Adieu Vereinigtes Königreich

Ich habe das Vereinigte Königreich von England, Wales, Schottland und Nordirland ungefähr 50 Jahre lang geliebt. Eigentlich seit ich denken kann. Ich habe sogar englische Literatur studiert. Meine Anglophilie schien unerschütterlich. Aber jetzt muss ich sagen: Was sich dort im Moment abspielt ist derart befremdlich, beängstigend und empörend, dass ich mir zum ersten Mal gründlich überlegen muss, wie ich zu diesem Land stehe. Hier wird das Vorgehen von Premierminister Boris Johnson, was mich so aufregt, eloquent von Experten aus ganz Europa diskutiert.

Zuerst einmal ist es Zeit, danke zu sagen für alles, womit das Vereinigte Königreich mein Leben bereichert hat (was da wäre, in ungefähr chronologischer Reihenfolge):

Ein kleiner, doppelstöckiger, roter Spielzeugbus, ein Geschenk aus London an die dreijährige Frau Frogg von ihrem Vater; das erste Royal Wedding, jenes von Prinzessin Anne 1973, damals war ich acht; in meinen Teenager-Jahren die Beatles; die Rolling Stones; Led Zeppelin; Deep Purple; The Cure; Siouxsie and The Banshees; The Clash; The Police; Oscar Wilde; meine ersten Inter Rail-Ferien, die Reihenhäuschen von Dover im Regen, dreieckige Sandwiches; Schottland; mit 20 meine erste Arbeitsstelle in einem anthroposophischen Kinderheim zwischen den Hügeln von Sussex; Kinder, die seltsame, köstliche Dialekte sprachen; „fockin’ew“, der Kraftausdruck für den Rest meines Lebens, von den Teenagern dort gelernt; die Brombeeren an den Hecken von Sussex; London; die Kew Gardens; Oxford Street; Camden; Brixton; Battersea Power Station; The Barbican; Brick Lane; Cheddar-Käse; Scones with Clotted Cream; Bluebells; Estuary English; Peter, der mir erste Lektionen über das britische Klassensystem gab und mich lehrte, was ein „dodgy geezer“ ist; Julian, eine grosse Jugendliebe; seine Mutter Hilda in einem königsblauen Kleid; Barbara aus Stamford Hill und ihre jüdische Mutter; meine zweite Politisierung – gegen Thatcher und Reagan; Doris Lessing; an der Uni dann „Hamlet“ und „König Lear“ von Shakespeare; Jane Austen; ein vertieftes Verständnis für eine zweite Sprache, Kultur und Politik; dass ich gewisse Dinge auf Englisch besser sagen kann als auf Deutsch; die Erkenntnis, dass Britannien auch hässliche Seiten gehabt hat, einmal „the Brutish Empire“ gewesen ist, eine riesige, skrupellose Kolonialmacht; Virginia Woolf; Martin Millar; Ken Loach; die Strassen von Nordwales und Snooker in Aberdaron; Newcastle-upon-Tyne und Lindisfarne von Ferne; And All Because the Lady Loves; Stephen Frears; Mike Leigh; Anthony Hopkins; Emma Thompson; Kenneth Branagh; Fay Weldon; Christopher Marlowe; Alfred Hitchcock; Zadie Smith; „Wallace and Gromit“ in meinen dreissigern Tony Blair; der Channel Tunnel wenige Tage nach 9/11; Edinburgh; Oasis; Hugh Grant; „Four Weddings and a Funeral“; Dom und Beryl-Anne aus Peterborough; Harry Potter; Helena Bonhan Carter; John LeCarré; Richard Ashcroft; Wanderferien in Somerset; The Prodigy; auf meine alten Tage „Downton Abbey“, die Erkenntnnis, dass dem Leben mit Humor einfach am besten beizukommen ist; Wandern im Lake District; Liverpool; Nicki und Sarah aus Newcastle; Hilary Mantel; Jeanette Winterson; kann man Janet Frame zählen?; Rupert Friend; Tom Hiddleston; Tilda Swinton; John Bercow; den „Guardian“, den ich aus Besorgnis abonniert habe; und zuletzt, zu nachdenklicher letzt, „The Crown“ neulich auf Netflix, das sich jetzt ansieht wie ein fast wortloser Abgesang auf die gute, alte Zeit, als die greise Monarchin das Reich zusammenhielt.

A propos Queen: 2004 schrieb ich für eine Schweizer Zeitung über den Staatsbesuch von Königin Elizabeth II anno 1980. Damals sagte ein alter Mann, ein pensionierter Regierungsrat, zu mir: „Wir mussten nett zu ihr sein. Die Engländer hatten uns im Zweiten Weltkrieg vor Hitler gerettet.“ Vielleicht erklärt das einen Teil der Sympathie, die wir hierzulande für die Briten haben.

Und jetzt? Frankophil werden ist in meinem Alter keine Option mehr, irgendwie.

Es bleiben die Freunde. Peter ist tot – er hätte sich über das alles furchtbar aufgeregt. Julian lebt in Deutschland und will Deutscher werden. Von Nicki und Sarah habe ich eine Weile nichts mehr gehört. Sie werden sich furchtbar aufregen. Dom beantwortet meine besorgten Briefe nach Peterborough mit soldatischem „good cheer“.