Trostfernsehen

Amateur-Archtitekt Basil Brown (Ralph Fiennes) wird in diesem Erdhügel einen phantastischen Fund machen – Szene aus „The Dig“.

Wir sitzen wieder mal im Lockdown und sehen uns epische Filme an. Trostfernsehen, nenne ich es. „The Dig“ (auf Netflix) passt besonders gut in diese Sparte.

Früh ihm Film hält ein Arzt Mrs. Pretty (Carey Mulligan) das Stetoskop an die Rippen und sagt: „Sie sollten sich nicht so viele Sorgen machen, Mrs. Pretty, sonst holen Sie sich noch ein Magengeschwür.“ Dann fügt er vorwurfsvoll hinzu: „You’re a worrier, Mrs. Pretty.“ Ich lachte gleich zweimal. Zuerst, weil wir das Thema doch eben erst hatten: Sonnige Gemüter werden nicht krank, Ihr erinnert Euch. Dann wegen des Wortes „worrier“. Ein nordenglisches Wort, das mein Freund, Herr Hooligan, mir beigebracht hat. „He’s a wurrier“, sagte er über einen Bekannten (das „u“ verdankte sich Herrn Hooligan’s Liverpooler Dialekt). Ich verstand unmittelbar, was er meinte: eine Person, die durch ständiges Grübeln die Lösung für ein Problem findet – und dann unverzüglich das nächste Problem, zum Weitergrübeln. Das ist lange her. Herr und Frau Hooligan sitzen jetzt in der Nähe von Cambridge, auch im Lockdown. „Es geht uns ganz gut“, schrieb er am 8. Januar.

Mrs. Pretty ahnt, dass es etwas Schlimmeres sein könnte als ein Hang zum Grübeln. Sie geht nach Hause, wo sie noch etwas Wichtiges zu erledigen hat. Da sind diese seltsamen Hügel auf ihrem Land. Etwas muss unter ihnen vergraben sein. Sie holt den Amateur-Archäologen Basil Brown, der es ausheben soll. Basil Brown wird gespielt von Ralph Fiennes, dem Schauspieler mit diesem hellen, schillernden Blick, der mich ein halbes Filmliebhaberinnenleben lang begleitet hat. Eine lange Reihe von Kameraleuten muss nach dem genau richtigen Licht für diese Augen gesucht haben, zuerst in „The English Patient“ (1996), später in den Harry Potter-Filmen, wo er den bösen Lord Voldemort spielte. Jetzt ist Fiennes merklich gealtert (huch, er ist ja nur drei Jahre älter als ich!) und meistens völlig verdreckt vom Graben. Aber da sind diese Augen. Unverkennbar.

Fiennes gibt oft den archetypischen Engländer, und „The Dig“ ist ein archetypisch englischer Film. Er fährt mit einer ganzen Armada anglophiler Klischees auf: diese noble Zurückhaltung, mit der man Demütigungen erträgt. Oder diese dicht unter der Oberfläche mottende Erotik. Das alles wird hier etwas zu dick aufgetragen, scheint dafür aber dem Untergang geweiht: Während Mr. Brown das archäologische Erbe Englands erforscht, donnern Flugzeuge über seinen Kopf und künden den drohenden Zweiten Weltkrieg an.

Die Engländer haben diesen Krieg immer als unerschöpflichen Fundus für grosse Heldenmythen gesehen. Ihre kollektive Erinnerung an diese Zeit des nationalen Zusammenhalts ist so positiv, dass sie sich dorthin zurückgewünscht und dafür den Brexit in Kauf genommen haben – ein furchterregendes Abenteuer mit Lastwagenstaus und Papierkriegen ohne Ende. Kinderkrankheiten nennt die britische Regierung all das, aber wir ahnen: Das Kind erholt sich vielleicht nie und steckt womöglich noch andere an. Vielleicht deshalb bringt der Flugzeuglärm in diesem neuen Film nichts Heroisches, sondern Angst und Tod und Behördenversagen. Ach, Gott, wie wir das alle kennen, nicht nur im Vereinigten Königreich.

Und dann fördert Basil Brown dieses phantastische, 1300 Jahre alte Schiff zutage – oder jedenfalls die Reste davon. Es ist die Grabstätte eines angelsächsischen Kriegers. Leider gibt es keine Filmstills davon – aber die Geschichte beruht auf einer archäologischen Sensation, die sich tatsächlich zugetragen hat, der Grabung von Sutton Hoo im Jahre 1939. Hier ein Bild von der echten Ausgrabungsstätte.

Das Schiff von Sutton Hoo. (Quelle: deutschlandfunk.de)

Es gibt im Film starke Bilder von diesem Schiff – ein filigranes Gefäss in der Erde als Symbol zugleich für unsere Vergänglichkeit und für etwas, was uns alle umfasst und birgt. Es ist sehr zerbrechlich, erhebt sich nur schwach aus dem Dreck, und ständig fällt Regen darauf. Ja, wir dürfen uns Sorgen machen, und am Schluss werden wir ein wenig weinen um Mrs. Pretty’s Gesundheit. Und trotzdem sind wir getröstet.

11 Gedanken zu „Trostfernsehen“

  1. Ich bin zwar keine Netflix-Seherin (weil kein Abo, auch nicht einmal beim großen A), doch komme ich mit den Abendprogrammen beim ARD, ZDF, MDR, ORF & Co. aus. (SRF1 und SRF2 vermisse ich schmerzlich.) So viel zu meinem „Trostfernsehen“.

    Neben den oben genannten Kinofilmen sah ich Ralph Fiennes auch in „Ein Hauch von Sonnenschein“ brillieren. Der Film war unglaublich gut und liess mich doch verstört zurück.

    Der Mann ist nicht in einer 08/15-Rolle zu stecken.

    1. Oh, von „Ein Hauch von Sonnenschein“ habe ich noch nie gehört! Aber ich habe eben die Zusammenfassung auf Wikipedia gelesen. Ja, das könnte ein toller Film sein, und da wäre Fiennes dann nicht der archetypische Engländer. Wenn er mal am Fernsehen kommt, sehe ich ihn mir an. Man kommt auch mit den Öffis zurecht am Fernsehen, finde ich. Netflix ist ein kleiner Luxus, den ich mir in dieser Zeit gönne. Auch wegen der Untertitel, auf SRF 1/2 leider nicht immer garantiert.

  2. ich mag solch epische filme auch – z.b. Bertoluccis „1900“ – da hast du gleich einige stunden trostfernsehen.
    zu zweit immer besser als alleine. dasselbe gilt für kino. insofern schön, dass du einen partner hast, mit dem du sowas genießen kannst… viel spaß noch!

    1. Danke 🙂 Bertoluccis „1900“ habe ich vor sehr vielen Jahren gesehen. Ich glaube, ich mochte ihn. Aber mein Gedächtnis… Ja, zu zweit macht es mehr Spass, besonders im Kino. Man muss sich dann aber auch immer einigen, das gibt dann manchmal faule Kompromisse. Aber meistens geniessen wir es.

  3. Worrier und warrior müssten eigentlich ein Minimal Pair bilden von der Aussprache her 🤓 wie nah sie sich wohl semantisch sind?

    1. Ha, das sind zwei Fragen, die mich auch kurz beschäftigt haben! Ich denke, das mit dem Minimal Pair stimmt wahrscheinlich, wobei die Differenz zwischen den ersten Vokalen wirklich sehr gering ist und mir im Augenblick kein anderes Wort einfällt, das den gleichen ersten Vokal wie in „warrior“ enthält.

      Zur Etymologie für drängt sich der Eintrag für „war“ statt für „warrior“ auf:
      https://www.etymonline.com/search?q=war; das Wort leitet sich vom Altfranzösischen („la guerre, le guerrier“) ab und taucht erst im 14. Jahrhundert auf, kam also mit den Normannen. Ist verwandt mit dem deutschen Wort „verwirren“ und steckt, so vermute ich, auch im Wort „Kriegswirren“ drin.

      Zu to worry (und das ist nun wirklich charmant – gewissermassen „It worries me = es packt mich an der Gurgel“): https://www.etymonline.com/search?q=worry, ist verwandt mit dem deutschen Wort „würgen“.

      Wenn es eine Verwandtschaft gibt, dann wohl sehr weit zurück (Proto-Indogermanisch, oder wie diese komische Sprache hiess 🙂

    1. Oh, vielen Dank für das hübsche Bild! Die Matrosen beim vergrabenen Schiff – wie passend! Nun, er hat’s nicht alleine gemacht, der Basil Brown. Erst halfen ihm zwei Männer von der Farm – und ein zentrales Thema im Film ist, wie die Profis aus London kommen und ihm die Arbeit aus der Hand reissen, als herauskommt, dass da wirklich etwas Grossartiges liegt. Sie heimsen dann auch die Lorbeeren ein, zunächst jedenfalls.

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