Sollen wir noch reisen?


Ob sie beim Reisen ein Gefühl der Befreiung haben? Touristengruppe in der Stadt Luzern – vor Covid-19 (Quelle: Handeszeitung.ch)

Hilfsbuchhalter Bernardo Soares hält rein gar nichts vom Reisen. „Wahre Erfahrung beruht auf einem verminderten Kontakt mit der Wirklichkeit und einer verstärkten Analyse dieses Kontaktes“*, behauptet er im „Buch der Unruhe“ von Fernando Pessoa. Und weiter: „Und das Gefühl der Befreiung, das vom Reisen ausgeht? Das kann ich ebenso haben, wenn ich von Lissabon nach Benfica, in der Vorstadt, fahre, und zwar sehr viel intensiver als einer, der der von Lissabon nach China reist, denn ist die Befreiung nicht in mir, erlange ich sie nirgendwo.“ Nun ja, Bernardo ist ein äusserst empfindsamer Mensch und ein genauer Beobachter. Da er zudem gar nicht über die Mittel für grosse Fahrten verfügt, macht er wahrscheinlich aus der Selbstbeschränkung eine Tugend. Da sollte man nicht zu hart über ihn urteilen.

In Zeiten von Covid-19 können wir uns sogar eine Scheibe bei ihm abschneiden. Und auch die beängstigende Klimasituation verlangt ja, dass wir weniger reisen. Aber sollen wir das Reisen deshalb gleich verteufeln? Oder Reisende verachten? Sogar als Bewohnerin einer früher vielleicht etwas zu gut besuchten Tourismusdestination bin ich mir nicht sicher. Ich habe mir zwar angesichts der Touristenhorden in unserer Stadt durchaus schon überlegt, ob Reisende in spe nicht eine Eignungsprüfung ablegen sollten, bevor man sie ins Flugzeug steigen lässt. Ich erinnere mich gut an Szenen mit Asiaten, die mir auf dem Trottoir mit der Nase dicht am Handy entgegenkamen. Wollte man sie passieren, musste man sie anschreien oder auf die Strasse ausweichen. Ich sehe noch Amerikaner vor mir, die ihre beträchtliche Leibesfülle passgenau in die Mitte der schmalen Denkmalstrasse gossen. Mit dem Velo war da kein Durchkommen. Das ist ärgerlich, wenn man pünktlich in seinem Büro an der Denkmalstrasse sein muss.

Ich will nicht verallgemeinern. Die meisten Asiat*innen sind freundlich und rücksichtsvoll. Und Leibesfülle sollte an sich keine Disqualifikation fürs Reisen sein. Das Problem ist: Reisen ist erstens etwas Narzisstisches. Ich habe junge Amerikaner mit Eroberermiene über die Seebrücke schreiten sehen. „Seht her, ich habe mein Fähnchen in der Schweiz eingesteckt!“ sagte ihr Blick. Reisen sind zweitens ein Statussymbol. Reiseanekdoten eignen sich ja so wunderbar als Konversationshäppchen am Apero in der Heimat. Für viele Touristinnen und Touristen kommt das Interesse an der Welt, die sie bereisen, ungefähr an dritter Stelle. Und das ist ein Ärgernis.

Aber jetzt sind sie weg, die Touristen – und es fehlt eben doch etwas. Unsere Stadt ist ja geradezu als Kulisse für den Tourismus gebaut. Jetzt, wo die Hotelkästen leer und die Uhrenläden geschlossen sind, macht sich in den Gassen Ratlosigkeit breit. Und nicht nur das: Ohne Touristen ist meine Stadt eine biedere, in sich gekehrte Kleinstadt. Die Gäste aus Indien, aus China, aus Amerika bringen wenigstens ein bisschen internationale Betriebsamkeit hierher. Im besten Fall bestaunen wir sie, und sie bestaunen uns. Für mehr reicht es meistens nicht. Aber schon das erweitert den Horizont.

Und selbst gar nicht mehr reisen? Das kann ich mir nicht vorstellen. Pessoa hat zwar recht: Es gibt Dinge, die wir beim Reisen selbst mitbringen müssen. Zum Beispiel die Bereitschaft, die Welt um uns herum wahrzunehmen. Dann verändert uns das Reisen – und das Gefühl der Befreiung bekommen wir dann eben doch von aussen geschenkt. Ich bin nie in China gewesen. Aber zum Beispiel in Russland, und deshalb weiss ich: In den Städten dort haben die Menschen andere Probleme als wir. Und ähnliche wie wir noch dazu. Das zu verstehen, hat mich weniger empfindlich für gewisse Launen meiner Schweizer Mitmenschen gemacht. Und in der Nähe von New Orleans habe ich gelernt wie mies und verkommen Rassismus eine Gesellschaft macht – auf eine Art, wie ich es in der Schweiz nicht hätte lernen können. Natürlich, auch ich bin aus Narzissmus gereist. Auch ich erzähle gern von meinen Abenteuern. Aber die Welt ist gross, und wir verstehen sie nicht, wenn wir nur nach innen schauen. Und, wie sagt es Bernardo Soares: „Wir werden aller Dinge müde, nur des Verstehens nicht.“**

* Fernando Pessoa: „Das Buch der Unruhe“, Fischer Taschenbuch, 2006, Seite 142
** daselbst, S. 238

Frühling in Terrassien


Das Café in unserem Erdgeschoss heute Vormittag. Gegen Abend wird hier Hochbetrieb herrschen.

Zu den Glückseligkeiten unserer relativ neuen Wohnlage gehört das Café im Erdgeschoss. Als ich am Freitagabend von der Arbeit kam, fand ich dort an einem Tischchen auf dem Vorplatz schon den Buddha und den Doppelbuddha beim Bier. Ich nenne die beiden so, weil das Freitagabendbier mit den beiden, wenn es denn stattfindet, stets ein erheiterndes Ritual ist. Der Buddha hat ein pfiffiges Lächeln und viele Geheimnisse, von denen er selten eines preisgibt. Der Doppelbuddha hat ein warmes Grinsen, eine kräftige Stimme und treibt die Konversation voran, die nirgends hinführen muss, aber immer wieder von Gelächter unterbrochen wird.

Ja, ihr habt das richtig mitbekommen: Bei uns in der Schweiz sind die Gaststätten offen. Oder jedenfalls die Gaststätten-Terrassen, die Gartenrestaurants, die Tischchen auf den Vorplätzen. Ich fühle mich sonst nicht wohl in Restaurants, meistens kann ich den Gesprächen an einem Vierertisch nicht so recht folgen, und das verunsichert mich. Aber im Moment geht von diesen geöffneten Terrassen eine ungeheure Anziehungskraft aus. Ich würde mich bei diesem frühlingshaften Wetter wie der einsamste Mensch auf der Welt fühlen, wenn ich nicht irgendwann alle warnenden Stimmen in den lauen Frühlingswind schlagen und mich wenigstens für ein Stündchen auch in dieses Gartenbeizengetümmel stürzen könnte.

Ich habe die beiden Buddhas seit längerer Zeit nicht gesehen, und mich dünkt, der Doppelbuddha habe heute eine ungesund ins Bläuliche spielende Gesichtsfarbe. Seine kleine Firma hat in der Krise des letzten Jahres gelitten. Seine Partnerin arbeitet im Tourismus, und der Tourismus liegt bei uns seit bald 14 Monaten im Koma. Normalität wird hier – noch – mit Bundesgeldern aufrechterhalten. Wir sind ernster als sonst, trinken, diskutieren.

Und doch. Dieses eine Stündchen fühlt sich an wie richtiger Frühling.

In der Warteschlange

Eins hat die Pandemie in der Schweiz verändert: Wir stehen sicht- und fühlbar Schlange. Zum Beispiel an Ostern vor der Confiserie, wie hier beschrieben. Aber auch anderswo.

Die ärgerlichste aller Warteschlangen ist unsichtbar. Es ist die Impf-Schlange. Am 15. April habe ich die dritte SMS mit exakt demselben Text vom Absender ImpfCovid bekommen: „Impf-News: Sie haben sich erfolgreich fürs Impfen angemeldet und sind in der Warteschlange. Sobald Impftermine frei sind, kontaktieren wir sie.“ Ich weiss nicht, wer auf die Idee kommt, eine solche Message als „News“ zu bezeichnen. Angemeldet habe ich mich am 14. Januar, ich bekam die Nummer 563990. Ich bin nicht die einzige, die allmählich ungeduldig wird. Neulich stand meine Freundin Beate unter der Tür, Tränen flossen ihr in die FFP2-Maske. Erst nach mehreren Versuchen verstand ich, was sie, Mutter dreier Schulkinder und Pendlerin, herausschluchzte: „Ich halte es einfach nicht mehr aus! Jetzt macht der Bundesrat wieder alles auf*, und ich habe immer noch keinen Imfptermin! Meine Freundinnen in Deutschland sind inzwischen alle geimpft!“ Ich konnte sie nicht mal umarmen.

Und die fröhlichste Warteschlange: An meinen Bürotagen stehe ich vor einer Bäckerei für mein Mittagessen an. In den Laden dürfen drei Personen, draussen steht manchmal fast ein Dutzend Wartende, die meisten aus den umliegenden Büros. Drinnen gibt es aufgewärmte Pasta, manchmal Hackbraten oder Riz Casimir, freitags Käsewähen und immer Salate. Ich würde lieber in unserer hauseigenen Cafeteria essen, aber die ist wegen Pandemie geschlossen. Manchmal stehen vier oder fünf Leute aus demselben Büro vor der Bäckerei und sind zum Scherzen aufgelegt. Das erheitert dann die ganze Schlange, auch mich. Obwohl ich nie verstehe, was sie sagen. Und nur dann, wenn ich vor Hunger nicht schon leicht gereizt bin.


Das Freigleis – zu normalen Zeiten tummeln sich hier Velofahrer*innen und Spaziergänger*innen aus dem urbanen Mittelstand. Zurzeit stehen hier ganz in der Nähe montags hungrige Migrantinnen und Migranten für Lebensmittel Schlange (Quelle: outdooractive.com).

Die traurigste ist die Warteschlange mit Essen für arme Leute: Ich bin ja auch gerade in Kurzarbeit und ging neulich an einem freien Montag mit einer Kollegin auf dem Freigleis spazieren. Nach wenigen hundert Metern passierten wir eine Warteschlange auf der Velospur. Da standen vielleicht sieben oder acht Menschen vor einem leeren Häuschen, mehrere Frauen mit Kopftüchern, eine mit Babywagen, ein junger Mann mit brauner Hautfarbe und Velo. Die Kollegin sagte laut: „Was ist das denn?!“ Da drehte ein vorbeieilender Jogger sich um und sagte: „Das ist eine Essensausgabe für arme Leute, stellen Sie sich das vor, mitten in der Schweiz!“ Eine kurze Recherche im Internet ergab: Die Gruppe Resolut verteilt dort immer montags gratis Lebensmittel an Bedürftige.

* Unsere Bundesregierung hat in ihrer unergründlichen Weisheit (*Sarkasmus off*) trotz steigender Fallzahlen beschlossen, die Fitnesszentren, Restaurant-Terrassen, die Theater und Kinos ab morgen wieder zu öffnen, Hier erklärt sich Gesundheitsminister Alain Berset.

Blog-Archäologie

Ich hatte ja geglaubt, die Ära der Blog-Stöckchen und Blog-Challenges sei vorbei. Aber Herr van der Ley vom Teppichhaus Trithemius hat einen Challenge lanciert, der mich just zu einem Zeitpunkt erwischt, da mein Interesse am Bloggen wieder stark zugenommen hat. Hier der Link.

Die Affiche ist, ein Faksimile seines ersten Blogbeitrags zu erstellen, seinen Namen zu erklären und seine Bloggergeschichte zu erzählen. Hier das Faksimile meines ersten Blogbeitrags auf twoday.net.

Beim Lesen dieser Zeilen spüre ich wieder, wie mir beim Schreiben leicht der Atem stockte. Als stünde ich auf einem Sprungbrett und blicke in die Tiefe. Was würde mich da draussen in der Bloggosphäre erwarten? Würde mich überhaupt jemand lesen?

Doch Halt! Das ist gar nicht mein erster Blogbeitrag. Meine Geschichte als Bloggerin begann auf MyTagebuch, im Februar 2002, glaube ich. Dort entdeckte ich das Online-Schreiben, es war als könnte ich plötzlich irgendwelchen Fremden im Zug mein Leben erzählen, wann immer ich wollte. Grossartig. Ich fand auf myTagebuch auch Freundinnen und Freunde, die ich sehr mochte: Ich erinnere mich an Pöt, noch online sind die Kätzerin, Hopkins, die Rote Zora. Sie wurden wie eine liebenswürdige Familie, irgendwo da draussen verstreut. Meine Beiträge aus jener Zeit sind verschwunden. Ein paar ausgedruckte Texte modern im Keller. Sie zu suchen – eine Aufgabe für lange Winterabende.

Warum ich auf twody.net wechselte? Ich weiss nicht mehr. Möglich ist, dass ich mich mit dem Gedanken des Bloggens als Erwerbsquelle liebäugelte und dachte, ich müsse auch noch andere Plattformen ausprobieren. Aber der Blog blieb für mich eine Spielwiese. Ein Reisetagebuch, nicht aus fernen Ländern, sondern die Berichte einer Flaneurin im Alltag, auch von meinen immer längeren Ausflügen ins Menière-Land, der Heimat meines Ohrenleidens. Auch auf twoday fand ich Freunde – mit Katiza, Barbara und la-mamma bin ich heute verbunden. Twoday.net aber geriet um 2016 in die Krise. Bloggen wurde unhip. Anfang 2018 sah es bei twoday.net nach Ende Gelände aus und ich stieg um auf WordPress. Ich muss gestehen, es war richtig traurig. Der ganze twoday-Zirkel fiel auseinander. Zum Glück nahmen mich die alten Freundinnen und Freunde von myTagebuch – auch sie gerade heimatlos geworden – mit offenen Armen wieder auf: Nell, die Kätzerin, Phoebeweather, Milou, Erinnye und all die anderen.

Facebook? Damit konnte ich mich nie richtig anfreunden. Twitter? Dort konsumiere ich News, sonst uninteressant. Instagram? Da habe ich etwa 600 Follower, aber die Fotografie interessiert mich nur zeitweise. Schreiben ist mein wahres Medium. Um es etwas hochtrabend zu sagen: Wenn ich schreibe, existiere ich.

Beschwipst vom blauen Himmel


Klein, aber unverschämt blau: Ehrenpreis gehört zu meinen Lieblingsblümchen.

Heute kam unerwartet ein arbeitsfreier Nachmittag. Die Sonne scheint, und um die Stadt stehen die Berge noch weiss wie eine frisch polierte Zahnreihe. Mich zog es zum Göttersee. Ich hatte Sehnsucht nach Frühlingsblümchen.

Am Göttersee fand ich Scharbockskraut, Buschwindröschen und dazu ganze Ehrenpreis-Kissen. Das Kraut hat winzige Blümchen, die am Rand der grossen Kuhweiden stehen. Aber wer es für bescheiden hält, hat nicht genau hingeschaut. Geradezu unverschämt streckt der Ehrenpreis seine blauen Kelche dem Himmel entgegen wie einen zart geäderten Spiegel. Wie ich als Kind über dieses Blau gestaunt habe! Und die Pflanze hat fast so viele Namen wie eine kleine Gottheit: Männertreu, Frauenbiss, Katzenäuglein, Veronica oder Wildes Vergissmeinnicht. Es gibt Gamander-Ehrenpreis – und wenn ich wieder einmal einen Krimi schriebe, dann würde ich einen würdevollen, stillen Staatsanwalt aus dem Tal O. Herrn Gamander nennen. Auf Schweizerdeutsch heissen sie: Chatzenäugli. Und – so habe ich zumindest immer geglaubt und es wegen der blauen Farbe für plausibel gehalten: Himmugüügeli. Ich legte mir eine Theorie zurecht, was „güügeli“ bedeuten könnte. Weil „güügele“ bei uns auch „sich einen Schwips antrinken“ heisst: die Blümchen, die sich am Blick in den blauen Himmel berauschen.

Das Internet hat meiner überbordenden Kreativität jähe Grenzen gesetzt und informiert mich hier ganz lapidar: „Himmugüügeli“ heisst Marienkäfer.

Ostern 2021

Buttergebäck aus unserer Quartier-Confiserie (Quelle: bebie.luzern)
Gestern kurz nach 11 Uhr: Ich mache mich auf zu unserer Quartier-Confiserie. Ich will ein paar Schöggeli für das bevorstehende Osterfest kaufen. Der Laden steht in einem unansehnlichen Bau aus der Mitte des letzten Jahrhunderts. Vielleicht erinnert die Schlange davor deshalb an Bilder aus der DDR. Zwischen Verkehrsgetöse und Schaufenster stehen acht oder zehn Leute aufgehreiht in der steifen Bise*. Unsere Quartierconfiserie hat halt ein Renommée, das bis über den Stadtrand hinausreicht. Nach kurzem Zögern stelle ich mich in die Reihe, mit genügendem Abstand zum Vordermann. Ich stehe da eine Minute, da stellt sich eine alte Frau zwanglos in den Abstand, als ob sie mich gar nicht sähe. Ich lasse sie gewähren, sie geht am Stock, und es ist wirklich kalt. Drin sind vier Leute erlaubt, und dort ist dann schon viel weniger DDR. Es klaffen zwar ein paar Lücken in den Gestellen, der Ansturm dauert wohl schon ein paar Stunden. Aber da stehen immer noch reichlich Truffes-Torten, Osterhasen und Schoggi-Eier in allen Grössen, Zuckereier in allen Farben, dazu die üblichen Pralinés, Buttergebäck und Butterzöpfe. Als ich hereinkomme, lässt sich gerade ein älteres Ehepaar drei grosse Tortenschachteln in eine Tüte verpacken. Es ist ein beruhigendes Bild.

Ich wünsche Euch allen frohe Ostern, mit oder ohne Schoggi, mit oder ohne Verwandte und Freunde, zu Hause oder in der Ferne!

* kein Tippfehler – der trockene Nordwind, der hier manchmal bläst, heisst Bise.

Ein merkwürdiges Leseerlebnis

Zurzeit lese ich ein Buch von Fernando Pessoa. Sowas hätte ich früher nie gemacht. Ich habe Leute, die derart poetische Texte lesen, lange Zeit ein wenig belächelt. Und insgeheim bewundert, für ihre Geduld, ihre Leidenschaft für die Sprache. Meins war immer eher das Narrative. Hungrig auf Geschichten bin ich jederzeit. Wenn ich einen ganzen Tag lang tun könnte, was ich wollte, ich würde mir nur Geschichten erzählen lassen.

„Ach, die Poesie, die Sprachkünstelei, die lyrische Selbstverliebtheit! Das interessiert mich einfach nicht!“ sagte einmal der Newshund, ein Journalistenkollege. In der Freizeit liest er russische Klassiker. „Mich interessiert das Zwischenmenschliche, der soziale Konflikt.“ Ich nickte eifrig. Genauso geht es mir auch. Aber dann besorgte ich mir doch „Das Buch der Unruhe“. Auch an ihm interessierte mich zunächst vor allem das Zwischenmenschliche. Denn Erzähler dieser Texte ist der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares. Und der muss damit zurechtkommen, dass er eine Schattenexistenz in einem subalternen Job und als Junggeselle fristet.

Ich überlegte lange, ob ich es überhaupt mit dem Buch aufnehmen solle. 533 Seiten, das kostet Zeit – und als ich zögerlich zu lesen begann, merkte ich, dass ich nur langsam vorwärtskam. Oft lag ich abends lesend auf dem Rücken in meinem Bett wie auf einer scheinbar stillen Wasseroberfläche. Es fühlte sich an, als würde ich die tote Frau machen. Äusserlich bewegte sich nichts, aber innerlich machte ich ständig subtile Gleichgewichtsübungen, um auf den Strömungen dieses seltsamen Textes weiterschweben zu können.

„Ich schreibe meine Literatur wie ich Buch führe – sorgfältig und gleichgültig“, berichtet Soares. Und es ist diese Sorgfalt, diese gelassene Genauigkeit, die mich festhält. Dieser Erzähler hat null lyrische Selbstverliebtheit, null Begehren, die Leserin mit Kunststücken zu fesseln. Er beobachtet die Welt und sich selbst wie ein Unbeteiligter. Alles ist unfassbar gross. Und alles ist nichts, auch er selbst.

Es ist eines des merkwürdigsten Leseerlebnisse, die ich je gehabt habe. Abends lese ich und bin glücklich, am Morgen habe ich vergessen, was ich gelesen habe. Aber ich merke, dass ich anders zu schreiben beginne. Sorgfältiger.

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