Musik, Sinnlichkeit und Schwerhörigkeit

Der dänische Sören Kierkegard hat über Sinnlichkeit und Musik nachgedacht.
Kürzlich abends. Ich sitze mit Herrn T. vor dem Fernseher. Er schaut eine Comedy-Sendung, ich lese Sören Kierkegaard. Ich kann jetzt vor dem Fernseher lesen, ohne dass der Lärm der Flimmerkiste mich ablenkt. Ich ziehe einfach die Hörgeräte aus, dann höre ich ausser meinem Tinnitus keinen Laut.

Kierkegaard, den dänischen Philosophen aus dem 19. Jahrhundert, hätte ich schon während meines Studiums lesen sollen. Aber damals war ich jung und hatte keine Zeit für existenzielle Fragen. Jetzt bin ich älter und suche Antworten – und hoffe sie bei einem zu finden, der die Tiefen des menschlichen Gemüts gründlich, aber mit der nötigen ironischen Distanz erforscht hat.

Ich lese den Text „Das Musikalisch-erotische“. Da steht: „In ihrer Unmittelbarkeit kann die sinnlich-erotische Genialität nur in Musik ausgedrückt werden.“ Und: „In der erotisch-sinnlichen Genialität hat die Musik ihren absoluten Gegenstand.“*. Diese Sätze treffen mich so tief, dass ich zu lesen aufhöre. Ich kann ja keine Musik mehr hören, Musik ächzt, quietscht und dröhnt durch meine Hörgeräte wie ein schweres Möbel, das man über einen Schieferboden zieht. Eine Zumutung, die ich mir nach Möglichkeit erspare.

Aber Kierkegaard fasst in Worte, was wir instinktiv wissen, und worüber ich früher oft nachgedacht habe: Musik, Sinnlichkeit und Erotik sind tief verbunden. Was also verlieren wir, wenn wir keine Musik mehr hören können? Verlieren wir unsere Sinnlichkeit? Unsere Sexualität gar? Nein, letzteres sicher nicht, obwohl …, naja, schwieriges Thema, sprengt die Möglichkeiten eines Blogbeitrags. Werden wir verbiestert? Genussunfähig? Ich weiss es nicht. Ich fühle mich in letzter Zeit oft verbiestert, eine Leichtigkeit, die ich früher hatte, ist mir abhanden gekommen. Aber ich treffe auch auf viele verbiesterte Mitmenschen, und die meisten von ihnen sind nicht taub.

Ich sitze da, denke nach und starre den Bildschirm mit der Comedy-Sendung an. Da sehe ich einen österreichischen Komiker, seinen Namen habe ich nicht mitbekommen. Ich sehe, wie er beim Reden hart arbeitet. Wie sein Oberkörper zuckt, wie sein Brustkorb sich hebt und senkt. Wie er Luft durch den Rachenraum presst, seine Wangen bewegen sich wie Segel und sind gerötet. Ich kann beinahe sehen, wie Speichel ihn umsprüht (solche Dinge sehen wir ja seit Corona). Ich sehe, wie er gestikuliert, und das alles unglaublich schnell. Wenn man keinen Ton hört, sieht diese enorme Anstrengung vollkommen surreal aus.

Ein sinnliches Erlebnis, irgendwie, wenn auch in diesem Fall nicht besonders erotisch.

In: Sören Kierkegaard: „Entweder – oder“, dtv, 2020, Seite 78.