Jungsein und die Pandemie


Frau Frogg (hier 17jährig). Ich mag mir gar nicht ausdenken, wie eine Quarantäne damals für mich gewesen wäre. Bild: Louis Brem

Die Jungen leiden am meisten in der Pandemie, heisst es jetzt immer wieder. „Was soll das Gejammer?!“ sagte ich (55) lange Zeit und klang dabei wie meine eisenharte Grossmutter selig. Aber dann fiel mir ein, dass ich selbst einmal jung gewesen bin. Und wie das damals war.

Schwierig wurde es, als ich zu studieren begann. Ich zog möglichst weit von zu Hause weg, in eine andere Stadt, und die ersten zwei, drei Wochen waren eine bodenlose Lese- und Denkorgie, ein einziges Freiheitsfest. Aber dann kam diese Angst. Ich kannte niemanden in der fernen Stadt, meine Schulfreundinnen studierten anderswo. An der Uni hatte ich nur 16 Stunden Präsenzzeit, das war damals normal. Ich war viel allein, und manchmal bekam ich panikartige Zustände. Später nannte ich sie „das gelbe Grauen“ – weil diese Zustände bei Sonnenschein, wenn man heiter und fröhlich hätte sein sollen, besonders besonders bedrohlich waren. Manchmal sass ich lange Zeit da und versuchte zu lesen. Aber kein einziger Satz fand den Weg durch diese Angst in mein Gehirn.

Ich konnte mit niemandem darüber sprechen, nicht zuletzt, weil mir eine verständliche Sprache dafür fehlte. Noch heute ringe ich nach Worten, wenn ich diese Angst beschreiben soll. Vielleicht geht es so: Ich hatte panische Angst vor mir selbst. Ich hatte Angst vor etwas, was in mir drin sass und nicht normal, vielleicht nicht einmal menschlich war. Ich hatte Angst, dass es aus dem Versteck in mir drin herausspringen und für jede und jeden sofort sichtbar würde. Dass dann niemand mehr mit mir sprechen wollen, dass ich gänzlich von diesem Strudel des Wahnsinns verschlungen würde. Wie irr suchte ich die Gegenwart anderer Menschen, nur um diesem Strudel zu entkommen.

Wahrscheinlich hatten diese Ängste auch mit den Umständen zu tun, unter denen ich aufgewachsen bin. Mein Vater hatte damals erhebliche psychische Probleme. Seine Zustände prägten meine Teenagerjahre waren in den schlimmsten Zeiten während jedem Mittagessen Thema. Es waren Mahlzeiten voller innerer Loyalitätskonflikte. Hatte ich mehr Verständnis mit meinem leidenden Vater? Oder musste ich zu meiner Mutter halten, die oft nichts als Irritation über meinen Vater empfand und doch den Laden zusammenhielt? Man konnte meinem Vater gut zureden, dann verschwand der Irrsinn für eine Weile. Aber am nächsten Tag war er wieder da. Es waren Zustände, die sich nicht in diesem Rahmen lockerer Konversation spannen liessen, den wir zu Hause gegen jeden Wahnsinn der Welt kultivierten. Ich hatte Angst, die Verletzlichkeit meines Vaters geerbt zu haben und umso mehr Angst vor mir selbst.

Vielleicht aber hatte ich einfach Zustände, wie die meisten jungen Erwachsenen sie haben, wenn sie von zu Hause wegziehen. Denn wer ist schon in einer funktionalen Familie aufgewachsen? Für wen ist andauerndes Alleinsein nicht schwierig? Und wer hat manchmal nicht das Gefühl, dass da etwas sehr Bedrohliches in ihm drinsitzt? Bei mir dauerte es viele Jahre, bis ich mich sicher vor mir selbst fühlte.

Was aber wäre passiert, wenn ich in jener Zeit pandemiebedingt noch mehr alleine gewesen wäre? Was, wenn ich wieder zum meinen Eltern hätte ziehen müssen? Ich weiss es nicht, und ich weiss auch nicht, wie mein Leben dann verlaufen wäre. Sicher hätte mir der Kontakt mit Gleichaltrigen gefehlt.

Können wir als alte Säcke etwas tun? Das Leben der jungen Leute ist heute so viel anders als unseres es war. Aber vielleicht hilft es, wenn wir zugeben: Ja, es ist schwierig, es ist vielleicht auf eine unaussprechliche Art schwierig. Wenn ihr könnt, sprecht darüber. Wenn es halbwegs möglich ist, trefft Euch irgendwo. Sucht Hilfe, wenn es nicht mehr geht. Aber seid zuversichtlich: Die allermeisten von Euch werden einen Weg finden und einmal beinharte Grosseltern werden.

Im Bus

Heute nahm ich kurz den Bus. Ich hatte volle Einkaufstaschen und kam von der anderen Stadtseite. Noch drei Haltestellen, da beginnt die Frau neben mir zu husten. Sie steht ziemlich genau 1,5 Meter von mir entfernt, und das ist kein trockenes Maskenhüsteln, es ist ein richtiger, verdammter Hustenanfall.

In meinem Kopf beginnen zwei Personen laut zu streiten.
Mein Vor-Corona-Ich: „Jetzt schau diese alte Frau doch nicht so böse an! Sie ist bestimmt über 80. Wahrscheinlich hat sie Asthma. Die arme Frau!“
Mein neues Ich: „Denkste! Die Welt ist voller Covidioten. Mit einem solchen Husten hat sie in einem Bus nichts verloren.“
Mein altes Ich: „Wahrscheinlich ist sie allein und hat niemanden, der für sie einkauft und kein Auto. Nun mach doch nicht so einen Terror!“

Ich gehe diskret einen Schritt vorwärts und drücke den Halteknopf. Der Bus steht, aber vor einer Ampel, und zwar lange. Die Frau ist immer noch höchstens zwei Meter von mir entfernt und hat einen zweiten Hustenanfall. Mein neues Ich sieht Millionen von Viren an den Rändern ihrer Maske vorbei in meine Richtung dampfen.

Mein altes Ich: „Du wirst diese Frau jetzt nicht beschämen, indem Du im Bus nach hinten gehst!“
Mein neues Ich: „Doch, genau, das werde ich jetzt tun. Man nennt es Selbstschutz.“

Es ist ein Gelenkbus. Ich trage meine Taschen nach hinten. Genau in dem Moment, als ich auf dem Gelenk stehe, setzt sich der Bus in Fahrt und geht in die Kurve. Ich fliege mit meinen zwei Einkaufstaschen fast auf die Schnauze.

Mein altes Ich: „Geschieht Dir recht.“

Vorne hustet die Frau immer noch, als ich hinten aus dem Bus steige. Die letzten beiden Haltestellen lege ich zu Fuss zurück.

Königin, Sklavin, Siegestrophäe

Im Sandalenfilm „Troy“ (2004) wird die Beziehung zwischen Briseis und Achilles als Romanze dargestellt. Man kann das auch anders sehen.

Wir sitzen im Lockdown und wenden uns nach innen. Frau Frogg hat zum Glück genügend Lesestoff und vertieft sich in eine der ältesten Geschichten überhaupt.

Abends lese ich „Die Stille der Frauen“ von Pat Barker, einen Roman über den Trojanischen Krieg. Barker (78) hat preisgekrönte Romane über den Ersten Weltkrieg geschrieben. Man glaubt ihr, wenn sie über Kriegstraumata schreibt. Hier stützt sie sich auf die Iljas von Homer (800 vor Christus), erzählt die Geschichte aber weitgehend aus der Sicht der Sklavin Briseis. Die 18-Jährige war Königin einer Stadt nahe Troja, bevor Achilles mit seinen Leuten kam, die Mauern stürmte und alle Männer abschlachtete. Die Frauen nehmen sie als Siegestrophäen mit. Achilles bekommt Briseis. Was folgt, wird oft als Romanze dargestellt, eine handlungstreibende Romanze dazu, auch im Monumentalnepos „Troy“ von 2004 mit Brad Pitt. Aber für Briseis ist es keine Romanze. Für sie sind Achilles und seine Kumpanen Schlächter und sie deren Sexspielzeug und, für kurze Zeit, Statussymbol. Doch sie wahrt ihre Würde als wäre ihr Innerstes eingehüllt in einen undurchdringlichen Panzer. Ich weiss nicht, ob ich das könnte. Ich weiss nicht, ob ich in der Lage wäre, mich der Komplizität mit den neuen Herren zu enthalten. Es braucht dafür eine starke Persönlichkeit.

Nachts, wenn ich nicht schlafen kann, denke ich mich nach Troja zurück, ich sehe die blassgrünen Wiesen, die Felsen und uns auf dem Schiff über die Dardanellen. Ich war dort 2008. Hier habe ich darüber gebloggt. Die Erinnerung fühlt sich traumartig an und leicht melancholisch. Über die Ausgrabungsstätte, die heute von den meisten für den Standort des antiken Troja gehalten wird, habe ich nicht geschrieben. Ein Steinhaufen halt. Ich erinnere mich nur, dass wir mit einem klapprigen Sammeltaxi voller Schafskot hinfuhren, und dass die Mauerreste gut beschriftet waren. Davor stand ein hölzernes Pferd. Ausser uns war niemand da.

Tags kämpfe ich mit Zielkonflikten. Das Virus prägt unseren Alltag. Soll ich zu Fuss zur Arbeit gehen? Ja, das wäre gut, dann muss ich nicht busfahren. Der Bus ist mir nicht ganz geheuer zurzeit. Aber ich muss auch mein Mittagessen von zu Hause mitnehmen, denn unsere Betriebskantine ist wegen Ansteckungsgefahr geschlossen. Soll ich wirklich jeden Morgen mein Kübelchen voller Essen die 40 Gehminuten über den Hügel tragen? Mein Arbeitsweg kommt mir jetzt vor wie eine Odyssee. Ist unsere Welt so klein geworden? Nun gut, das ist keine Katastrophe, James Joyce hatte für seinen Roman „Ulysses“ auch nicht das ganze Mittelmeer zur Verfügung, sondern nur die Stadt Dublin. Nur? In „Ulysses“ ist sie ein ganzes Universum.

Als ich den Fluss überquere, beginne ich erste Ideen zu wälzen. Davon aber später.

Trostfernsehen

Amateur-Archtitekt Basil Brown (Ralph Fiennes) wird in diesem Erdhügel einen phantastischen Fund machen – Szene aus „The Dig“.

Wir sitzen wieder mal im Lockdown und sehen uns epische Filme an. Trostfernsehen, nenne ich es. „The Dig“ (auf Netflix) passt besonders gut in diese Sparte.

Früh ihm Film hält ein Arzt Mrs. Pretty (Carey Mulligan) das Stetoskop an die Rippen und sagt: „Sie sollten sich nicht so viele Sorgen machen, Mrs. Pretty, sonst holen Sie sich noch ein Magengeschwür.“ Dann fügt er vorwurfsvoll hinzu: „You’re a worrier, Mrs. Pretty.“ Ich lachte gleich zweimal. Zuerst, weil wir das Thema doch eben erst hatten: Sonnige Gemüter werden nicht krank, Ihr erinnert Euch. Dann wegen des Wortes „worrier“. Ein nordenglisches Wort, das mein Freund, Herr Hooligan, mir beigebracht hat. „He’s a wurrier“, sagte er über einen Bekannten (das „u“ verdankte sich Herrn Hooligan’s Liverpooler Dialekt). Ich verstand unmittelbar, was er meinte: eine Person, die durch ständiges Grübeln die Lösung für ein Problem findet – und dann unverzüglich das nächste Problem, zum Weitergrübeln. Das ist lange her. Herr und Frau Hooligan sitzen jetzt in der Nähe von Cambridge, auch im Lockdown. „Es geht uns ganz gut“, schrieb er am 8. Januar.

Mrs. Pretty ahnt, dass es etwas Schlimmeres sein könnte als ein Hang zum Grübeln. Sie geht nach Hause, wo sie noch etwas Wichtiges zu erledigen hat. Da sind diese seltsamen Hügel auf ihrem Land. Etwas muss unter ihnen vergraben sein. Sie holt den Amateur-Archäologen Basil Brown, der es ausheben soll. Basil Brown wird gespielt von Ralph Fiennes, dem Schauspieler mit diesem hellen, schillernden Blick, der mich ein halbes Filmliebhaberinnenleben lang begleitet hat. Eine lange Reihe von Kameraleuten muss nach dem genau richtigen Licht für diese Augen gesucht haben, zuerst in „The English Patient“ (1996), später in den Harry Potter-Filmen, wo er den bösen Lord Voldemort spielte. Jetzt ist Fiennes merklich gealtert (huch, er ist ja nur drei Jahre älter als ich!) und meistens völlig verdreckt vom Graben. Aber da sind diese Augen. Unverkennbar.

Fiennes gibt oft den archetypischen Engländer, und „The Dig“ ist ein archetypisch englischer Film. Er fährt mit einer ganzen Armada anglophiler Klischees auf: diese noble Zurückhaltung, mit der man Demütigungen erträgt. Oder diese dicht unter der Oberfläche mottende Erotik. Das alles wird hier etwas zu dick aufgetragen, scheint dafür aber dem Untergang geweiht: Während Mr. Brown das archäologische Erbe Englands erforscht, donnern Flugzeuge über seinen Kopf und künden den drohenden Zweiten Weltkrieg an.

Die Engländer haben diesen Krieg immer als unerschöpflichen Fundus für grosse Heldenmythen gesehen. Ihre kollektive Erinnerung an diese Zeit des nationalen Zusammenhalts ist so positiv, dass sie sich dorthin zurückgewünscht und dafür den Brexit in Kauf genommen haben – ein furchterregendes Abenteuer mit Lastwagenstaus und Papierkriegen ohne Ende. Kinderkrankheiten nennt die britische Regierung all das, aber wir ahnen: Das Kind erholt sich vielleicht nie und steckt womöglich noch andere an. Vielleicht deshalb bringt der Flugzeuglärm in diesem neuen Film nichts Heroisches, sondern Angst und Tod und Behördenversagen. Ach, Gott, wie wir das alle kennen, nicht nur im Vereinigten Königreich.

Und dann fördert Basil Brown dieses phantastische, 1300 Jahre alte Schiff zutage – oder jedenfalls die Reste davon. Es ist die Grabstätte eines angelsächsischen Kriegers. Leider gibt es keine Filmstills davon – aber die Geschichte beruht auf einer archäologischen Sensation, die sich tatsächlich zugetragen hat, der Grabung von Sutton Hoo im Jahre 1939. Hier ein Bild von der echten Ausgrabungsstätte.

Das Schiff von Sutton Hoo. (Quelle: deutschlandfunk.de)

Es gibt im Film starke Bilder von diesem Schiff – ein filigranes Gefäss in der Erde als Symbol zugleich für unsere Vergänglichkeit und für etwas, was uns alle umfasst und birgt. Es ist sehr zerbrechlich, erhebt sich nur schwach aus dem Dreck, und ständig fällt Regen darauf. Ja, wir dürfen uns Sorgen machen, und am Schluss werden wir ein wenig weinen um Mrs. Pretty’s Gesundheit. Und trotzdem sind wir getröstet.