Wahnsinn, Küsse und Corona

Habe ich Angst vor dem Coronavirus? Nein, eigentlich nicht. Das ist merkwürdig, denn ich bin ein furchtsamer Mensch. Aber ich habe gerade deswegen gelernt: Die Angst ist eine schlechte Prognostikerin. Sie steht oft in einem völlig falschen Verhältnis zum gefürchteten Ereignis. Beispiel: Einmal in meinem Leben habe ich mich nicht davor gefürchtet, meinen Job zu verlieren. „Das wäre jetzt so bescheuert, dass es gar nicht passieren kann“, dachte ich. Genau damals ist dann doch passiert. Ich habe es überlebt. Also denke ich jetzt: „Es ist ok, dass ich mich nicht fürchte. Es kommt, wie es muss.“ Ich wasche mir trotzdem häufig und gründlich die Hände und niese in meine Armbeuge. Man tut, was man kann.

Ich fürchtete mich auch nicht vor der Isolation, die eine solche Epidemie mit sich bringt. Zunächst. Bis am Freitagmorgen. Da rief zuerst unser Gesundheitsminister Alain Berset eine „besondere Lage“ aus und verbot alle Veranstaltungen mit über 1000 Teilnehmern. Unter anderem sagte er die Basler Fasnacht ab. Das alarmierte mich, aber es betraf mich noch nicht. Wegen meiner Schwerhörigkeit lebe ich seit einem Jahrzehnt in einer Art Halbquarantäne. Veranstaltungen mit 1000 Personen besuche ich so gut wie nie, viel zu stressig. Gott schütze mich vor der Basler Fasnacht!

Dann las ich im Büro auf dem Intranet, ein Kollege sei positiv getestet worden. Da kribbelte es mich im Nacken. Aber, gut, unser Konzern hat um die 1800 Angestellte, verteilt auf ein gutes Dutzend Standorte im der ganzen Schweiz. Der Mann, den es getroffen hat, arbeitet 60 Kilometer weit weg. In einer Zweigstelle, die sehr wahrscheinlich keiner meiner Kollegen je betreten hat. Der Betroffene war in Mailand gewesen.

Wenig später schritt unsere Chefsekretärin durch den fast leeren Korridor (bei uns sind viele Arbeitsplätze abgebaut worden). Sie streckte mir eine giftgelbe Sprühflasche entgegen und sagte: „Damit kannst Du Deine Computertastatur desinfizieren, und die Arbeitsflächen.“ Ich sagte: „Ja, gerne, ich mache das, sobald ich Zeit habe.“ Ich hatte mir eben die Hände desinfiziert und musste dringende Sachen erledigen. Meinen Schreibtisch berührt ausser mir und der Reinigungskraft niemand. Nie werde ich den Blick vergessen, den mir die Chefsekretärin zuwarf. Ich fühlte mich schmutzig. Eine Gefährderin.

Da wusste ich: Jetzt ist etwas passiert. Ab jetzt ist jeder in diesem Haus gefährlich und gefährdet. Ab jetzt misstraut jeder jedem. Ab jetzt muss ich als Schwerhörige mich besonders in Acht nehmen. Ich darf den Leuten ja nicht mehr zu nahe treten, damit ich sie besser höre.

Später ging ich in die Apotheke, um mir ein zweites Fläschchen Desinfektionsmittel zu kaufen. Der Apotheker ist ein raubeiniger, weisshaariger Kerl. Ich schätzte ihn als einer jener Typen ein, bei denen man sich fast entschuldigen muss, wenn man so etwas kauft. Aber Irrtum: Der Mann zuckte sichtlich zusammen, als ich ihn beim Zahlen versehentlich mit den Fingerspitzen berührte. Ich schämte mich. Er ist über 60 und lebt in seiner Apotheke sicher gefährlich. Es war alles noch unangenehmer, weil ich gar nicht mit ihm reden konnte. Ich hörte an diesem Tag zu schlecht.

Ich trat aus der Apotheke und fühlte mich von da an wie ein Gespenst. Nachts schlief ich schlecht. Ich hustete leicht und hatte merkwürdige Schmerzen.

Am Samstag gingen Herr T. und ich an eine kleine Geburtstagsparty. „Wie machen wir es? Küssen? Hände schütteln? Oder nicht?“ fragten alle Eintreffenden am Eingang. Die Gastgeber lachten. Wir umarmten und küssten uns alle herzlich. Es war so ein fröhliches, entspanntes Festchen! Wunderbar! Wie aus einer anderen Zeit. Schmerzen und Gehüstel – wie verflogen.

Heute Morgen sagt Gesundheitsminister Berset in der „Sonntagszeitung“: „Der Verzicht auf Begrüssungsküsse sollte ernsthaft in Erwägung gezogen werden. Wir wissen, dass soziale Distanzierung der beste Weg ist, die Verbreitung des Virus einzudämmen.“

Das ist sehr wahrscheinlich wahr. Aber es hat einen hohen Preis im Zwischenmenschlichen.

4 Gedanken zu „Wahnsinn, Küsse und Corona“

    1. Du auch nicht 🙂 Na, mal sehen, was passiert. Es ist eine irre Zeit. Krisenzeiten bringen das beste und das schlimmste im Menschen zum Vorschein, ist nun mal so. Lese gerade Albert Camus: „Die Pest“. Sehr spannend.

  1. Betrachte ich wie jede andere Virusgrippe auch. Wie Du es vollkommen richtig ausdrückst: Es kommt, wie es muß. Ich hab jetzt endlich einen handfesten Grund, meine jungen Mitbewohner, die meist von den Öffentlichen reinkommen, zu bitten, sich direkt die Hände um die Ecke im Gäste-WC zu waschen. Geschieht zwar sehr flüchtig, doch zuvor sind sie immer gleich die Treppe rauf in ihr Zimmerlein, wobei sie noch die eine oder andere Türe anfassen müssen. Dabei weiß das doch schon längst jeder, daß wir uns die Hände waschen sollen, wenn wir von draußen ins Haus kommen. Ich kann gar nicht anders, auch wenn ich Geld in den Fingern hatte …
    Mit dem CfS lebe ich ebenso ziemlich isoliert, erst recht leider, seit dem Unfall mit der Kniescheibe.
    Ich hab Dir übrigens zu jedem Deiner früheren lieben Kommentare in meinem Blog eine Antwort gegeben, nur fürchte ich, daß Du von WP nicht benachrichtigt wirst. Ich finde das bedauerlich. Ganz herzliche Grüße und Wünsche mal an dieser Stelle wieder. 🙂

    1. Liebe Edith, vielen Dank, dass Du Dir die Mühe genommen hast, mir zu antworten! Ich schaue mir Deine Kommentare gerne nochmals an, sobald ich Zeit habe. Vielleicht gelingt es mir, die Einstellungen so einzurichten, dass ich eine Mail bekomme, wenn Du antwortest.

      Liebe Grüsse Dir

Schreibe einen Kommentar zu Frau Frogg Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert