Würfelzucker

Am Dienstag wollte ich in unserem Quartier-Coop eine Packung Würfelzucker kaufen. Ich stand vor dem Gestell mit dem Zucker und liess meine Augen über das Angebot schweifen. Es ist unglaublich, wie viele zuckerartige Produkte es auch in einem kleinen Coop gibt: Kristallzucker und Feinkristallzucker, Rohrzucker und Rohrzucker in Würfeln, Assugrin, Xylit sowie Stevia-Pulver und Stevia in kleinen Tabletten. Dazu Agavensirup, Ahornsirup, Melasse und Birnel. Und Feinkristallzucker in kleinen Portionenbeuteln aus Papier. Aber den wollte ich nicht, wegen der Papierverschwendung. Hundsgewöhnlichen Würfelzucker jedoch gab es keinen. Ich fragte die junge Frau, die in der Nähe ein Gestell auffüllte. „Ja, tut mir leid“, sagte sie, „Wir bekommen im Moment tatsächlich keinen geliefert. Ich weiss nicht, woran das liegt.“

Ich war befremdet. Ich meine: Zum kultivierten Alltag gehört eine Tasse Kaffee am Morgen mit einem Stück Würfelzucker. Und dazu die Zeitung.

Nun sind wir Ü50 uns gewöhnt, dass uns das Leben lieb Gewonnenes wegnimmt – ganze Warenhausketten schliessen, die CD braucht es nicht mehr, die DVD auch nicht, die Gesundheit lässt nach, Bloghosts machen dicht, neue Datenschutzregeln erschweren den Kontakt zu alten Bloggerkollegen plötzlich enorm. Auch das Ende der geliebten Zeitungslektüre am Morgen rückt von Jahr zu Jahr näher. Aber Würfelzucker? Ich hätte es als selbstverständlich erachtet, dass der Print-Journalismus vor dem Würfelzucker verschwindet.

Nachdenklich trug ich meine anderen Einkäufe nach Hause. Ist Würfelzucker unmodisch geworden, fragte ich mich. Aber ich lese doch viel. Ich hätte es doch mitbekommen, wenn der urbane Lifestyle plötzlich verlangen würde, dass man am Morgen Agavensirup in den Espresso giesst.

Ich grübelte vom Dienstagabend bis zum Donnerstagmorgen. Im Büro googelte ich sogar kurz „Würfelzucker“. Am Donnerstagabend beschloss ich, mal in der kleinen Quartier-Migros neben unserem Quartier-Coop nach Würfelzucker zu suchen.

Dort gab es ihn in Hülle und Fülle.

Was wir nicht erklären können

Als 2009 mein zweites Ohr schlagartig einen schweren Gehörnachlass durchmachte, ging ich zuerst ins Spital. Als man mir dort nicht helfen konnte, flüchtete ich für ein paar Tage zu meinen Eltern. Ich hielt es bei meinem Mann nicht mehr aus. Er hatte nicht begriffen, woher der Wind weht. Er weigerte sich, mich ins Krankenhaus zu begleiten, als sie mir Cortisonspritzen ins rechte Ohr zu jagen begannen. „Wieso sollte ich?“ sagte er. „Du kannst ja noch gehen, da schaffst Du das auch allein.“ Er ahnte nicht, wie verstört ich war. Auf dem Weg ins Spital wäre ich beinahe unter ein Auto gekommen. Danach war ich sauer auf ihn. Deshalb ging ich zu meinen Eltern, die damals rüstige Endsechziger waren. Sie nahmen mich freundlich auf, tranken Tee mit mir, und wir plauderten tagelang über Gott und die Welt. Allmählich ging es mir besser, und doch blieben auch sie mir in jener Zeit merkwürdig fremd. Ich ihnen auch. „Du verstehst ja alles, wenn wir mit dir reden“, sagten sie. Sie wollten mir nicht recht glauben, dass ich wirklich schwerhörig geworden war.

Ich versuchte es ihnen zu erklären. Ich hatte ja links schon ein Hörgerät, und wir sprachen meist in deiner stillen Stube. Natürlich verstand ich sie. Ich musste mich bloss mehr anstrengen als früher. Sie sagten nichts, aber ich ahnte: Sie hatten das Gefühl, ich sei verrückt geworden oder vielleicht eine Simulantin. Sie taten trotzdem, was gute Eltern tun: Sie behandelten mich anständig und unterstellten mir nichts. Aber sie waren mit dem Herzen nicht ganz dabei, ich merkte es.

Ich glaube, das Wesen einer Behinderung ist mit Worten meist nur schwer kommunizierbar. Ganz gleich, ob wir blind oder schwerhörig oder im Rollstuhl sind – in unserem Körper und unserer Seele werden sich immer Dinge abspielen, die ein Nicht-Behinderter nicht wirklich nachvollziehen kann. Deshalb sind uns jene Nicht-Behinderten am liebsten, die einfach zuhören und uns ernst nehmen. Die sich nicht von Vorurteilen leiten lassen oder genau zu wissen meinen, was wir brauchen.

Wenn sie sich nicht von Vorurteilen leiten lassen, lernen sie im besten Fall selber etwas dazu – so war es mit meinem Mann, der mir in den letzten Jahren eine echte Stütze geworden ist.

Seither habe ich mein Gehör ein paarmal verloren und wiederbekommen und wieder verloren. Vor ein paar Jahren hörte meine Mutter dann plötzlich schlechter – es stellte sich heraus, dass auch sie eine Meniere-Patientin war, auch wenn es sie später und weit weniger heftig erwischte als mich.

Wenig später sagte sie zu mir: „Seit ich auf dem einen Ohr so schlecht höre und dieses Tinnitus habe, weiss ich was du damals durchgemacht hast. Das ist ja schrecklich.“ Das hat mich so berührt, dass ich beinahe zu weinen begonnen hätte.