Über das Sterben

In der Schweiz starben in den letzten Monaten über 7000 Menschen an Covid-19. Wir denken hierzulande jetzt öfter über den Tod nach, auch ich. Aber ich habe darüber nichts als ein paar Fragmente.

Als meine Grossmutter Mitte achtzig war, hatte sie ein Schlägli*. Sie merkte es, weil sie den rechten Arm nicht mehr bewegen konnte. Sie lebte allein, Grossvater war lange tot, aber sie hatte eine liebevolle Beziehung zu Onkel Eugen. Sie nahm mit der linken Hand den Telefonhörer, klemmte ihn zwischen dem linken Ohr und der Schulter ein, tippte Eugens Nummer und schilderte ihm die Situation. Sofort schickte Eugen die Ambulanz vorbei.

Grossmutter überlebte, war aber halbseitig gelähmt. Ins Heim wollte sie auf keinen Fall. Sie blieb in ihrer vertrauten Wohnung, die sich innert weniger Jahre in ein übelriechendes Loch voller Fliegen verwandelte – trotz Spitex, Putzfrau und endlosen Waschtagen meiner Mutter. Wenn ich meine Grossmutter besuchte, sagte sie immer: „Weisst Du, damals wäre ich ganz leicht gestorben. Sterben ist ganz einfach.“ Sie sagte es ohne Bedauern. Sie wollte mir nur sagen, dass ich keine Angst haben solle. Sie wollte mich immer beschützen, Gott hab sie selig. Sie starb 2010, fast 90-jährig. Die letzten Tage verbrachte sie dann doch im Heim. «Ich will noch nicht sterben», soll sie zu Eugen gesagt haben, als die Pfleger sie in das Fahrzeug hievten, das sie dorthin brachte.

Meine Grossmutter war eine starke Frau, und wenn ich Angst hatte, habe ich mich manchmal mit dem Gedanken an diesen einen Satz beruhigt: «Weisst Du, Sterben ist ganz einfach.» Heute denke ich: «Aber wenn es so einfach war, warum hat sie dann den Telefonhörer in die Hand genommen und Rettung geholt? Warum hat sie nicht den Weg ins grosse Unbekannte gewählt, sondern das Vertraute, das Leben? Ich weiss es nicht, aber ich ahne: Ich würde dasselbe tun.

Gestern sass ich meinen Eltern gegenüber. Wir diskutierten über das Coronavirus. Ich bin für weitreichende Massnahmen. Meine Mutter, 79, wird etwas laut und sagt: «Also, ich will nicht streiten mit Dir. Aber meiner Meinung nach gehen die mit diesen Massnahmen einfach zu weit! Jetzt machen sie wieder die Läden zu! Ich meine: Immer sagen sie am Fernsehen, die Leute in den Altersheimen würden sterben wie die Fliegen, und das könne man nicht dulden. Aber schau doch mal, was diese alten Leute zum Teil noch für eine Lebensqualität haben!»

Ich sass verlegen da. Ich meine: Am Tisch sass auch mein Vater, bald 82. Seit Juni hat er abartige Schmerzen, er hat Krebs. Schon zum zweiten Mal versucht er sich an einer Chemotherapie, diesmal nützt es vielleicht.

Die Situation war merkwürdig surreal. Ich wusste nicht einmal, was ich denken, geschweige denn, was ich sagen sollte. Fast jede Aussage wäre besetzt gewesen mit Tabus oder Streitpotenzial, alles ungeeignet für den Krankenbesuch bei Kaffee und Kuchen. Ich schielte nachdenklich in die Maske, die ich bei ihnen jetzt immer trage und vertrat meine Meinung zur helvetischen Corona-Politik mit Beispielen, die nicht direkt die Lage im Hause Frogg tangierten.

Mein Vater ist immer ein fügsamer Mensch gewesen. Seine Lebensqualität ist im Moment bescheiden, um es vorsichtig auszudrücken. Und trotzdem: Wenn es ernst wird, tut er, was die Ärzte sagen. Er macht noch eine Therapie. Er wählt das Leben.

Ich zog ein stilles Fazit. Dass unsere Gesellschaft den Tod verdrängt? Ach Gott, das halte ich für ein albernes Klischee. Fakt ist: Sterben ist meist qualvoll, kein Wunder, dass niemand daran denken will. Vielmehr ist es so: Wenn der Tod naht, lügen wir uns in die Tasche. Die anderen dürfen sterben, ja. Wir nicht, auch wenn wir etwas anderes behaupten. Wir mögen unsere Würde verlieren, aber die allermeisten von uns wählen dennoch das Leben. Solange es irgendwie geht.

*Schweizerdeutsch für Hirnschlag.

Was dumme Leute über Schwerhörige sagen

Die Schriftstellerin Susan Sontag entlarvte unfaire Metaphern über Kranke und Krankheiten (Bild: Richard Avedon)

Jede chronisch kranke Person in der westlichen Hemisphäre kennt das Problem. Dumme Leute denken über sie: „Sie ist krank, weil sie eine negative Lebenseinstellung hat.“

Sie sagen auch: „Sie ist krank, weil sie zu wenig stark ist, ihr Leben zu ändern, um die Krankheit zu besiegen.“ Mit anderen Worten: Sie ist selbst schuld. Früher habe ich noch regelmässig über meine chronische Krankheit gebloggt. Damals habe ich solche oder ähnliche Statements oft in meinen Kommentaren lesen dürfen. Unterfüttert wurden sie auch mal mit Verweis auf das Buch „Krankheit als Weg“ von Rüdiger Dahlke und Thorwald Dethlefsen. Die beiden schreiben zum Beispiel: „Taub wird nur der, der für seine Innere Stimme schon lange taub ist.“

„Bin ich selbst schuld? Kann ich etwas an mir ändern, damit es mir besser geht?“ Mit diesen Fragen habe ich mich jahrelang beschäftigt. Ich habe Therapien gemacht und intensiv auf jede erdenkliche Regung gehorcht, die möglicherweise meine ungehörte innere Stimme hätte sein können. Nach zehn Jahren und fast vollständiger Ertaubung kann ich zusammenfassen: Solche Theorien sind Bockmist. Sie haben mein Leben wahrscheinlich schwieriger gemacht als es ohnehin schon war.

Seit wenigen Tagen kann ich den „Autoritäten“ Dahlke und Dethlefsen nun eine äusserst glaubwürdige literarische Stimme entgegenhalten. Ich habe „Krankheit als Metapher“ von Susan Sontag gelesen. Sontag war eine Ikone der New Yorker Kulturszene des ausgehenden 20. Jahrhunderts und erkrankte in den siebziger Jahren selbst an Brustkrebs. Über die Psychologisierung von Krankheiten findet sie klare Worte: „Theorien darüber, dass Krankheiten durch mentale Zustände ausgelöst und durch Willenskraft überwunden werden können, sind immer ein Gradmesser dafür, wie wenig man über das physische Terrain einer Krankheit weiss.“ Im 17. Jahrhundert habe man noch geglaubt, dass ein glücklicher Mensch die Pest nicht bekommen könne. Als man dann mehr wusste über Bakterien und Viren, seien solche Theorien verschwunden. Beziehungsweise: Sie hätten sich auf Krankheiten wie Krebs verlagert, über die man noch wenig wusste. Chronische Krankheiten wie Morbus Menière darf man sicherlich zu diesen Krankheiten zählen – auch wenn Susan Sontag sie nicht explizit erwähnt.

Sontag erforscht dann die Metaphern, die mit den Krankheiten wie Krebs einhergingen. Das ist inspirierende Lektüre und verleitet dazu, einen Blick auf die Metaphern der Taubheit zu werfen. Nehmen wir zum Beispiel den Satz von Dethlefsen: „Taub wird nur der, der für seine Innere Stimme schon lange taub ist.“ Das ist nur eine leicht gekünstelte Art zu sagen, dass der schwerhörige Mensch ein zerstörerisches Verhältnis zu sich selbst hat. Also das, was die Autoren über jeden kranken Menschen sagen, einfach ausgeschmückt mit etwas Poesialbumssprache.

Schauen wir eine andere, häufig verwendete Metapher von Taubheit an: „Er stiess mit seinem Anliegen auf taube Ohren.“ Sie ist in den Medien gebräuchlich, wenn einfache Bürger berechtigte Anliegen bei Machthabern nicht durchsetzen können. Diese Machthaber sind politische Amtsträger oder Journalistinnen, die sich verstecken, keine Zeit haben, desinteressiert oder rücksichtlos sind. Machthaber also, die ein ignorantes, ja, tyrannisches Verhältnis zum in der Regel hörenden Untertanen haben (verbreitete Redensarten werden ja vom Mainstream gemacht, und dieser besteht aus mehrheitlich gut hörenden Menschen).

Taubheit wird also nicht als Zumutung für die von Taubheit betroffene, sondern als Knechtung der hörenden Person verstanden.

Das offenbart zwar ein überraschend gutes Verständnis des Mainstreams für die Natur einer kommunikationsbehindernden Krankheit. Denn, ja: Taubheit behindert nicht nur die taube Person, sondern auch ihre Gesprächspartnerin. Nur finden sich schwerhörige Menschen selten in einer Machtposition. Meist hecheln sie in Gesprächen vielmehr angestrengt hinterher, voller Angst, etwas Wichtiges zu verpassen oder ganz den Faden zu verlieren. Ausserdem ist es ein Affront gegenüber meinen schlecht hörenden Kolleginnen und Kollegen, die ich grossmehrheitlich als sehr empathische Menschen erlebe.

Und: Es hat nach meiner Erfahrung auch schon geholfen, wenn sich von Machthabern übergangene Bürger mal gefragt haben: „Was könnte ich anders machen, damit ich gehört werde?“ Dasselbe gilt auch für Hörende, wenn sie mit schlecht Hörenden sprechen.

Susan Sontag: „Krankheit als Metapher und Aids und seine Metaphern“, Fischer Taschenbuch, 2003. Die Zitate hier im Blog habe ich aus der englischen Originalausgabe selbst übersetzt.

Fassungslos am Dreikönigstag

Auf einem Winterspaziergang fand ich am 6. Januar meinen glücklichsten Moment und mein eigenes, kleines Capitol.

Am Dreikönigstag hatte ich Streit mit meinem Mann – und sah kurz vor dem Zubettgehen eine der schlimmsten Nachrichten der letzten zwölf Monate.

Der Dreikönigstag ist ein Feiertag für Herrn T. und mich. Am Dreikönigstag vor 21 Jahren wurden wir ein Paar, weshalb wir den Dreikönigskuchen jedes Jahr auch in verschmitzter Erinnerung an unseren ersten Kuss verzehren. Nicht diesmal. Ich hatte den Kuchen zwar schon am Vorabend eingekauft. Aber am Morgen musste Herr T. früh aufbrechen. Er war bei der Serenissima zum Mittagessen eingeladen. Die Serenissima ist fast neunzig Jahre alt, die Seele einer jeden Party und fit wie ein Turnschuh. Auch ich war eingeladen, und ich wäre im Prinzip mitgegangen. Die Regel des Bundesrates für die Festtage lautete ja: „Maximal zehn Personen aus zwei Haushalten, Abstand halten und häufig lüften.“ Ich finde schon das fahrlässig, quasi die oberste Grenze. Aber die Serenissima hat meinen Schwiegervater in seinen letzten Lebensjahren sehr glücklich gemacht. Deshalb halten wir sie in Ehren und treffen sie ein- oder zweimal im Jahr.

Kurz vor dem Treffen sagte sie am Telefon zu Herrn T.: Nein, sie werde sich nicht gegen Covid-19 impfen lassen. „I bi doch kai Versuechskaninchen. I ha mis Leba glebt. Wenn’s vorbi isch, isch’s vorbi.“* Mir sträubten sich die Nackenhaare über so viel Ignoranz. Von früheren Diskussionen mit ihr weiss ich: Sie denkt, Krankheiten seien die Folge einer negativen Lebenseinstellung – mich als Menière-Patientin hat das schon früher gallig gemacht. Jetzt finde ich es geradezu lebensbedrohlich. „Bestimmt hat sie über die Festtage Dutzende von Leuten getroffen“, sagte ich zu Herrn T., „Vergiss es, ich komme nicht mit.“ Ich zog mich höflich aus der Affäre, aber Herr T. wollte gehen. Er versteht das Prinzip der exponentiellen Ausbreitung einer Krankheit sehr wohl. Aber wenn er zum Essen eingeladen wird, stellt er auf Durchzug.

Ich liess ihn gehen und machte einen Spaziergang. In einer leicht verschneiten, fast menschenleeren Landschaft fand ich Ruhe und ein liebliches Gartenhäuschen mit einer Kuppel.

„Und, wie war es? Habt Ihr Abstand gehalten?“ fragte ich ihn, als er gegen 18 Uhr zurückkam.

„So gut es eben ging“, sagte er. Es seien noch zwei weitere ältere Damen zu Besuch dagewesen.

Ich zog die Augenbrauen hoch. „Also Personen aus vier Haushalten?“ fragte ich. Herr T. nickte.

„Was hätte ich denn tun sollen?“ fragt er. “ Etwa Davonlaufen?“

Bei mir brach das leicht cholerische Temperamt meines Grossvaters, Eugen Walholz, durch. „Klar doch!“ sagte ich heftig. „Diese Kuh bringt ja alle ihre Gäste in Lebensgefahr! Du gehörst jetzt in Quarantäne, und ich bin einfach nur dankbar, wenn Du in zehn Tagen gesund bist.“

Die Quarantäne sah dann so aus: Herr T. sass im Wohnzimmer und sah fern. Ich sass in meinem Zimmer ein und schaute „Bridgerton“ auf Netflix. Ich konnte etwas Eskapismus gut gebrauchen. Dazu chattete ich kurz mit meiner Freundin Helga. Kurz vor 22 Uhr trat ich nochmals aus meinem Zimmer, um gründlich durchzulüften und Herrn T. gute Nacht zu sagen. Da sah ich auf der Mattscheibe die Bilder aus dem Capitol in Washington. Herr T. und ich diskutierten aufgeregt, aber mit Abstand. Richtig einordnen liess sich das alles noch nicht. Ganz unerwartet kam es nicht, ausser offenbar für die Polizei in Washington. Und doch fühlte ich, wie mir die Welt um die Ohren flog.

Um 21:55 Uhr schrieb ich im Chat an meine Freundin: „Hast Du gesehen, Washington??!!“ und drei fassungslose Emojis.

Dann ging ich ins Bad, machte ein zweites Zahnglas bereit, um unsere Zahnbürsten zu trennen, und weinte ein bisschen.

*“Ich bin doch kein Versuchskaninchen. Ich habe mein Leben gelebt. Wenn’s vorbei ist, ist’s vorbei.“