Wofür ich dankbar bin

Blumenstrauss_2020
Zu Weihnachten verschenkt Herr T. jeweils opulente Blumensträusse. Er ist ein krisentauglicher Ehemann, so viel weiss ich heute.

2020 war ein Krisenjahr, das heisst Stress, Angst, für viele Krankheit oder Tod. Aber es hat uns auch gezeigt, was in unserem Leben funktioniert und wo wir uns einen Ruck geben müssen.

1) Herr T. und ich sind zur Stunde symptomfrei. Aus unserer näheren Verwandtschaft hatte einzig meine Nichte Marie-Christiane Covid-19. Sie ist 19-jährig und ansonsten kerngesund. Ganz harmlos sei das Virus nicht, meldet sie. Noch heute, sechs Wochen nach Ende der Isolation, habe sie manchmal Müdigkeits-Attacken. „Dann muss ich mich ein halbes Stündchen hinlegen.“ Aber sie ist klug und herzlich wie früher.

2) Meine Ehe hat gehalten. Kurz vor dem ersten Lockdown sagte mein Mann zu mir: „Wenn Du jetzt immer zu Hause bist, werde ich wahnsinnig.“ Das war nur halb ironisch gemeint. Er neigt zu einem gewissen Schlendrian, ich folglich zum Herumkeifen. Ich merkte: Wenn so ein Lockdown funktionieren soll, muss ich mich zusammennehmen. Ich konnte das, nicht immer, aber häufiger. Trotz brandschwarzem Stress im Homeoffice erlebten wir auch goldene Stunden zu zweit. Und er kochte ganz wunderbar.

3) Ich habe meinen Job noch. Im ersten Lockdown waren wir auf Kurzarbeit. Eine unserer Haupteinnahmequellen meines Geschäfts sind Inserate, und die versiegte während des Lockdowns einfach. Es fanden ja keinerlei Veranstaltungen mehr statt, und niemand mehr wollte für irgendetwas Werbung machen. Die Zeichen standen auf Weltuntergang. Aber das Weihnachtsgeschäft mit den bunten Inseraten für verbilligte Schinkli und Sekt lief dann leidlich. Im Moment haben wir im Geschäft eine andere Art von Weltuntergang: täglich drei, manchmal dreieinhalb Seiten Todesanzeigen (in normalen Zeiten sind es zwei, höchstens drei). Nein, dafür bin ich nicht dankbar. Täglich halte ich inne und studiere sie bedrückt.

4) Während dieser Monate haben wir alle herausgefunden, welche Menschen für uns wirklich zählen. Es sind dies für mich vor allem auch langjährige Freundinnen und Freunde: Andreaszwei, Helga, Kaja, Paulina, Herr Hooligan. Gemeinsam haben wir Corona gelernt, die Lage erörtert, einander Links geschickt. Wir sind in Kontakt geblieben, haben gelernt, weniger nachtragend zu sein. Wir haben herausgefunden, wie man auch im Lockdown risikoarme Spaziergänge macht. Meine besten Freundinnen und Freunde und ich, wir sind fast alle Risikopatienten. Mit Isolation umzugehen, haben wir schon vor Corona gelernt. Ich selbst habe Corona sogar ohne Telefon gekonnt. Dabei geholfen haben zahlreiche Messenger-Dienste: Whatsapp, Twitter, Wire, SMS, E-Mail und die gute alte Post.

5) Ich bin froh darum, auch ohne ständige Cüpli-Partys, Sport-Events und Singabende gut leben zu können. Herr T. kann das auch, und auch mein Freund Andreaszwei. Wir sind alle etwas introvertiert. „Das ist jetzt ein evolutionärer Vorteil“, scherze ich jeweils. Ich gestehe, Andreaszwei kann das noch besser als Herr T. und ich. Wir sind auch schon Risiken eingegangen und habe Freunde besucht, sehenden Auges. Von daher gilt immer: Zur Stunde symptomfrei und dankbar.

Doch nichts ist für die Ewigkeit gemacht. Die neue Virus-Variante ist auch in der Schweiz. Als ich das im Newsportal las, war mir, als hörte ich, wie die Titanic den Eisberg schrammt. Wer weiss, wie 2021 wird. Meine Gedanken sind bei jenen Menschen, die Angehörige an das Virus verloren haben. Sie sind bei jenen, die ihre Arbeit oder ihr Geschäft verloren haben. Möge 2021 ein gutes Jahr werden, oder wenigstens ein Jahr der Hoffnung. Auch für Euch alle, meine Leserinnen und Leser!

Fünf Bücher für das Jahr 2020

Sorgfältig liste ich in meiner Agenda jedes Buch auf, das ich gelesen habe. Wenn ich alte Agenden durchblättere, staune ich manchmal darüber, wie viel ich vergessen habe. Aber 2020 ragen aus den rund 40 gelesenen Titeln fünf heraus, die meine Gedanken zum Teil auch nach einem halben Jahr noch fast täglich beschäftigen. Die fünf besten Bücher meines Lesejahres 2020.

Wenn ich lese, ist es, als würde ich ein fremdes Haus betreten und für kurze Zeit dort wohnen. Oft zur wohltuenden, kleinen Flucht aus meinem eigenen Zimmer. Manchmal aber suche ich in diesen fremden Wohnungen Antworten für mein eigenes Leben. 2020 war und ist ein Jahr wie gruseliger Science Fiction. Vielleicht deshalb spielten Dystopien in diesem Jahr für mich eine besondere Rolle. Es war, als hätte ich schreckliche Orte aufgesucht, um dort geistig für das Schlimmstmögliche zu trainieren. Aber zuvorderst auf meiner Liste steht ein Klassiker der Philosophie:

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Sören Kierkegaard: „Entweder – oder“. Warnung: Dieses Buch hat 900 Seiten. Es zu lesen ist eine Geduldsprobe. Doch mir gab und gibt es Antworten – keine endgültigen zwar. Aber solche, von denen aus ich weiterdenken kann. Es ist an sich ein Buch für junge Leute. Doch eignet es sich auch für 55-Jährige, die über ihre Lebensbilanz nachdenken und sich fragen, was noch kommt. Für die eilige Leserin drängen sich einzelne Kapitel auf, die man gut auch separat lesen kann. Pflichtlektüre für 17-jährige Frauen sollte das „Tagebuch des Verführers“ sein, ein 70-seitiges, atemberaubend spannendes Kapitel aus der Mitte des Buches. Es ist die grausamste Liebesgeschichte, die ich je gelesen habe. Der Erzähler verachtet Frauen. Aber er gefällt sich in der Rolle des Don Juan, der sich ein wohlbehütetes Mädchen ins Bett manipulieren will. Die Geschichte heilt uns Frauen auf die harte Tour von der Illusion, dass alle Männer, in die wir uns verlieben, im Grunde unser Bestes wollen. Antworten für das Krisenjahr 2020 hält das Kapitel „Ultimatum“ am Schluss des Buches bereit.

Daniel Defoe: „Die Pest zu London“ („A Journal of the Plague Year“). Während des Shutdowns im Frühling zog ich meine vergilbte Penguin-Ausgabe aus dem Gestell. Sie wurde zu meinem Vademecum für die Corona-Pandemie. Im April fand ich die Parallelen zwischen damals und heute sinnfällig: die leeren Strassen, die Obsession der Stadtbewohner mit Fallzahlen. In letzter Zeit denke ich oft an jene Sätze, die Defoe sinngemäss mehrmals wiederholt. „Niemand arbeitete mehr, es war unmöglich. Dennoch brach kein Massenelend aus, weil die Reichen und auch der Stadtrat von London äusserst spendabel waren.“ Seit Oktober vergeht kein Tag, an dem ich sie nicht unserem rechtsnationalen Finanzminister Ueli Maurer zubrüllen möchte. Vielleicht müsste man Herrn Bundesrat Maurer noch sagen, dass die grosse Stadt London schliesslich wirtschaftlich gestärkt aus der Krise hervorging.

George Orwell: „1984“. Schriftsteller sind keine Propheten und keine Profis in politischer Kommunikation. Sie sind Geschichtenerzähler. Sie bauen ihre Häuser aus den Dingen, die gerade herumliegen – und jede Lesegeneration kann sie auf neue Art bewohnen, wenn sie es denn will. Im echten Jahr 1984 sah Orwells 1948 veröffentlichte Dystopie wie ein verfallener Bunker aus vergangenen Kriegen aus. Der Stalinismus, von dem der Autor sich hatte inspirieren lassen, war im Westen nie aktuell geworden. Einen gefährlichen Überwachungsstaat gab es damals in der DDR – im Westen kannte man sowas nicht (glaubten wir jedenfalls – erst fünf Jahre später flogen die ziemlich dilettantischen „Staatsschutz“-Versuche in der Schweiz auf). Heute wandern wir im von George Orwell geschaffenen Bunker herum und sehen Bauteile, die jenen unserer eigenen Zeit verblüffend ähnlich sind. Wenn Protagonist Winston Smith etwa die „Doppelsprech“-Strategie seines Regimes analysiert, beginnen wir zu verstehen, warum Donald Trump so unverfroren lügt. Und wieder und wieder musste ich beim Lesen an das Wissen denken, das irgendwelche Computer irgendwo über mich speichern. Mir wurde klar: Wir müssen alles tun, damit dieses Wissen nie, wirklich niemals, in die Hände der falschen Politiker gerät. Oder ist es dafür schon zu spät?

Kai Strittmatter: „Die Neuerfindung der Diktatur“. Das hier ist kein Roman, sondern ein Sachbuch – es dreht sich um China unter Xi Jinping. Dort sind die Möglichkeiten der totalen Überwachung bereits in falsche Hände geraten. Und das ist nicht nur gefährlich für die Chinesen, sondern für uns alle. Schrecklich, zuweilen aber auch geradezu amüsant sind die ersten Kapitel. Darin erklärt Strittmatter, wie die Zensur der sozialen Medien in China funktioniert. Wie die Zensoren den Gebrauch von Wörtern verbieten – und wie kritische User die Zensur mit Synonymen zu unterwandern versuchen. Die lassen sich nicht so leicht unterkriegen, die Chinesen, denkt man. Aber Strittmatter zerstört auch diese Illusion: Die Mehrheit der Menschen im Reich der Mitte ist genauso unterhaltungsgeil wie wir im Westen – und die allermeisten sind gehorsam und kooperativ.

Margaret Atwood: „Die Zeuginnen“. Ebenfalls eine Dystopie, aber auch ein Buch der Hoffnung – und es liest sich wie ein Krimi. In diesem Buch sind Frauen rechtlose Kleiderständer in blauen, roten oder grauen Säcken im radikal christlichen Gottesstaat Gilead. Sie werden zwangsverheiratet, überwacht und bei Ungehorsam drakonisch bestraft. Das Buch ist die Fortsetzung von Atwood’s Roman „Der Report der Magd“, in dem eine Frau zu fliehen versucht. In „Die Zeuginnen“ erkennen drei Frauen 15 Jahre später, dass sie so nicht mehr leben wollen. Aber wird der Ausbruch gelingen? Das Buch ist nicht nur ein Beitrag zur #metoo-Debatte. Es erlaubt auch eine wohltuende, kleine Flucht aus dem eigenen Zimmer.

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