Alarmstufe orange im Zentralbüro

Bevor ich das Büro verliess, ging ich noch kurz bei Kaja vorbei. Diesmal erschrak sie nicht, aber sie nuschelte aufgeregt in ihre Maske. Ich verstand sie nicht. Bürogespräche sind für mich sehr bruchstückhaft geworden. Kaja wollte partout die Maske nicht abnehmen, obwohl ich längst zwei oder drei Schritte zurückgetreten war.

Schliesslich nahm sie einen roten Stift in die Hand und schrieb auf ein Stück Papier: „Löwenherz hat Corona.“ Löwenherz ist die Chefin der Abteilung Licht & Schatten im Zentralbüro. „Sie ist im Haus. Ich musste vorher bei ihr vorbei. Sie sagte, ich soll ihr auf keinen Fall näherkommen.“

„Hä???!!“ fragte ich. „Warum ist sie nicht in Quarantäne?“

Keine Ahnung, liess Kaja mich wissen, dann schrieb sie: „Der Chef sollte jetzt intervenieren. Warum tut und sagt der Chef nichts?“ Ich nickte. „Geht alles den Bach runter“, sagte eine von uns, nicht zum ersten Mal in den letzten Jahren.

Dann ging ich hinaus und streifte durch die dunkle Stadt. Mein Kopf war wie ein Bildschirm, auf dem unter einem mässig interessanten Spielfilm plötzlich ein rotweisses Spruchband mit panischen News durchzulaufen beginnt. Das Band war voll mit hektischen Fragen: Wann habe ich Löwenherz zum letzten Mal gesehen? Am Freitag, für zwei Sätze mit genügend Abstand. Ob sie es da schon hatte? Was, wenn sie schon das halbe Dutzend Kollegen im Zentralbüro angesteckt hat? Wie gut ist eigentlich die Lüftung in unseren Büros? Warum kommt Löwenherz überhaupt noch ins Büro? Habe ich mich angesteckt? Darf ich meinen Mann noch küssen? Verdammt, wir haben Risikopatienten in unserem Geschäft! Warum tut niemand etwas? Habe ich meine Eltern angesteckt gestern?

Willkommen in der Schweiz im November 2020. Slowdown statt Shutdown. Haha. „Der Bundesrat ist wie betäubt“, whatsappte Kaja am späteren Abend. Die Kantonsregierungen machen: nicht viel. Wir alle sind vorsichtig, aber nicht immer und nicht konsequent genug. Übers Wochenende fiel der R-Wert kurz unter 1, aber am Samstag gab es Massenandrang an den Skiliften in Zermatt. Jetzt steigt der R-Wert wieder. In den Spitälern sterben von der Öffentlichkeit so gut wie unbemerkt an die 100 Menschen im Tag.

Kaja und ich versprachen, einander auf dem Laufenden zu halten. Ich schrieb: „Ich warte bis morgen auf Infos vom Chef. Wenn nichts kommt, schreibe ich der Betriebsrätin. Ich werde mich hüten, dem direkten Vorgesetzten Fragen zu stellen, er wird mich eh nur anpflaumen.“

Später berichtete Kaja, Löwenherz habe ihr die Sache per E-Mail erklärt: Sie sei völlig symptomfrei. Den Test habe sie nur gemacht, weil sie nächste Woche ihre Verwandten in Finnland besuchen wolle. Als Kaja kam, war Löwenherz gerade über die Testresultate informiert worden.

Heute ist Löwenherz in Quarantäne, Kaja im Homeoffice und ich habe frei. Meine Nase läuft ein bisschen. Meinen Mann habe ich trotzdem geküsst, wenn auch nicht sehr innig. Um 11:02 das Whatsapp von meiner Mutter: „Corona ist näher gerückt.“ Meine Nichte Marie-Christine (18) sei positiv und in Isolation. Mein Bruder und meine Schwägerin: negativ. Bei der jüngeren Nichte Carina (15) wissen wir es noch nicht.

Ja, ich gestehe, ich habe mich fahrlässig verhalten

In der Schweiz haben wir mittlerweile 7700 Covid-19-Neuansteckungen im Tag. Die Intensivstationen sind bald voll. Unsere Regierung tut: nichts. Dabei brauchen wir einen zweiten Lockdown. Eigenverantwortung funktioniert einfach nicht, wie ich gleich zeige werde.

Am letzten Samstag waren wir bei Lydia und Xaver zum Essen eingeladen. Die beiden sind sehr alte Freunde von Herrn T.. Wir hatte sie lange nicht gesehen und das Treffen war von langer Hand geplant. Doch am Vorabend rief Lydia an und lud uns aus. Wegen Corona. Der Gesundheitsminister habe doch gesagt: „Reduzieren sie ihre sozialen Kontakte.“ Ich sass daneben und sagte laut: „Gut! Das erspart uns eine schwierige Entscheidung.“ Tagelang hatte ich darüber nachgedacht, wie riskant dieses Treffen wohl sei.

Am nächsten morgen klingelte wieder das Telefon. Diesmal war es Xaver. Er lud uns wieder ein. „Mir wöi doch itz nid uffhöre lääbe“*, sagte er in seinem liebenswürdigen Freiburger Dialekt. Ich sass da und verdrehte die Augen. „Hat er es denn nicht begriffen!?“ dachte ich. Solche Szenen spielen sich wahrscheinlich gerade täglich an Tausenden Schweizer Telefonen ab. Wir wissen einfach nicht mehr, wie wir uns verhalten sollen. Treffen von vier Personen sind erlaubt, ausdrücklich verboten erst solche ab zehn Personen. Aber zehn Personen – das scheint mir im Moment geradezu frivol viel. Was, wenn sich an einem solchen Treffen drei der zehn anstecken und auch nur einer in die Intensivstation muss?

„Ich brauche zehn Minuten Bedenkzeit“, liess ich mich verlauten. Aber schon da wusste ich: Ich hatte keine Chance. Herr T. wollte seine Freunde sehen, und er wollte mich dabeihaben. Covid-19? Verschwand hinter einer Logik der Freundschaft und der herzlichen Umgangsformen, die so alt und mächtig ist, dass sie wahrscheinlich im Stammhirn sitzt und vom Covid-Alarm im Neocortex noch gar nichts mitbekommen hat. Ich brauchte gar nicht zu diskutieren. Herr T. sagte zu, und bei uns hing der Haussegen ein bisschen schief. Ich bin sonst keine passiv-aggressive Ehefrau. In rund 50 Prozent aller Differenzen kann ich mich durchsetzen. Aber diesmal fehlte mir einfach die moralische Stärke.

Ich ging also mit hin. Viele werden jetzt denken: „Das muss aber ein sehr ungemütlicher Abend gewesen sein unter solchen Umständen.“ Das Gegenteil war der Fall. Es war total herzerwärmend. Auch das ist die Logik der Freundschaft und der guten Umgangsformen: Ist man erst mal da, beerdigt man das Kriegsbeil und trägt zum Gelingen des Abends bei. Der Junior von Lydia und Xaver kam zum Essen dazu, ein junger Mann, der lustige Sachen erzählte und einen Schnupfen hatte. Wenn er sich schneuzte, schauderte ich ein bisschen. Aber ich stand nicht auf, hielt keine Moralpredigt und stürmte nicht hinaus. Es war ein wunderbarer Abend, und das Wort „Coronavirus“ fiel genau zweimal.

Am nächsten Morgen hatte ich Halsschmerzen. Aber es waren wohl diese Halsschmerzen, die wir alle im Moment ständig haben. Wenn man keine Zeit hat, an sie zu denken, gehen sie weg. Sonst haben wir bis heute keine Symptome.

Warum ich diese Geschichte erzähle? Weil sie illustriert, wie unzulänglich die hierzulande so oft beschworene Eigenverantwortung ist. Herr T. und ich sind vergleichsweise behördengläubige Leute – und selbst wir geraten in Situationen, in denen es einfach mit uns durchbrennt. Man stelle sich Leute vor, die dieses ganze Corona-Gedöns sowieso nicht so ernst nehmen. Die gibt es hierzulande in beträchtlicher Zahl. Und sie können weiter überall feiern. Irgendwann erwischt es sie dann halt, und sie geben das Virus weiter. Wie lange dauert es noch, bis wir Regeln bekommen, die wir ernst nehmen müssen?

* „Wir wollen doch jetzt nicht zu leben aufhören.“

Hüsteln im Korridor

Letzte Woche waren Kaja und ich meist die einzigen, die nach 17 Uhr noch im Büro waren. Kaja ist in einer besonders perfiden Situation. Wegen Corona-Sparmassnahmen muss sie pro Woche einen aufgelaufenen Ferientag einziehen. Sie bekommt Hilfe, aber es reicht nicht. Meist erledigt sie jetzt die Arbeit von vier Tagen einfach in drei. Ausserdem funktionierte ihr Laptop nicht, deshalb kein Homeoffice. Und ich habe halt viel zu tun im Moment. Aber es werden wieder andere Zeiten kommen.

Kaja malocht alleine drüben im grossen Büro Ost, wo zu besten Zeiten vier Leute sitzen. Ich maloche in meinem Einzelbüro. Zum Plaudern haben wir, eigentlich gute Freundinnen, keine Zeit. Aber abends, wenn ich fertig bin, führt mein Weg durch das Büro Ost, und ich sage ihr auf dem Weg hinaus tschüss.

Zweimal hat sie sich letzte Woche fast zu Tode erschrocken, als ich hereinkam. Sie hatte sich im Osttrakt allein gewähnt und überhaupt nicht mit mir gerechnet.

Am Freitag hatte ich dann dazugelernt. Um sie vorzuwarnen, hüstelte ich leise im Korridor, bevor ich das Büro Ost betrat.

Als ich hereinkam, stand sie da, Angst in den Augen und eine Spur Missbilligung. Ich wusste sofort: Ich hatte einen noch schlimmeren Fehler gemacht. Ich begann laut zu lachen: „Nein, ich habe kein Covid-19! Ich habe nur gehüstelt, damit Du nicht erschrickst.“

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