine gewisse Bedrohung.

  4. REPLY:
    Schön, dass Du angenehme Erinnerungen an Frogg Hall hast. Ja, sie geht mir nahe, diese Furcht vor dem, was bald mit meiner zweiten Haut passieren wird. Aber vielleicht wird alles besser, wenn die Ungewissheit vorbei ist. Mal abwarten! Schicke herzliche Grüsse nach Wien, wo ich mich auch schon auch sehr zu Hause gefühlt habe.

  5. REPLY:
    liebe Susanne. Sie haben gesagt, dass die Häuser tatsächlich abgerissen werden, frühestens im Sommer 2019. Sie werden aber versuchen, den Leuten, die im Quartier bleiben wollen, zu helfen und auch dafür zu sorgen, dass sie eine neue Wohnung bekommen. Ich war sehr erleichtert, als ich das gehört habe – obwohl ich nicht weiss, wo wir in zwei Jahren wohnen werden.

  6. Die Geschichte klingt wie eine Horrormeldung für mich. (Ich lese momentan nur sporadisch und schreibe fast gar nichts. Zuerst 6 Wochen im Spital und jetzt einmal 6 wochen zuhause mit stark eingeschränkter Beweglichkeit. Das wesentliche kann ich zuhause machen, ich kann sogar Klavier üben, wenn auch nur maximal 30 Minuten im Stück. Das bedeutet eine Stunde pro Tag.)
    Wenn ich an die Notwendigkeit einer mögichen Übersiedelung denke, dann erfasst mich Entsetzen. (Egal ob es mich oder andere betrifft.)

    Ja, früher war das anders. Da waren Wohnwechsel zwar nicht häufig. Doch seit ich verheiratet bin, haben wir dreimal Wohnung bzw. Haus gewechselt. Der letzte Wechsel war schon schlimm genug, was die Bücher und das ganze Porzellan und Glaszeugs betraf. Erst ein Jahr nach der Übersiedelung habe ich die Kartons mit den Büchern, die wir in einem extra gekauften Gartenhaus gelagert hatten, begonnen auszupacken.
    Und jetzt kann ich mir das überhaupt nicht vorstellen. 4500 Bücher bedeutet, 4500 Bücher in die Hand zu nehmen und zu entscheiden, ob sie nicht doch entbehrlich sind. Nein, sie sind es nicht, auch wenn ich einige davon nie mehr wiederlesen werde. Doch manchmal suche ich eine Information oder ein Zitat und weiß, wo es ungefähr stehen soll. Aber bei den technischen Dingen sind das Bücher, die vor dem web (nicht mit Internet zu verwechseln) geschrieben wurden und daher keine Suchmöglichkeiten bieten.
    Und bei der Literatur und Belletristik gibt es einen Graubereich. Noch nicht klassisch und berühmt genug und andererseits vor 1980 geschrieben.
    Tja, manchmal habe ich überlegt, ob ich nicht das Haus verkaufen soll. Es ist für zwei Personen viel zu groß, auch wenn wir jetzt für einen Teil sehr nette Mieter gefunden haben.
    Aber finanziell wäre es ein Verlustgeschäft und meine Frau hängt auch an dem Haus. Ich auch. Wo sonst könnte ich einen Konzertflügel unterbringen, auf dem ich auch mitten in der Nacht spielen kann.
    Also wenn ich mir eine Situation wie die eurige vorstelle, schaudert es mich.
    Es gibt nur einen Trost. Manchmal enden unangenehmste Dinge in einer Situation, die viel besser erscheint als die ursprüngliche. Das hoffe ich für euch.
    Das ist die Haltung, die ich auch für mich selbst einnehme. Zwar weiß ich noch nicht, wofür meine Verletzung, die für mindestens ein halbes Jahr wenn nicht länger Beeinträchtigung und Schmerzen bedeutet, gut ist. Aber ich bin überzeugt davon, dass ich es in drei bis fünf Jahren herausfinden werde. (Bis jetzt war das bei allen unagenehmen Dingen so bei mir.)
    Also wünsche ich euch alles Gute bei der Bewältigung und auch das notwendige Glück, dass ihr in ein noch heimeligeres Domizil übersiedeln könnt.

  7. ja, man gewöhnt sich an eine wohnung und an einen ort mit den jahren und vergisst dabei, dass sich alles sehr schnell ändern kann. besonders für ältere mieter(innen) kann es fast einem todesurteil gleichkommen, wenn sie aus ihrer wohnung vertrieben werden…
    wenn man zur miete wohnt, muss man (leider) immer auf einen wohnungswechsel gefasst sein. ich versuche darum, dass sich in der wohnung möglichst wenig ansammelt und ich mich nicht zu sehr mit dem von mir gestalteten wohnraum identifiziere – aber das ist leichter gesagt als getan.

    ich wünsche euch für das, was auf euch zukommt, alles gute!

  8. Liebe Frau Frogg,

    das tut mir leid. Möge dieser erzwungene Wohnungswechsel euch an einen Ort führen, an dem ihr euch mindestens ebenso wohl fühlt.

    Einen lieben Gruß
    Susanne

  9. REPLY:
    Herr Steppenhund, für die guten Wünsche! Es tröstet mich fast ein wenig, dass ein Wohnungswechsel noch für andere Leute fast undenkbar ist. Bei mir wird dieser Punkt sehr bald kommen, wo ich meine Bücher in die Hand nehme und zu entscheiden versuche, ob sie entbehrlich sind – ich fange jetzt schon mit Entrümpeln an, damit ich in zwei Jahren, oder wann immer es dann ist, weniger Stress habe. Aber schon das Entrümpeln stresst mich ungemein. Schlimmer wird die Wohnungssuche. Es sind zwar viele Wohnungen ausgeschrieben, aber ich habe den Verdacht, dass es nicht ganz einfach wird.

    Ich habe ja auf Facebook mitbekommen, dass Sie gerade einen gröberen Stress durchgemacht haben. Ich wünsche Ihnen, dass Sie zu Hause die Ruhe und die Beschäftigung finden, die eine Genesung schneller und leichter macht.

  10. REPLY:
    Herr BoMa! Merkwürdigerweise war ich als junges Ding so: Ich zog oft um, und ich besass wenig, an dem mein Herz hing. Und dann zog ich hierher, unsere kleine Traumwohnung, und an die habe ich mein Herz gehängt.

    Wir können die guten Wünsche gebrauchen, Herr T. und ich.

  11. REPLY:
    es ist ein komisches ungutes gefühl, wenn man solch einen umzug vor augen hat. man weiß nicht, was kommt – wo man landet, und ob man sich dort wohlfühlen wird. sowieso die ganze arbeit, die eine solche unternehmung macht.
    auf der anderen seite kann man es als abenteuer empfinden, wo man noch mal neu anfangen kann… aus meiner erfahrung kann das sehr spannend sein, wenn man nicht so sehr druck hat – man kann die chance nutzen, um etwas neues auszuprobieren und einen teil des alten krempels loszuwerden. sowieso lädt jede neue umgebung anfangs zu entdeckungstouren ein.

  12. NEIN! Das tut mir sehr leid für Euch!

    Ich bin in meinem Leben bis jetzt genau zweimal umgezogen – ich bin an meiner Wohnung irgendwie deutlich mehr als an meinem damals Noch-Ehemann gehängt, ich verstehe, wie furchtbar das für dich sein muss!

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