Fassungslos am Dreikönigstag

Auf einem Winterspaziergang fand ich am 6. Januar meinen glücklichsten Moment und mein eigenes, kleines Capitol.

Am Dreikönigstag hatte ich Streit mit meinem Mann – und sah kurz vor dem Zubettgehen eine der schlimmsten Nachrichten der letzten zwölf Monate.

Der Dreikönigstag ist ein Feiertag für Herrn T. und mich. Am Dreikönigstag vor 21 Jahren wurden wir ein Paar, weshalb wir den Dreikönigskuchen jedes Jahr auch in verschmitzter Erinnerung an unseren ersten Kuss verzehren. Nicht diesmal. Ich hatte den Kuchen zwar schon am Vorabend eingekauft. Aber am Morgen musste Herr T. früh aufbrechen. Er war bei der Serenissima zum Mittagessen eingeladen. Die Serenissima ist fast neunzig Jahre alt, die Seele einer jeden Party und fit wie ein Turnschuh. Auch ich war eingeladen, und ich wäre im Prinzip mitgegangen. Die Regel des Bundesrates für die Festtage lautete ja: „Maximal zehn Personen aus zwei Haushalten, Abstand halten und häufig lüften.“ Ich finde schon das fahrlässig, quasi die oberste Grenze. Aber die Serenissima hat meinen Schwiegervater in seinen letzten Lebensjahren sehr glücklich gemacht. Deshalb halten wir sie in Ehren und treffen sie ein- oder zweimal im Jahr.

Kurz vor dem Treffen sagte sie am Telefon zu Herrn T.: Nein, sie werde sich nicht gegen Covid-19 impfen lassen. „I bi doch kai Versuechskaninchen. I ha mis Leba glebt. Wenn’s vorbi isch, isch’s vorbi.“* Mir sträubten sich die Nackenhaare über so viel Ignoranz. Von früheren Diskussionen mit ihr weiss ich: Sie denkt, Krankheiten seien die Folge einer negativen Lebenseinstellung – mich als Menière-Patientin hat das schon früher gallig gemacht. Jetzt finde ich es geradezu lebensbedrohlich. „Bestimmt hat sie über die Festtage Dutzende von Leuten getroffen“, sagte ich zu Herrn T., „Vergiss es, ich komme nicht mit.“ Ich zog mich höflich aus der Affäre, aber Herr T. wollte gehen. Er versteht das Prinzip der exponentiellen Ausbreitung einer Krankheit sehr wohl. Aber wenn er zum Essen eingeladen wird, stellt er auf Durchzug.

Ich liess ihn gehen und machte einen Spaziergang. In einer leicht verschneiten, fast menschenleeren Landschaft fand ich Ruhe und ein liebliches Gartenhäuschen mit einer Kuppel.

„Und, wie war es? Habt Ihr Abstand gehalten?“ fragte ich ihn, als er gegen 18 Uhr zurückkam.

„So gut es eben ging“, sagte er. Es seien noch zwei weitere ältere Damen zu Besuch dagewesen.

Ich zog die Augenbrauen hoch. „Also Personen aus vier Haushalten?“ fragte ich. Herr T. nickte.

„Was hätte ich denn tun sollen?“ fragt er. “ Etwa Davonlaufen?“

Bei mir brach das leicht cholerische Temperamt meines Grossvaters, Eugen Walholz, durch. „Klar doch!“ sagte ich heftig. „Diese Kuh bringt ja alle ihre Gäste in Lebensgefahr! Du gehörst jetzt in Quarantäne, und ich bin einfach nur dankbar, wenn Du in zehn Tagen gesund bist.“

Die Quarantäne sah dann so aus: Herr T. sass im Wohnzimmer und sah fern. Ich sass in meinem Zimmer ein und schaute „Bridgerton“ auf Netflix. Ich konnte etwas Eskapismus gut gebrauchen. Dazu chattete ich kurz mit meiner Freundin Helga. Kurz vor 22 Uhr trat ich nochmals aus meinem Zimmer, um gründlich durchzulüften und Herrn T. gute Nacht zu sagen. Da sah ich auf der Mattscheibe die Bilder aus dem Capitol in Washington. Herr T. und ich diskutierten aufgeregt, aber mit Abstand. Richtig einordnen liess sich das alles noch nicht. Ganz unerwartet kam es nicht, ausser offenbar für die Polizei in Washington. Und doch fühlte ich, wie mir die Welt um die Ohren flog.

Um 21:55 Uhr schrieb ich im Chat an meine Freundin: „Hast Du gesehen, Washington??!!“ und drei fassungslose Emojis.

Dann ging ich ins Bad, machte ein zweites Zahnglas bereit, um unsere Zahnbürsten zu trennen, und weinte ein bisschen.

*“Ich bin doch kein Versuchskaninchen. Ich habe mein Leben gelebt. Wenn’s vorbei ist, ist’s vorbei.“

17 Gedanken zu „Fassungslos am Dreikönigstag“

    1. Danke für das Kompliment! Ja, bei Herrn T. ist zur Stunde alles tiptop, soviel ich weiss. Ich warte jetzt noch zwei, drei paar Tage ab, dann gebe ich Entwarnung. Es ist ja keine strenge Quarantäne nach Vorgaben des Bundes.

    1. Ja, da hast Du teilweise recht. Ich gehe ja auch jeden Tag ins Büro. Aber dort arbeite ich alleine in einem Raum und alle ziehen Masken an, sobald sie in den Gängen umhergehen. Auch beim Einkaufen tragen hier alle Masken. Es geht hier nicht um Strenge, ich will ihn nicht bestrafen. Wir reden freundlich miteinander, wie sonst auch. Aber man darf die Fakten nicht aus den Augen verlieren: Wenn vier Leute aus vier Haushalten drei Stunden lang in einem geschlossenen Raum sitzen, dann ist die Ansteckungsgefahr relativ hoch.

        1. Ja, das stimmt. Jetzt ist es in der Schweiz so, dass wir 8,5 Millionen Menschen und über 3000 Neuansteckungen täglich haben (nur die registrierten). Irgendwo müssen die ja passieren. Ich lese, dass das in überwiegender Häufigkeit in geschlossenen Räumen passiert, wo Menschen nahe beieinander sitzen. Ich bin da vielleicht etwas radikal, aber aus bitterer Erfahrung weiss ich, dass man keine Garantie hat, gesund zu bleiben. Auch wenn man sich nicht vorstellen kann, wie es ist, krank zu werden.

          1. wobei man auch, was die gefährlichkeit einer covid-19 infektion angeht, auf dem teppich bleiben sollte – selbst bei einer etwas höheren letalitätsrate als bei den alljählichen grippeerkrankungen. bei der risikoeinschätzung sollten wir auch den vergleich zu anderen alltäglichen risiken heranziehen.

          2. Ich mache ungern Spielchen mit einer Covid-19-Infektion. Die Leute erzählen zum Beispiel von schweren und lang dauernden Schwindelanfällen, auch bei relativ leichten Verläufen. Für sowas wäre ich als Menière-Patientin besonders anfällig, und ich weiss auch, was das heisst (werde es hier aber nicht allzu anschaulich schildern, denn es involviert die Absonderung von recht unappetitlichen Körperflüssigkeiten bei gleichzeitig oft totaler Hilflosigkeit). Damit möchte ich meinen Mann, wenn möglich, nicht belasten. Erst recht nicht, wenn er selber Covid-19 hätte.

          3. ich sprach nicht von spielchen, sondern einer gesunden risiko-einschätzung. es geht um das vermeiden irrationaler ängste… aber auch um das leben mit ganz realen ängsten.

          4. Was ist eine „gesunde Risikoabwägung“ in diesem Fall? In der Schweiz gab es in der vergangenen Woche 271 neue Fälle pro 100000 Einwohner. Ich bin nicht gut in Kombinatorik. Vielleicht kannst Du mir ausrechnen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass eine der drei alten Damen das Virus in sich trug?

          5. Ich arbeite in der Tumordokumentation… Ich kann dir sagen, dass die Corona-Fallzahlen geradezu lächerlich gering gegenüber den auftretenden Krebserkrankungen und den krebsbedingten Sterbefällen sind.

          6. Ok, das nehme ich Dir gerne ab. Allerdings sind die Fallzahlen bei uns in der Schweiz erheblich höher als bei Euch, und das seit längerer Zeit. In meiner weiteren Verwandtschaft hatten seit Oktober drei Personen Covid-19, bei uns im Büro waren es deren zwei. Bei Krebs sind es in der weiteren Verwandtschaft zwei, im Büro niemand (soweit mir bekannt ist).

          7. ja, jeder nimmt für sich seine eigene risikobeurteilung vor, aufgrund seiner wahrnehmungen und seiner ängste… einschätzungen können da von mensch zu mensch erheblich divergieren – und das kann es im zusammenleben schwierig machen.

  1. Du hast ganz richtig gehandelt, deinen Mann in Quarantäne zu schicken. Ich glaube zwar auch nicht, dass etwas passiert sein wird, aber sicher ist sicher. Euch alles Gute 🍀

  2. Sicher ist sicher – genauso verlangt es das Leben, zu handeln. Letztlich jedoch lässt es sich vor dem Schicksal nicht ausweichen: Die Schöpfung hat alles fest im Griff, alles bestimmt der Schöpfer.
    Kurzum, es kommt wie es muss … Alles Gute weiterhin auch von mir! 🐞🕷🍄

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