Wofür ich dankbar bin

Blumenstrauss_2020
Zu Weihnachten verschenkt Herr T. jeweils opulente Blumensträusse. Er ist ein krisentauglicher Ehemann, so viel weiss ich heute.

2020 war ein Krisenjahr, das heisst Stress, Angst, für viele Krankheit oder Tod. Aber es hat uns auch gezeigt, was in unserem Leben funktioniert und wo wir uns einen Ruck geben müssen.

1) Herr T. und ich sind zur Stunde symptomfrei. Aus unserer näheren Verwandtschaft hatte einzig meine Nichte Marie-Christiane Covid-19. Sie ist 19-jährig und ansonsten kerngesund. Ganz harmlos sei das Virus nicht, meldet sie. Noch heute, sechs Wochen nach Ende der Isolation, habe sie manchmal Müdigkeits-Attacken. „Dann muss ich mich ein halbes Stündchen hinlegen.“ Aber sie ist klug und herzlich wie früher.

2) Meine Ehe hat gehalten. Kurz vor dem ersten Lockdown sagte mein Mann zu mir: „Wenn Du jetzt immer zu Hause bist, werde ich wahnsinnig.“ Das war nur halb ironisch gemeint. Er neigt zu einem gewissen Schlendrian, ich folglich zum Herumkeifen. Ich merkte: Wenn so ein Lockdown funktionieren soll, muss ich mich zusammennehmen. Ich konnte das, nicht immer, aber häufiger. Trotz brandschwarzem Stress im Homeoffice erlebten wir auch goldene Stunden zu zweit. Und er kochte ganz wunderbar.

3) Ich habe meinen Job noch. Im ersten Lockdown waren wir auf Kurzarbeit. Eine unserer Haupteinnahmequellen meines Geschäfts sind Inserate, und die versiegte während des Lockdowns einfach. Es fanden ja keinerlei Veranstaltungen mehr statt, und niemand mehr wollte für irgendetwas Werbung machen. Die Zeichen standen auf Weltuntergang. Aber das Weihnachtsgeschäft mit den bunten Inseraten für verbilligte Schinkli und Sekt lief dann leidlich. Im Moment haben wir im Geschäft eine andere Art von Weltuntergang: täglich drei, manchmal dreieinhalb Seiten Todesanzeigen (in normalen Zeiten sind es zwei, höchstens drei). Nein, dafür bin ich nicht dankbar. Täglich halte ich inne und studiere sie bedrückt.

4) Während dieser Monate haben wir alle herausgefunden, welche Menschen für uns wirklich zählen. Es sind dies für mich vor allem auch langjährige Freundinnen und Freunde: Andreaszwei, Helga, Kaja, Paulina, Herr Hooligan. Gemeinsam haben wir Corona gelernt, die Lage erörtert, einander Links geschickt. Wir sind in Kontakt geblieben, haben gelernt, weniger nachtragend zu sein. Wir haben herausgefunden, wie man auch im Lockdown risikoarme Spaziergänge macht. Meine besten Freundinnen und Freunde und ich, wir sind fast alle Risikopatienten. Mit Isolation umzugehen, haben wir schon vor Corona gelernt. Ich selbst habe Corona sogar ohne Telefon gekonnt. Dabei geholfen haben zahlreiche Messenger-Dienste: Whatsapp, Twitter, Wire, SMS, E-Mail und die gute alte Post.

5) Ich bin froh darum, auch ohne ständige Cüpli-Partys, Sport-Events und Singabende gut leben zu können. Herr T. kann das auch, und auch mein Freund Andreaszwei. Wir sind alle etwas introvertiert. „Das ist jetzt ein evolutionärer Vorteil“, scherze ich jeweils. Ich gestehe, Andreaszwei kann das noch besser als Herr T. und ich. Wir sind auch schon Risiken eingegangen und habe Freunde besucht, sehenden Auges. Von daher gilt immer: Zur Stunde symptomfrei und dankbar.

Doch nichts ist für die Ewigkeit gemacht. Die neue Virus-Variante ist auch in der Schweiz. Als ich das im Newsportal las, war mir, als hörte ich, wie die Titanic den Eisberg schrammt. Wer weiss, wie 2021 wird. Meine Gedanken sind bei jenen Menschen, die Angehörige an das Virus verloren haben. Sie sind bei jenen, die ihre Arbeit oder ihr Geschäft verloren haben. Möge 2021 ein gutes Jahr werden, oder wenigstens ein Jahr der Hoffnung. Auch für Euch alle, meine Leserinnen und Leser!

Fünf Bücher für das Jahr 2020

Sorgfältig liste ich in meiner Agenda jedes Buch auf, das ich gelesen habe. Wenn ich alte Agenden durchblättere, staune ich manchmal darüber, wie viel ich vergessen habe. Aber 2020 ragen aus den rund 40 gelesenen Titeln fünf heraus, die meine Gedanken zum Teil auch nach einem halben Jahr noch fast täglich beschäftigen. Die fünf besten Bücher meines Lesejahres 2020.

Wenn ich lese, ist es, als würde ich ein fremdes Haus betreten und für kurze Zeit dort wohnen. Oft zur wohltuenden, kleinen Flucht aus meinem eigenen Zimmer. Manchmal aber suche ich in diesen fremden Wohnungen Antworten für mein eigenes Leben. 2020 war und ist ein Jahr wie gruseliger Science Fiction. Vielleicht deshalb spielten Dystopien in diesem Jahr für mich eine besondere Rolle. Es war, als hätte ich schreckliche Orte aufgesucht, um dort geistig für das Schlimmstmögliche zu trainieren. Aber zuvorderst auf meiner Liste steht ein Klassiker der Philosophie:

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Sören Kierkegaard: „Entweder – oder“. Warnung: Dieses Buch hat 900 Seiten. Es zu lesen ist eine Geduldsprobe. Doch mir gab und gibt es Antworten – keine endgültigen zwar. Aber solche, von denen aus ich weiterdenken kann. Es ist an sich ein Buch für junge Leute. Doch eignet es sich auch für 55-Jährige, die über ihre Lebensbilanz nachdenken und sich fragen, was noch kommt. Für die eilige Leserin drängen sich einzelne Kapitel auf, die man gut auch separat lesen kann. Pflichtlektüre für 17-jährige Frauen sollte das „Tagebuch des Verführers“ sein, ein 70-seitiges, atemberaubend spannendes Kapitel aus der Mitte des Buches. Es ist die grausamste Liebesgeschichte, die ich je gelesen habe. Der Erzähler verachtet Frauen. Aber er gefällt sich in der Rolle des Don Juan, der sich ein wohlbehütetes Mädchen ins Bett manipulieren will. Die Geschichte heilt uns Frauen auf die harte Tour von der Illusion, dass alle Männer, in die wir uns verlieben, im Grunde unser Bestes wollen. Antworten für das Krisenjahr 2020 hält das Kapitel „Ultimatum“ am Schluss des Buches bereit.

Daniel Defoe: „Die Pest zu London“ („A Journal of the Plague Year“). Während des Shutdowns im Frühling zog ich meine vergilbte Penguin-Ausgabe aus dem Gestell. Sie wurde zu meinem Vademecum für die Corona-Pandemie. Im April fand ich die Parallelen zwischen damals und heute sinnfällig: die leeren Strassen, die Obsession der Stadtbewohner mit Fallzahlen. In letzter Zeit denke ich oft an jene Sätze, die Defoe sinngemäss mehrmals wiederholt. „Niemand arbeitete mehr, es war unmöglich. Dennoch brach kein Massenelend aus, weil die Reichen und auch der Stadtrat von London äusserst spendabel waren.“ Seit Oktober vergeht kein Tag, an dem ich sie nicht unserem rechtsnationalen Finanzminister Ueli Maurer zubrüllen möchte. Vielleicht müsste man Herrn Bundesrat Maurer noch sagen, dass die grosse Stadt London schliesslich wirtschaftlich gestärkt aus der Krise hervorging.

George Orwell: „1984“. Schriftsteller sind keine Propheten und keine Profis in politischer Kommunikation. Sie sind Geschichtenerzähler. Sie bauen ihre Häuser aus den Dingen, die gerade herumliegen – und jede Lesegeneration kann sie auf neue Art bewohnen, wenn sie es denn will. Im echten Jahr 1984 sah Orwells 1948 veröffentlichte Dystopie wie ein verfallener Bunker aus vergangenen Kriegen aus. Der Stalinismus, von dem der Autor sich hatte inspirieren lassen, war im Westen nie aktuell geworden. Einen gefährlichen Überwachungsstaat gab es damals in der DDR – im Westen kannte man sowas nicht (glaubten wir jedenfalls – erst fünf Jahre später flogen die ziemlich dilettantischen „Staatsschutz“-Versuche in der Schweiz auf). Heute wandern wir im von George Orwell geschaffenen Bunker herum und sehen Bauteile, die jenen unserer eigenen Zeit verblüffend ähnlich sind. Wenn Protagonist Winston Smith etwa die „Doppelsprech“-Strategie seines Regimes analysiert, beginnen wir zu verstehen, warum Donald Trump so unverfroren lügt. Und wieder und wieder musste ich beim Lesen an das Wissen denken, das irgendwelche Computer irgendwo über mich speichern. Mir wurde klar: Wir müssen alles tun, damit dieses Wissen nie, wirklich niemals, in die Hände der falschen Politiker gerät. Oder ist es dafür schon zu spät?

Kai Strittmatter: „Die Neuerfindung der Diktatur“. Das hier ist kein Roman, sondern ein Sachbuch – es dreht sich um China unter Xi Jinping. Dort sind die Möglichkeiten der totalen Überwachung bereits in falsche Hände geraten. Und das ist nicht nur gefährlich für die Chinesen, sondern für uns alle. Schrecklich, zuweilen aber auch geradezu amüsant sind die ersten Kapitel. Darin erklärt Strittmatter, wie die Zensur der sozialen Medien in China funktioniert. Wie die Zensoren den Gebrauch von Wörtern verbieten – und wie kritische User die Zensur mit Synonymen zu unterwandern versuchen. Die lassen sich nicht so leicht unterkriegen, die Chinesen, denkt man. Aber Strittmatter zerstört auch diese Illusion: Die Mehrheit der Menschen im Reich der Mitte ist genauso unterhaltungsgeil wie wir im Westen – und die allermeisten sind gehorsam und kooperativ.

Margaret Atwood: „Die Zeuginnen“. Ebenfalls eine Dystopie, aber auch ein Buch der Hoffnung – und es liest sich wie ein Krimi. In diesem Buch sind Frauen rechtlose Kleiderständer in blauen, roten oder grauen Säcken im radikal christlichen Gottesstaat Gilead. Sie werden zwangsverheiratet, überwacht und bei Ungehorsam drakonisch bestraft. Das Buch ist die Fortsetzung von Atwood’s Roman „Der Report der Magd“, in dem eine Frau zu fliehen versucht. In „Die Zeuginnen“ erkennen drei Frauen 15 Jahre später, dass sie so nicht mehr leben wollen. Aber wird der Ausbruch gelingen? Das Buch ist nicht nur ein Beitrag zur #metoo-Debatte. Es erlaubt auch eine wohltuende, kleine Flucht aus dem eigenen Zimmer.

Alarmstufe orange im Zentralbüro

Bevor ich das Büro verliess, ging ich noch kurz bei Kaja vorbei. Diesmal erschrak sie nicht, aber sie nuschelte aufgeregt in ihre Maske. Ich verstand sie nicht. Bürogespräche sind für mich sehr bruchstückhaft geworden. Kaja wollte partout die Maske nicht abnehmen, obwohl ich längst zwei oder drei Schritte zurückgetreten war.

Schliesslich nahm sie einen roten Stift in die Hand und schrieb auf ein Stück Papier: „Löwenherz hat Corona.“ Löwenherz ist die Chefin der Abteilung Licht & Schatten im Zentralbüro. „Sie ist im Haus. Ich musste vorher bei ihr vorbei. Sie sagte, ich soll ihr auf keinen Fall näherkommen.“

„Hä???!!“ fragte ich. „Warum ist sie nicht in Quarantäne?“

Keine Ahnung, liess Kaja mich wissen, dann schrieb sie: „Der Chef sollte jetzt intervenieren. Warum tut und sagt der Chef nichts?“ Ich nickte. „Geht alles den Bach runter“, sagte eine von uns, nicht zum ersten Mal in den letzten Jahren.

Dann ging ich hinaus und streifte durch die dunkle Stadt. Mein Kopf war wie ein Bildschirm, auf dem unter einem mässig interessanten Spielfilm plötzlich ein rotweisses Spruchband mit panischen News durchzulaufen beginnt. Das Band war voll mit hektischen Fragen: Wann habe ich Löwenherz zum letzten Mal gesehen? Am Freitag, für zwei Sätze mit genügend Abstand. Ob sie es da schon hatte? Was, wenn sie schon das halbe Dutzend Kollegen im Zentralbüro angesteckt hat? Wie gut ist eigentlich die Lüftung in unseren Büros? Warum kommt Löwenherz überhaupt noch ins Büro? Habe ich mich angesteckt? Darf ich meinen Mann noch küssen? Verdammt, wir haben Risikopatienten in unserem Geschäft! Warum tut niemand etwas? Habe ich meine Eltern angesteckt gestern?

Willkommen in der Schweiz im November 2020. Slowdown statt Shutdown. Haha. „Der Bundesrat ist wie betäubt“, whatsappte Kaja am späteren Abend. Die Kantonsregierungen machen: nicht viel. Wir alle sind vorsichtig, aber nicht immer und nicht konsequent genug. Übers Wochenende fiel der R-Wert kurz unter 1, aber am Samstag gab es Massenandrang an den Skiliften in Zermatt. Jetzt steigt der R-Wert wieder. In den Spitälern sterben von der Öffentlichkeit so gut wie unbemerkt an die 100 Menschen im Tag.

Kaja und ich versprachen, einander auf dem Laufenden zu halten. Ich schrieb: „Ich warte bis morgen auf Infos vom Chef. Wenn nichts kommt, schreibe ich der Betriebsrätin. Ich werde mich hüten, dem direkten Vorgesetzten Fragen zu stellen, er wird mich eh nur anpflaumen.“

Später berichtete Kaja, Löwenherz habe ihr die Sache per E-Mail erklärt: Sie sei völlig symptomfrei. Den Test habe sie nur gemacht, weil sie nächste Woche ihre Verwandten in Finnland besuchen wolle. Als Kaja kam, war Löwenherz gerade über die Testresultate informiert worden.

Heute ist Löwenherz in Quarantäne, Kaja im Homeoffice und ich habe frei. Meine Nase läuft ein bisschen. Meinen Mann habe ich trotzdem geküsst, wenn auch nicht sehr innig. Um 11:02 das Whatsapp von meiner Mutter: „Corona ist näher gerückt.“ Meine Nichte Marie-Christine (18) sei positiv und in Isolation. Mein Bruder und meine Schwägerin: negativ. Bei der jüngeren Nichte Carina (15) wissen wir es noch nicht.

Ja, ich gestehe, ich habe mich fahrlässig verhalten

In der Schweiz haben wir mittlerweile 7700 Covid-19-Neuansteckungen im Tag. Die Intensivstationen sind bald voll. Unsere Regierung tut: nichts. Dabei brauchen wir einen zweiten Lockdown. Eigenverantwortung funktioniert einfach nicht, wie ich gleich zeige werde.

Am letzten Samstag waren wir bei Lydia und Xaver zum Essen eingeladen. Die beiden sind sehr alte Freunde von Herrn T.. Wir hatte sie lange nicht gesehen und das Treffen war von langer Hand geplant. Doch am Vorabend rief Lydia an und lud uns aus. Wegen Corona. Der Gesundheitsminister habe doch gesagt: „Reduzieren sie ihre sozialen Kontakte.“ Ich sass daneben und sagte laut: „Gut! Das erspart uns eine schwierige Entscheidung.“ Tagelang hatte ich darüber nachgedacht, wie riskant dieses Treffen wohl sei.

Am nächsten morgen klingelte wieder das Telefon. Diesmal war es Xaver. Er lud uns wieder ein. „Mir wöi doch itz nid uffhöre lääbe“*, sagte er in seinem liebenswürdigen Freiburger Dialekt. Ich sass da und verdrehte die Augen. „Hat er es denn nicht begriffen!?“ dachte ich. Solche Szenen spielen sich wahrscheinlich gerade täglich an Tausenden Schweizer Telefonen ab. Wir wissen einfach nicht mehr, wie wir uns verhalten sollen. Treffen von vier Personen sind erlaubt, ausdrücklich verboten erst solche ab zehn Personen. Aber zehn Personen – das scheint mir im Moment geradezu frivol viel. Was, wenn sich an einem solchen Treffen drei der zehn anstecken und auch nur einer in die Intensivstation muss?

„Ich brauche zehn Minuten Bedenkzeit“, liess ich mich verlauten. Aber schon da wusste ich: Ich hatte keine Chance. Herr T. wollte seine Freunde sehen, und er wollte mich dabeihaben. Covid-19? Verschwand hinter einer Logik der Freundschaft und der herzlichen Umgangsformen, die so alt und mächtig ist, dass sie wahrscheinlich im Stammhirn sitzt und vom Covid-Alarm im Neocortex noch gar nichts mitbekommen hat. Ich brauchte gar nicht zu diskutieren. Herr T. sagte zu, und bei uns hing der Haussegen ein bisschen schief. Ich bin sonst keine passiv-aggressive Ehefrau. In rund 50 Prozent aller Differenzen kann ich mich durchsetzen. Aber diesmal fehlte mir einfach die moralische Stärke.

Ich ging also mit hin. Viele werden jetzt denken: „Das muss aber ein sehr ungemütlicher Abend gewesen sein unter solchen Umständen.“ Das Gegenteil war der Fall. Es war total herzerwärmend. Auch das ist die Logik der Freundschaft und der guten Umgangsformen: Ist man erst mal da, beerdigt man das Kriegsbeil und trägt zum Gelingen des Abends bei. Der Junior von Lydia und Xaver kam zum Essen dazu, ein junger Mann, der lustige Sachen erzählte und einen Schnupfen hatte. Wenn er sich schneuzte, schauderte ich ein bisschen. Aber ich stand nicht auf, hielt keine Moralpredigt und stürmte nicht hinaus. Es war ein wunderbarer Abend, und das Wort „Coronavirus“ fiel genau zweimal.

Am nächsten Morgen hatte ich Halsschmerzen. Aber es waren wohl diese Halsschmerzen, die wir alle im Moment ständig haben. Wenn man keine Zeit hat, an sie zu denken, gehen sie weg. Sonst haben wir bis heute keine Symptome.

Warum ich diese Geschichte erzähle? Weil sie illustriert, wie unzulänglich die hierzulande so oft beschworene Eigenverantwortung ist. Herr T. und ich sind vergleichsweise behördengläubige Leute – und selbst wir geraten in Situationen, in denen es einfach mit uns durchbrennt. Man stelle sich Leute vor, die dieses ganze Corona-Gedöns sowieso nicht so ernst nehmen. Die gibt es hierzulande in beträchtlicher Zahl. Und sie können weiter überall feiern. Irgendwann erwischt es sie dann halt, und sie geben das Virus weiter. Wie lange dauert es noch, bis wir Regeln bekommen, die wir ernst nehmen müssen?

* „Wir wollen doch jetzt nicht zu leben aufhören.“

Hüsteln im Korridor

Letzte Woche waren Kaja und ich meist die einzigen, die nach 17 Uhr noch im Büro waren. Kaja ist in einer besonders perfiden Situation. Wegen Corona-Sparmassnahmen muss sie pro Woche einen aufgelaufenen Ferientag einziehen. Sie bekommt Hilfe, aber es reicht nicht. Meist erledigt sie jetzt die Arbeit von vier Tagen einfach in drei. Ausserdem funktionierte ihr Laptop nicht, deshalb kein Homeoffice. Und ich habe halt viel zu tun im Moment. Aber es werden wieder andere Zeiten kommen.

Kaja malocht alleine drüben im grossen Büro Ost, wo zu besten Zeiten vier Leute sitzen. Ich maloche in meinem Einzelbüro. Zum Plaudern haben wir, eigentlich gute Freundinnen, keine Zeit. Aber abends, wenn ich fertig bin, führt mein Weg durch das Büro Ost, und ich sage ihr auf dem Weg hinaus tschüss.

Zweimal hat sie sich letzte Woche fast zu Tode erschrocken, als ich hereinkam. Sie hatte sich im Osttrakt allein gewähnt und überhaupt nicht mit mir gerechnet.

Am Freitag hatte ich dann dazugelernt. Um sie vorzuwarnen, hüstelte ich leise im Korridor, bevor ich das Büro Ost betrat.

Als ich hereinkam, stand sie da, Angst in den Augen und eine Spur Missbilligung. Ich wusste sofort: Ich hatte einen noch schlimmeren Fehler gemacht. Ich begann laut zu lachen: „Nein, ich habe kein Covid-19! Ich habe nur gehüstelt, damit Du nicht erschrickst.“

Duftendes Anti-Corona-Tröpfchen

edlertropfen
Immer auf meinem Schreibtisch: Desinfektionsmittel und Wasserflasche

Am Freitag zählte die Schweiz erschreckende 6600 Neuansteckungen. Frau Frogg sass im Büro und fand Trost im medizinischen Alkohol.

Freitag, 16.30 Uhr in meinem Büro. Draussen auf dem Korridor gähnende Leere. Alle anderen sind entweder ins Homeoffice geflohen oder schon fertig mit der Arbeit. Nur drüben im Sekretariat sitzt noch eine Kollegin. Wir harren in unseren Büros aus, bei wieder beginnender Coronastinkigkeit allüberall. Was wir alles lesen müssen von unseren Kunden!

Vom Sekretariat komme ich gerade, ich musste etwas abholen. Jetzt desinfiziere ich mir reflexartig die Hände. Dann rieche ich an ihnen. Mein neues Handdesinfektionsmittel duftet wunderbar. Irgendwie… nach Williams vielleicht? Oder Zwetschgenschnaps? Kirsch? Ich werfe einen Blick auf das Kleingedruckte auf dem Fläschchen. „Distillerie Studer, Escholzmatt“ steht da. Eine kurze Google-Suche bringt es an den Tag: Die Herstellerin meines Desinfektionsmittels ist ein Familienunternehmen, das seit Generationen kostbare Obstbrände herstellt. Jetzt haben die Leute dort die Ernte vom letzten Herbst für medizinisches Zubehör in den Kocher geworfen.

Ich bin wenig überrascht, denn wir alle wissen: Schon Mitte Februar, zu Beginn der ersten Welle, ging in der Schweiz der medizinische Alkohol aus. Die Ethanol-Pandemiereserve war aus Spargründen 2018 abgeschafft worden. So opferten wir im Februar 2020 notfallmässig unsere edlen Tropfen: „Agroscope, die Forschungsstelle für Landwirtschaft, leert ihren gesamten Weinkeller. Aus 20000 Litern Wein – rotem und weissem aus dem Tessin, dem Wallis und dem Lavaux – werden knapp 3500 Liter Desinfektionsmittel für die Armee-Apotheke. Im Kanton Zug müssen 2000 bis 2500 Liter edler Etter-Kirsch mit 80 bis 90 Prozent Alkoholgehalt dran glauben. In Martigny bringt die Destillerie Morand eine Desinfektionslösung auf der Basis von Birnenschnaps auf den Markt. Hipster in Lausanne, Genf und Neuenburg schätzen sie bald schon, weil sie ’nach Williams riecht und die Hände weich macht‘.“ So steht’s im Schweizer Bestseller „Lockdown“, und dann heisst es: „Das Problem ist fürs erste gelöst. Eine erfolgreiche Aktion, die anmutet wie aus der legendären Schweizer Anbauschlacht im Zweiten Weltkrieg.“

An den Zweiten Weltkrieg denke ich gerade, als ein Mail bei mir hereinläuft. Ein älterer, durchaus gebildeter Herr aus den Bergen beklagt sich bitter. Er sei aus dem Café geworfen worden, weil er keine Maske tragen wollte. „Zum ersten Mal wusste ich, wie sich die Juden damals gefühlt haben.“ Zorn kocht in mir hoch. Ich kann das nicht sofort beantworten, sonst werde ich ihm ganz unprofessionell schreiben müssen, dass er ein bescheuerter Covidiot ist, und dazu eine Gefahr für die Allgemeinheit.

Ich brauche Trost, spritze mir nochmals ein wenig Desinfektionsmittel auf die Hand und rieche daran. Mittlerweile bin ich mir sicher: Es ist Zwetschgenduft. Ich frage mich: Wie sehr muss man das Zeug wohl verdünnen, damit man es trinken kann?**

Dann geige ich dem Herrn aus dem Bergen kühl und sachlich meine Meinung.

*“Recherchedesk TAMedia: „Lockdown“, Lachen, 2020, Verlag Wörterseh, (S. 69-70).
** Stunden später habe ich nun herausgefunden, dass das Zeug mit Kampfer ungeniessbar gemacht worden ist,

Lebenszeichen aus dem Corona-Hotspot

Der Schweizer Gesundheitsminister Alain Berset wirkte gestern von den Fallzahlen überrumpelt

Um es vorwegzunehmen: Meinem Mann und mir geht es gut. Aber in den letzten zehn Tagen ist hier in der Schweiz die Zahl der Coronafälle geradezu explodiert. Und niemand tut etwas. Was ist passiert?

Über 3000 Neuansteckungen mit dem Coronavirus meldete das Bundesamt für Gesundheit gestern – auf nur 8,75 Millionen Einwohner. Wir haben puncto Neunansteckungen sogar die USA überholt. Wie um alles in der Welt konnte das passieren?! Noch am 20. Mai sagte Bundes-Gesundheitsminister Alain Berset: „Wir können Corona.“ Das war kurz nach dem Lockdown, und es gab weit unter 100 Neuansteckungen im Tag.

Dann reichte der Bund die Verantwortung an die Kantone weiter. Das hätte er nicht tun sollen, auch wenn das Gesetz es so will. Die Kantone sind dasselbe wie in Deutschland die Bundesländer, nur viel kleiner. Der bevölkerungsreichste Kanton Zürich hat 1,5 Millionen Einwohner und eine steinreiche Finanzmetropole. Der kleinste, Uri, zählt gerade mal 37000 Seelen und wenig mehr als Berge und einen Nationalhelden. Aber der ist seit 700 Jahren tot, falls es ihn überhaupt je gegeben hat. Die Kantone sind schon zu den besten Zeiten ein zerfahrener Haufen. Es gibt Stadtkantone und Landkantone, reiche und arme Kantone, man spricht Deutsch oder Französisch oder nichts von beidem, man beobachtet einander mit Neid, Misstrauen und Schadenfreude. Ihr könnte mir das glauben. Ich hatte ein paar Jahre lang viel mit Vertretern (ja, meist Männer) der fünf Zentralschweizer Kantone zu tun. Ein Sack voller Flöhe ist einfacher von einer gemeinsamen Sache zu überzeugen. Wenn noch die Romands dazukommen, wird die Sache explosiv.

Nun sind hier also 26 Gesundheitsminister aus 26 Kantonen für das Management einer Pandemie zuständig. Natürlich gibt es eine so genannte Kantonale Gesundheitsdirektorenkonferenz, in der sich diese 26 Minister absprechen. Der sperrige Name des Gremiums ist wahrscheinlich Absicht. Mit einem solchen Namen entgeht man leicht der Aufmerksamkeit der nationalen Politik, die in den letzten Jahren von den Rechtsnationalen dominiert wurde. Chef der Kantonalen Gesundheitsdirektorenkonferenz ist ein sympathischer Basler CVP-Politiker namens Lukas Engelberger. Seit Wochen sieht man in oft am Fernsehen, wo er gut aussieht und in vielen Worten wenig sagt. „Das ist das beste, was er mit seinem Job tun kann“, sagt Herr T. und hat recht. In den Kantonen gab es eine Kakaphonie von Massnahmen: In Zürich Maskenpflicht in den Läden, in Luzern keine (natürlich pilgerten die Zürcher nach Luzern zum Einkaufen). Und so weiter.

Zuerst kam ein langer Sommer. Die Fallzahlen stiegen leicht. Wir wurden alle etwas nachlässig. Herr T. und ich berieten uns im August über das Ansteckungsrisiko. Er ist Ü60, ich habe eine chronische Krankheit. Dennoch: „Kleine, kalkulierte Risiken müssen wir eingehen“, sagte ich im August. „Wir müssen weiterleben.“ Diese Erkenntnis gehört zu den Dingen, die mich meine Krankheit gelehrt haben. Ich war dennoch vorsichtig, traf lediglich kleine Gruppen von Freunden, mit grossem Abstand und sehr grosser Freude. Gott, war es schön, sie alle nach dem Lockdown wiederzusehen! Alle liebten es, überall. Die Kneipen waren voll.

Zwischen dem 24. September und etwa dem 8. Oktober wurde sogar ich ein bisschen fahrlässig. Ich hatte Ferien. Am Sonntag, 4. Oktober, zwängte ich mich im Kanton Nidwalden in eine vollgepferchte Bergbahn mit 30 maskierten Mitpassagier*innen. Mir wurde etwas mulmig. „Na, der Kanton Nidwalden ist jetzt kein Corona-Hotspot“, beruhigte ich mich. Vier Tage später zählte Nidwalden plötzlich über 100 Neuansteckungen auf 47000 Einwohner. Da war ein Superspreader-Event in einer Bar. Über 1000 Neuansteckungen in der ganzen Schweiz. Sofort bekam ich einen leichten Schnupfen, wahrscheinlich vor Angst.

Am Freitag, 9. Oktober, wurde ein Kollege von mir positiv getestet. Da hatte ich immer noch Ferien und ihn in 14 Tagen nicht einmal von ferne gesehen. Am Montag arbeitete ich wieder, „the Show must go on“.

Dann, wenig später, plötzlich über 2000 Neuansteckungen im ganzen Land. Im Kanton Schwyz, bisher weitgehend von der Epidemie verschont, warnte die Spitalchefin eindringlich: „Die 25 Betten auf der Isolierstation sind fast alle belegt.“ Die Fallzahlen waren explodiert. Hunderte hatten im Talkessel ein Musical besucht, an dem ein Sänger infiziert war. Ich stand da mit offenem Mund und dachte: „Gibt es da keine Sicherheitskonzepte?“ Anscheinend hat die Gesundheitsministerin dort gar nichts gemacht. Zudem sind die Schwyzer reflexartig gegen alles, was im Verdacht steht, aus der Bundeshauptstadt Bern oder – Gott behüte! – dem Ausland zu kommen. Das betraf auch die Maskenpflicht.

Bei uns, 13 Kilometer von der Schwyzer Kantonsgrenze, fegte Chef Nummer zwei durch die Gänge. Er prüfte nach, ob wir alle die neuen Laptops für’s Homeoffice bekommen hatten. Am Donnerstag die Anordnung: „Wir stellen wieder auf Homeoffice um.“ Vor meinem geistigen Auge sah ich eine Schnecke, die sich missmutig in ihr Häuschen zurückzieht. Das war ich. Am Freitag ging ich trotzdem ins Geschäft, ich habe ein Einzelbüro und keinen Laptop.

Am Freitag über 3000 Fälle. Gesundheitsminister Berset trat vor die Medien und sagte… nichts. Unser Held, der im Frühjahr als erster in Europa Veranstaltungen über 1000 Personen abgesagt hat, wirkte völlig überrumpelt.

Drüben im Grossraumbüro führten die wenigen verbliebenen Kollegen unaufgefordert Maskenpflicht ein.

Dann, gegen Abend, sprach Herr Engelberger. Im Namen der Kantonalen Gesundheitsdirektoren forderte er vom Bund einheitliche Regeln bezüglich Maskenpflicht und Versammlungen. Endlich.

Am Sonntag tagt der Bundesrat. Was bis dann noch alles passiert, werden wir ja sehen.

Knallharter Sommerkrimi

Die Australierin Emma Viskic (Bild) hat einen Krimi mit einem tauben Ermittler geschrieben. Frau Frogg, selbst stark schwerhörig, hat das Buch gelesen. „Ausgezeichnet“, lautet ihr Verdikt. Aber man sollte nur nicht allzu ernst nehmen, was die Autorin in Interviews über ihren Helden sagt.

„No Sound – die Stille des Todes“ von Emma Viskic ist ein typisch australischer Krimi: schnell, brutal, düster. Meist steht im Mittelpunkt dieser Storys ein knallharter, aber auch versehrter, weisser Ermittler. Die Sprache ist knapp, die Dialoge von trockenem Humor. «No Sound» hat mehrere renommierte Krimi-Preise erhalten. Er ist aber nichts für zarte Gemüter, schon auf der ersten Seite nicht: Wir sehen den Protagonisten, Privatdetektiv Caleb Zelic, der seinen blutüberströmten Freund Gary in den Armen hält. Gary ist die Kehle aufgeschlitzt worden, und Caleb ahnt, dass er nicht ganz unschuldig daran ist. Die Geschichte wird aus seiner Sicht erzählt, und schon im ersten Abschnitt bekommen wir den vagen Eindruck, dass Caleb anders ist als andere Krimihelden. Er sieht «einen Mann und eine Frau. Sie trugen blaue Uniformen und sahen argwöhnisch aus. Die Frau redete, aber ihre Worte glitten an ihm vorbei, sie waren so formlos, dass er sie nicht packen konnte.» Was zunächst wie Schockstarre wirkt, erweist sich schnell als anhaltende Einschränkung: Caleb ist hochgradig schwerhörig. Die Hörgeräte helfen ein bisschen, aber nicht genug. Caleb bringt sich mit Lippenlesen und Gebärdensprache über die Runden.

Ich bin selber nicht ganz so schwerhörig wie Caleb. Mit Hörgeräten verstehe ich gesprochene Sprache an guten Tagen leidlich, Lippenlesen hilft ein bisschen. Ich war neugierig darauf, wie die Autorin das Thema Schwerhörigkeit abhandelt. Ich finde: Sie macht das sehr gut. Das Thema kommt auf jeder Seite vor – unaufdringlich, oft in Nebensätzen, aber es ist immer präsent. Es durchdringt Caleb’s Leben, wie Schwerhörigkeit das Leben eben durchdringt. Vom Morgen, wenn wir als erstes unsere Hörgeräte anziehen, bis zum Abend, wenn wir sie als letztes wieder in ihre Behältnisse legen. Das Thema ist im Buch da, wenn Caleb nicht zurechtkommt, weil ein unfreundlicher Gesprächspartner ihn absichtlich annuschelt. Es ist da, wenn jemand für ihn telefonieren muss, weil er es selber einfach nicht kann. Es ist da, wenn seine Hörgeräte nach einem lebensgefährlichen Kampf nass werden, nicht mehr funktionieren und er Panik schiebt – wegen der kaputten Hörgeräte fast mehr noch als wegen der ungemütlichen Gesamtsituation. Das trieft nie vor politischer Korrektheit und ist nicht belehrend. Aber es ist immer spannend zu lesen: Unser Held muss einen überlebenswichtigen Fall lösen – und bewegt sich dabei in einer Welt voller Zeichen, die er nicht deuten kann. Unheimlich, das alles.

Es gibt mittlerweile viele Krimis mit behinderten Heldinnen und Helden. Oft kompensieren diese ihre Einschränkung mit geradezu übersinnlichen Fähigkeiten und lösen den Fall genau deswegen. Nicht so Caleb. Nun ja, er beobachtet Gesichtsausdrücke genau, etwa, um einordnen zu können, ob sein Gegenüber auf seiner Seite steht. Ich mache das auch aufmerksamer als zu der Zeit, ich noch gut hörte – und ich habe dabei auch schon gemerkt, dass mir jemand etwas verschweigt. Aber was es genau war, habe ich erst erfahren, als er es mir später gesagt hat. Unmittelbar relevante Informationen erhält man im Alltag fast immer durch gesprochene Sprache. Das ist bei Caleb nicht anders. Er löst den Fall – nicht, weil ihm die Schwerhörigkeit dabei hilft. Sondern, weil er hartnäckig an der Sache dranbleibt – obwohl es für ihn schwieriger ist als für einen Normalo. Das Buch gibt übrigens auch einen Hinweis darauf, warum so viele Schwerhörige ihr Handicap verheimlichen – es gibt Menschen, die uns nicht wohlgesinnt sind. Wenn diese es für nötig halten, werden sie unsere Schwäche ausnützen. Das ist so, überall auf der Welt, auch wenn heute viel von Inklusion die Rede ist. Dennoch: Es gibt Situationen, in denen Caleb ruhig Hilfe annehmen könnte. Aber das will er lieber nicht. Er ist eben ein harter Kerl, bis zum Gehtnichtmehr.

Was bewegte Emma Viskic dazu, einen hörbehinderten Ermittler zu erfinden? Ist sie selber schwerhörig? Nein, aber sie hat sorgfältig recherchiert. Und als Tochter eines kroatischen Einwanderers, als Frau und als Ehefrau eines bei Koori (Ureinwohnern von Australien) aufgewachsenen Mannes ist ihr die Auseinandersetzung mit Minderheiten wichtig, heisst es. Sie sagte dem «Sydney Morning Herald” über ihren tauben Helden: «Ich wollte einen traditionsgemäss unbesiegbaren Charakter erfinden, einen heterosexuellen, weissen Mann, fit und fähig – und ihn verwundbar machen.» Sie fügt hinzu: «Es ist also eine Metapher, ein Bild, aber das macht die Geschichte interessanter.»

Der Satz hat mich stutzig gemacht. Eine Metapher? Aber für was? Für die Verletzlichkeit eines Macho-Helden? Ok, Caleb qualifiziert sich immer wieder als Macho – aber um verletzlich zu sein, würde er seine Schwerhörigkeit wahrlich nicht brauchen, er schadet sich mit seiner Härte auch so genug: Er redet nicht über seine Gefühle – und das hat seine Ehe zerstört. Er versteht sich bestens auf Männer-Machtspielchen – aber es nützt ihm nicht viel, weil er bei den für ihn höchst bedrohlichen Mordermittlungen der Polizei sowieso am kürzeren Hebel sitzt. Er handelt manchmal überstürzt und übertrieben aggressiv – und das kostet ihn mindestens einmal fast das Leben – und es bringt die Frau, die er liebt, in höchste Gefahr.

Man kann die Schwerhörigkeit also getrost einfach wörtlich nehmen. Als eine Herausforderung, die Caleb Tag für Tag begleitet. Nicht mehr und nicht weniger.

Fazit: Wer einen spannenden Krimi für die Sommerferien braucht, ist mit «No Sound – die Stille des Todes» bestens bedient. Wer Ahnung davon bekommen will, wie sich Schwerhörigkeit anfühlt, sollte das Buch unbedingt lesen.

Emma Viskic: «No Sound – die Stille des Todes», Verlag Piper, 288 Seiten.
Über Privatdetektiv Caleb Zelic gibt es insgesamt drei Krimis von Emma Viskic, auf Deutsch erschienen sind zwei. Der zweite heisst: «No Words – die Sprache der Opfer».

Musik, Sinnlichkeit und Schwerhörigkeit

Der dänische Sören Kierkegard hat über Sinnlichkeit und Musik nachgedacht.
Kürzlich abends. Ich sitze mit Herrn T. vor dem Fernseher. Er schaut eine Comedy-Sendung, ich lese Sören Kierkegaard. Ich kann jetzt vor dem Fernseher lesen, ohne dass der Lärm der Flimmerkiste mich ablenkt. Ich ziehe einfach die Hörgeräte aus, dann höre ich ausser meinem Tinnitus keinen Laut.

Kierkegaard, den dänischen Philosophen aus dem 19. Jahrhundert, hätte ich schon während meines Studiums lesen sollen. Aber damals war ich jung und hatte keine Zeit für existenzielle Fragen. Jetzt bin ich älter und suche Antworten – und hoffe sie bei einem zu finden, der die Tiefen des menschlichen Gemüts gründlich, aber mit der nötigen ironischen Distanz erforscht hat.

Ich lese den Text „Das Musikalisch-erotische“. Da steht: „In ihrer Unmittelbarkeit kann die sinnlich-erotische Genialität nur in Musik ausgedrückt werden.“ Und: „In der erotisch-sinnlichen Genialität hat die Musik ihren absoluten Gegenstand.“*. Diese Sätze treffen mich so tief, dass ich zu lesen aufhöre. Ich kann ja keine Musik mehr hören, Musik ächzt, quietscht und dröhnt durch meine Hörgeräte wie ein schweres Möbel, das man über einen Schieferboden zieht. Eine Zumutung, die ich mir nach Möglichkeit erspare.

Aber Kierkegaard fasst in Worte, was wir instinktiv wissen, und worüber ich früher oft nachgedacht habe: Musik, Sinnlichkeit und Erotik sind tief verbunden. Was also verlieren wir, wenn wir keine Musik mehr hören können? Verlieren wir unsere Sinnlichkeit? Unsere Sexualität gar? Nein, letzteres sicher nicht, obwohl …, naja, schwieriges Thema, sprengt die Möglichkeiten eines Blogbeitrags. Werden wir verbiestert? Genussunfähig? Ich weiss es nicht. Ich fühle mich in letzter Zeit oft verbiestert, eine Leichtigkeit, die ich früher hatte, ist mir abhanden gekommen. Aber ich treffe auch auf viele verbiesterte Mitmenschen, und die meisten von ihnen sind nicht taub.

Ich sitze da, denke nach und starre den Bildschirm mit der Comedy-Sendung an. Da sehe ich einen österreichischen Komiker, seinen Namen habe ich nicht mitbekommen. Ich sehe, wie er beim Reden hart arbeitet. Wie sein Oberkörper zuckt, wie sein Brustkorb sich hebt und senkt. Wie er Luft durch den Rachenraum presst, seine Wangen bewegen sich wie Segel und sind gerötet. Ich kann beinahe sehen, wie Speichel ihn umsprüht (solche Dinge sehen wir ja seit Corona). Ich sehe, wie er gestikuliert, und das alles unglaublich schnell. Wenn man keinen Ton hört, sieht diese enorme Anstrengung vollkommen surreal aus.

Ein sinnliches Erlebnis, irgendwie, wenn auch in diesem Fall nicht besonders erotisch.

In: Sören Kierkegaard: „Entweder – oder“, dtv, 2020, Seite 78.

Shoppen nach dem Lockdown

Am Mittwoch musste ich in die Stadt zum Arzt. Die Stimmung auf den Strassen war gelöst, viel lockerer als während des Lockdowns. Noch war auf den Gassen kein Gedränge – einzelne Frauen huschten über die Plätze, mit beigen Regenmänteln, dezenten Halstüchern und Schirmen, wie ich. Es hat dieses Jahr keine Frühlingsmode gegeben, dachte ich. Einige trugen die Schuhe vom letzten Jahr. Es fiel mir auf. Ausser mir trägt in dieser Stadt sonst nie jemand Schuhe vom letzten Jahr. Seit Wochen hatte ich nicht darauf geachtet, was irgendwer trägt.

Nein, ich kaufe jetzt noch keine Kleider, dachte ich. Dafür fand ich mich, wie von Geisterhand hingeführt, plötzlich vor der Filiale eines global bekannten Kaffeekapselherstellers wieder. Ich habe immer geglaubt, die Kette nicht besonders zu mögen und meine Kapselmaschine aus rein praktischen Überlegungen zu besitzen. Doch nun trat ich ein, desinfizierte mir die Hände und reihte mich in die Schlange der Wartenden ein. Und als ich am Tresen stand und mich die Verkäuferin mit dem Mundschutz begrüsst hatte, hörte ich mich gegen die Plexiglasscheibe zwischen uns sagen: „Hach, ist es schön, wieder Kaffee zu kaufen!“ Ich glaube, sie lächelte, ihre Augenwinkel zogen sich leicht zusammen.

Es ist nicht so, dass ich während des Lockdowns unter Kaffee-Entzug gelitten habe. Ich habe meine Kaffeekapseln halt einfach beim Grossverteiler aus dem Gestell genommen. Aber mit der Zeit fehlte mir dabei etwas. Der extra starke Espresso in der nachtblauen Verpackung? Dieses Wohlgefühl des Bedientwerdens? „Dienen und bedient werden ist ein Grundbedürfnis“, sagte eine Wirtin in unserer Lokalzeitung, als bei uns die Gastronomie wieder geöffnet wurde. Naja, dachte ich beim Lesen. Ich bin Konsumskeptikerin. Das hat mit meiner katholischen Kindheit zu tun, die auch einen asketischen Zug hatte. Dienen und Bedientwerden hatte etwas Anrüchiges. Der Vorwurf lag in der Luft, dass der (öfter die) Dienende bei der Ausübung ihrer Funktion gedemütigt werde, sich verleugnen und sich alles mögliche bieten lassen müsse. Noch in jungen Jahren kam die Erkenntnis: Konsum schadet der Umwelt. Das passte alles gut zusammen und führte dazu, dass ich immer eine zurückhaltende Shopperin gewesen bin.

Doch dann kam das Coronavirus, und wir haben gelernt: Wenn wir nicht konsumieren, fällt uns innert einem Monat der Himmel auf den Kopf. Wenn wir nicht ständig rennen, unser Geld ausgeben, uns Vergnügungen und neues Material um die Ohren schlagen, dann verarmen erst die Kulturveranstalterinnen, dann die Wirte, die Verkäufer, die Ladenbesitzerinnen und schliesslich auch wir selber. Konsumieren ist systemrelevant. Sich bedienen lassen ein Akt der Solidarität.

Ich packte meine Kaffeekapseln ein, lächelte, ging dann noch in den Computerladen und in die Buchhandlung. Nein, ich bestelle meine Bücher nicht online. Ich unterstütze die Buchhandlung in der Nachbarschaft, die beste, die ich kenne. Jetzt noch viel mehr. Als ich nach Hause kam, versorgte ich zufrieden meine neuen Schätze. Nur der penetrante Geruch fünf verschiedener Handdesinfektionsmittel störte ein wenig.