Raus aus dem Lockdown

Hier in der Schweiz wird gerade der Shutdown gelockert. Auch hier: Schlangen vor den Baumärkten. Wieder mehr Betrieb in den Strassen. Am Mittwoch kann ich mir wahrscheinlich die Haare schneiden lassen. Ist überfällig. Aber wir sollten uns nicht zu früh freuen: Vieles ist anders als früher – zudem bleibt die Angst vor der zweiten Welle. Die Situation kommt mir vor wie die Phase nach dem ersten Schub einer chronischen Krankheit. Chronische Krankheit: Da kenne ich mich aus, ich lebe seit vielen Jahren mit Morbus Menière. Deshalb sage ich: Das wird kein Sonntagsspaziergang. Das ist fast so schwierig wie der Lockdown selber, wenn auch auf andere Art. Aber die gute Nachricht: Wir werden lernen, damit zu leben.

Der erste Schub einer chronischen Krankheit ist ein überwältigendes Erlebnis. Da ist der Schreck darüber, dass einen der eigene Körper im Stich lässt – in meinem Fall war es das Gehör. Dann die Diagnose. Die Angst. Die Angst davor, dass das jetzt so bleibt oder schlimmer wird. Die langsam sich einstellende Erkenntnis, dass Willenskraft ungefähr gleich viel nützt wie Geisterbeschwörung. Dass Stress alles schlimmer macht. Und dass die Ärzte nicht viel ausrichten können. Dann die Fragen: Wie wird das jetzt weitergehen? Wird mein Mann mich noch lieben? Werde ich verarmen? Hat diese Krankheit ein Muster? Kann ich sie überlisten, wenn ich sie durchschaue? Warum habe ich das bekommen? Habe ich irgendetwas falsch gemacht? Bei meinem ersten Schub bin ich in den persönlichen Lockdown gegangen. Ich wurde zwei Monate krank geschrieben und blieb zu Hause. Ich sah fast nur noch meinen Mann und ab und zu ein paar Freunde. Klingt vertraut, oder?

Der Schub ging vorbei. Ich hörte Musik und vergoss Freudentränen dabei. Ich liebte es, wieder zu arbeiten. Aber was man schafft, muss erkämpft sein – und vom Kämpfen flammten die Symptome wieder auf. Egal, was ich tat: Da war immer die Angst. Da waren immer die Fragen. Einige meiner Freundschaften zerbrachen an diesen Ängsten. Andere daran, dass es mit mir abwärts ging in der Welt. Und eine gewisse Einsamkeit wählte ich selber. Manchmal war alles gut, ich war voller Glück und Zuversicht. Manchmal verfolgte mich sachte eine kleine Depression, wenn ich morgen zur Arbeit ging. Es war ein verdammtes Wechselbad der Gefühle.

Irgendetwas hat mich damals gerettet. Wahrscheinlich war es die Hilfe vieler Menschen: Mein Mann. Ärzte, Chefs, ein paar Freundinnen und Freunde. Und ich glaube, meine Einstellung hat mich gerettet – und ich würde jetzt gerne sagen, es sei Optimismus gewesen oder Dankbarkeit oder etwas anderes Kalenderspruchartiges. Aber es war etwas anderes: Es war Durchhaltewille. Schierer, hartnäckiger, unbeirrbarer Durchhaltewille. Egal, was passiert. Mich an meinem Tagesrhythmus festhalten. Freundlich bleiben. Neugierig bleiben. Spazieren gehen. Leere aushalten lernen. Arbeiten. Schreiben. Die Dinge kommen und gehen sehen. Und mich im richtigen Moment freuen können.

Geschichten, die mir nahe gegangen sind

Hier sitze ich und schone meinen linken Fuss. Die Knochen sind heil, das konnte der Arzt mittels Röntgenbild klären. Sonst konnte er mir nichts Genaues sagen. So ein Arztbesuch hat zu Corona-Zeiten etwas Surreales, aber mehr darüber ein andermal. Tatsache ist: Der Fuss ist blau und am Knöchel leicht geschwollen. Ich ziehe den Fuss nach, an einen Sonntagsspaziergang ist aus mehreren Gründen nicht zu denken.

So forste ich mich durch die Beiträge meiner MyTagebuch-Kollegen. MyTagebuch, das ist jene Community, die auf Blogs einfach mal von ihrem täglichen Leben erzählt. Das ist oft spannend, jetzt gerade aber besonders lesenswert. Denn wir bekommen ja alle gar nicht mehr mit, was andere in ihren Home Offices, in ihren stillen Wohnungen, in den Zimmern mit den unterbeschäftigten Kindern so erleben. Dabei ist die Lektüre von Alltagserlebnissen anderer eine sehr wirksame Arznei gegen Corona-Stinkigkeit und alle Arten von Selbstmitleid.

Wer Zeit hat, surft durch die Bloggroll von Nell. Sie hat getreulich alle alten MyTagebuch-Kolleginnen und Kollegen aufgelistet. Dort finden sich Dutzende von total subjektiven Schilderungen des Lebens im Corona-Modus. Beiträge, die mir besonders nahe gegangen sind (kein Ranking, einfach eine Liste):

Ginger überlegt sich hier gerade, ob er seine Hochzeit im Sommer verschieben soll. Ausserdem versucht er sich – mit viel schwarzem Humor – vorzustellen, wie es wäre, als Pathologe zur Pflege von Corona-Patienten eingesetzt zu werden.

Milou berichtet hier, dass sie im Home Office wohl bald sehr viel Arbeit bekommen wird. Sie muss sich um insolvent gewordene Reisebüros kümmern.

Mohseshoh bestätigt mir hier mit einer unnachahmlichen Anekdote, dass man beim Maskentragen nuschelt.

Phoebeweatherfield ist Lehrerin in Bayern und fragt sich hier, wie wohl der wegen der Abstandsregeln in die Turnhalle verlegte Englisch-Unterricht an der wiedereröffneten Schule vor sich gehen wird.

Hypermental erzählt hier hier sehr sachlich, wie er versucht, an Fördermittel zu kommen, um die Pleite seines Kleinunternehmens abzuwenden.

Erinnye macht sich Sorgen um eine Verwandte, deren WG-Mitbewohner an Covid-19 erkrankt sind. Es geschah bei der Apres-Ski-Party im Südtirol. Sie fragt sich hier, warum es eigentlich noch Leute gab, die Skipartys durchführten, als man längst wusste, dass das gefährlich ist.

Bloggen in Zeiten des Coronavirus

Heute hatte die Sonntagszeitung einen schockierenden Bericht über den Notstand in Schweizer Alters- und Pflegezentren. Das Coronavirus breite sich ausgerechnet in solchen Institutionen rasant aus, heisst es. Das liege unter anderem „an der schlechten Versorgung (der Heime) mit Schutzmaterialien“. Es herrsche akuter Mangel an Masken und Schutzkleidung. „Die Mitarbeitenden eines Berner Altersheims erhielten letzte Woche per Post je fünf einfache Hygienemasken. Sie wurden aufgefordert, nur eine pro Tag zu verwenden und sie dann zu Hause zu trocknen.“ „Wenn alle Masken gebraucht wurden, beginnt man wieder mit der ersten“, steht in einer Weisung, die der Zeitung vorliegt. Dabei sind die Masken unmissverständlich für den einmaligen Gebrauch bestimmt. Ich war entsetzt. Wie konnte es soweit kommen, dass wir ausgerechnet die Verletzlichsten in unserer Gesellschaft so schlecht schützen können?

Und ich hatte auch wieder dieses merkwürdige Gefühl der Deplatziertheit, das ich beim Bloggen in den letzten Wochen oft habe. Ich habe nie geglaubt, meine Blogbeiträge seien besonders relevant. Sie sind meine Art, der Welt meine Erfahrungen mitzuteilen. Mehr will ich gar nicht. Meistens drehen sie sich um das Thema Schwerhörigkeit, ist halt so. Bis vor zwei Monaten hatte ich dennoch selten den Eindruck, meine Postings liessen mich aussehen wie eine totale Idiotin. Doch seit das Corona-Chaos begonnen hat, habe ich dieses Gefühl ständig. Jeder Beitrag wird von den News oft schon nach Stunden mit einer derartigen Wucht überholt, dass ich nur dasitzen und den Mund aufsperren kann.

Am letzten Sonntag zum Beispiel schrieb ich einen Beitrag über das Kommunikations-Desaster, das ich als stark hörbehinderte Patientin bei einem Mundschutz tragenden Arzt erlebt hatte (hier nachzulesen). Ich schickte den Text auch meiner Freundin Angie Hagmann vom Netzwerk avanti donne für Frauen mit Behinderung. Sie räumte ein, dass Mundschutzmasken für Hörbehinderte ein Problem sind, gerade im Gesundheitsbereich. Sie mahnte aber: So vehement, wie ich die Mundschutzmaske ablehne, könne man das nicht tun. Wahrscheinlich würden die Masken eben doch helfen, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen.

Der Montag gab ihr recht: An jenem Tag rief der österreichische Kanzler Sebastian Kurz die Maskentragepflicht in den Läden Österreichs aus. Wer jetzt noch ein Problem mit Masken hatte, war renitent oder hatte den Ernst der Lage nicht begriffen. Inklusion hin oder her. Ich grummelte ein bisschen. Dann schrieb ich – eine Idee von Angie – eine Liste mit Tipps, wie man gefährliche Missverständnisse zwischen MaskenträgerInnen und Schwerhörigen vermeidet – gerade in der Pflege. Kann man hier nachlesen, ist am Freitag erschienen. Angie hat viel dazu beigetragen. Unter anderem ein lustiges Bild von einer Frau mit durchsichtiger Gesichtsmaske für den Umgang mit Schwerhörigen und Gehörlosen.

Nun, da haben wir einen akzeptablen Umgang mit der Situation gefunden, dachte ich zufrieden.

Dann kam der Bericht in der Sonntagszeitung, und ich sah mich widerlegt. Kann man angesichts solch himmelschreiender Missstände noch die Sondersituation von Menschen mit Hörbehinderung anmahnen? Ist das jetzt nicht vollkommen lachhaft?

Die Instagrammerin @joulesgent macht sehr spannende, sehr persönliche Postings zum Thema Schwerhörigkeit. Vor ein paar Tagen hat sie geschrieben, sie höre vorläufig auf damit. Sie habe das Gefühl, das sei im Moment alles kein Thema.

Am besten höre ich auch auf zu bloggen, dachte ich.

Aber das werde ich wohl nicht. Vielleicht sind die Texte später doch wieder mal nützlich – um zu dokumentieren, wie blind die meisten von uns 2020 in das Desaster stolperten. Oder als Denkanstoss, wie Inklusion funktionieren könnte, wenn wieder bessere Zeiten kommen.