Kurz vor dem Bahnhof komme ich fast jeden Morgen an einem Bildnis von Johannes Gutenberg vorbei, dem Erfinder des Buchdrucks. Wie ein bürgerliches Heiligenbild steht er da. Jedesmal blinzle ich ihm kurz zu und bitte um seinen Schutz.
Was habe ich über unseren mehr oder weniger erzwungenen Wohnungswechsel geklagt! Furchtbar! Dabei war der Umzug gar nicht so schlimm. Rückblickend glaube ich sogar, dass es gut war, umzuziehen. Es hat mich stärker gemacht. Und an unserem allerersten Tag hier passierte etwas ganz und gar Unerwartetes, etwas Wunderbares: Ich verliebte mich in meinen neuen Stadtteil. An jenem Tag ging ich durch die Strassen unseres neues Quartiers, die ich alle seit 50 Jahren kenne, leicht irr vor Schlaflosigkeit und Stress. Die Mauern glühten fast, so heiss war es. Auf einem Balkon mit schmiedeeisernem Geländer sah ich einen Mann in Malerhosen stehen. Er hatte die Augen geschlossen und streckte sein Gesicht der Nachmittagssonne entgegen. Ein Moment hochsommerlicher Trägheit mitten im hektischen Treiben. Ich war entzückt, ein Ruck ging durch mich und ich sah plötzlich die ganze Stadt anders. Jeden Tag wandere ich seither durch die Strassen und entdecke alles neu. Die kleinen Bars, die mondänen Boutiquen, die Hinterhöfe. Die alten Häuser mit den selbstbewussten Sandsteinverzierungen an den Fassaden. Die Menschen in den Strassen, Shopper, Parkiererinnen, Penner, unzählige Velofahrerinnen, Barhänger, Frauen und Männer mit Kinderwagen.
Der Stadtteil heisst Neustadt. Aber das ist irreführend, denn er hat seinen Namen noch im vorletzten Jahrhundert bekommen. Hier sind viele Häuser aus der Gründerzeit, die Strassen sind schachbrettartig angelegt, von hier zur Bushhaltestelle am Bahnhof kann ich mindestens ein Dutzend Wegvarianten einschlagen. Zum Bahnhof gehe ich jeden Tag und nehme von dort den Bus zur Arbeit. Jeden Tag entdecke ich etwas Neues.
Aber ich habe einen Lieblingsweg. Er führt durch den kleinen Park neben unserem Haus, wo der Sturm am 6. Juli eine Linde geknickt hat. Damals war hier noch eine Baustelle. Seither ist hier ein neuer Spielplatz entstanden, und ein Restaurant, wo schon die ersten Gäste sitzen. Vorne an der Ecke passiere ich das Café Alfred. Ich muss an Jude Law denken, der einmal „Alfie“ gespielt hat, ein dandyhaftes New Yorker Jüngelchen, das jede Menge Frauen aufs Kreuz legte. Das Café Alfred hat tolle Kritiken auf Tripadvisor, es ist trendy, und irgendwann werde auch ich dort einen Caffelatte trinken. Oder vielleicht einen Cappuccino. Oder einen Lattemacchiato. Mal sehen.
Ich ziehe vorbei am Geschirrladen Casacade. Dort habe ich meine ersten Trinkgläser gekauft – die gleichen wie mein bester Freund Andreaszwei. Das war gleich nach meiner WG-Zeit, als ich das erste Mal Geld verdiente. Goldene Zeiten. Ich überquere die Hauptstrasse und ziehe vorbei an der Parterrewohnung mit den Rosen aus Kunststoff auf dem Fensterbrett. Sie sehen immer frisch aus und so echt. Weisse Vorhänge verschleiern die Wohnung dahinter. Wer wohl hier wohnt? Gleich nebenan ist der syrische Barbier, der Ba’trasuren anbietet. Jedesmal, wenn ich das sehe, erschrecke ich, denke an den Baschar al-Assads Baath-Partei und merke erst dann, dass nur ein „r“ auf dem Schild fehlt.
Um die Ecke vis à vis liegt ein Büro der Versicherung, die mir einmal sehr geholfen hat. Dort überquere ich wieder die Strasse, biege dann in die erste Seitenstrasse ein, wo ein Bestattungsunternehmen diskret seine Dienste anbietet. Auch für die Toten ist gesorgt hier im Quartier. Vorne an der Ecke dann ein Ort der Nostalgie. Links das Restaurant La Perla. Hier habe ich zum allerersten Mal ohne erwachsene Begleitpersonen auswärts gegessen. 15 war ich. Oder 16? Damals war jeder Tag die Welt. Und jetzt weiss ich es nicht mehr so genau. Schräg gegenüber das Memories of Asia, ein Thai. Ich erinnere mich an ein amüsantes Mittagessen mit einem Marketing-Fachmann hier, geborener Gentleman. Lange her.
Weiter vorne dann die Ecke, wo das Evchen früher gewohnt hat. Das Baby, dessen Mama meine Freundin war. Sie sind weggezogen, die beiden. Ich habe beide eine Weile nicht gesehen. Aber was wir zusammen erlebt haben, bleibt.
Ich peile nun zielbewusst das Vögeligärtli , einen weiteren Park. Ein kleiner Park so voller Geschichten, dass ich gar nicht erst zu erzählen anfange.
Wenn ich ihn durchquert habe, sehe ich an der gegenüberliegenden Hauswand, weit oben, ein Relief. Es stellt Johannes Gutenberg dar, den Erfinder des Buchdruckes. Ich zwinkere ihm kurz zu. Gleich werde ich um die Ecke entschwinden und den nächsten Bus zur Arbeit am Stadtrand nehmen – in einem Betrieb, der Print-Produkte herstellt. Ich kann ihn als Komplizen brauchen.