Ein merkwürdiges Leseerlebnis

Zurzeit lese ich ein Buch von Fernando Pessoa. Sowas hätte ich früher nie gemacht. Ich habe Leute, die derart poetische Texte lesen, lange Zeit ein wenig belächelt. Und insgeheim bewundert, für ihre Geduld, ihre Leidenschaft für die Sprache. Meins war immer eher das Narrative. Hungrig auf Geschichten bin ich jederzeit. Wenn ich einen ganzen Tag lang tun könnte, was ich wollte, ich würde mir nur Geschichten erzählen lassen.

„Ach, die Poesie, die Sprachkünstelei, die lyrische Selbstverliebtheit! Das interessiert mich einfach nicht!“ sagte einmal der Newshund, ein Journalistenkollege. In der Freizeit liest er russische Klassiker. „Mich interessiert das Zwischenmenschliche, der soziale Konflikt.“ Ich nickte eifrig. Genauso geht es mir auch. Aber dann besorgte ich mir doch „Das Buch der Unruhe“. Auch an ihm interessierte mich zunächst vor allem das Zwischenmenschliche. Denn Erzähler dieser Texte ist der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares. Und der muss damit zurechtkommen, dass er eine Schattenexistenz in einem subalternen Job und als Junggeselle fristet.

Ich überlegte lange, ob ich es überhaupt mit dem Buch aufnehmen solle. 533 Seiten, das kostet Zeit – und als ich zögerlich zu lesen begann, merkte ich, dass ich nur langsam vorwärtskam. Oft lag ich abends lesend auf dem Rücken in meinem Bett wie auf einer scheinbar stillen Wasseroberfläche. Es fühlte sich an, als würde ich die tote Frau machen. Äusserlich bewegte sich nichts, aber innerlich machte ich ständig subtile Gleichgewichtsübungen, um auf den Strömungen dieses seltsamen Textes weiterschweben zu können.

„Ich schreibe meine Literatur wie ich Buch führe – sorgfältig und gleichgültig“, berichtet Soares. Und es ist diese Sorgfalt, diese gelassene Genauigkeit, die mich festhält. Dieser Erzähler hat null lyrische Selbstverliebtheit, null Begehren, die Leserin mit Kunststücken zu fesseln. Er beobachtet die Welt und sich selbst wie ein Unbeteiligter. Alles ist unfassbar gross. Und alles ist nichts, auch er selbst.

Es ist eines des merkwürdigsten Leseerlebnisse, die ich je gehabt habe. Abends lese ich und bin glücklich, am Morgen habe ich vergessen, was ich gelesen habe. Aber ich merke, dass ich anders zu schreiben beginne. Sorgfältiger.

11 Gedanken zu „Ein merkwürdiges Leseerlebnis“

    1. Oh, es war eigentlich gar nicht als Lesetipp gemeint 😀 Mehr als Auseinandersetzung mit dem, was ich da gerade so mache. Aber, stimmt, ich kann das Buch durchaus empfehlen.

  1. Ich habe noch keine Bücher von Pessoa gelesen, aber ich hatte mal einen Kalender, der jede Woche ein Zitat aus seinen Texten enthielt. Damals gefielen sie mir, ich habe den Kalender auch noch jahrelang behalten.

  2. schön, dass du durchgehalten hat. genau, wie du es sagst, war es bei mir auch: beim lesen war ich glücklich,,, pessoa ist speziell. er hat auch einige großartige prosagedichte in petto.

    1. Oh, noch habe ich nicht durchgehalten 🙂 Ich stehe ungefähr bei Seite 110. Aber wie meine englische Kollegin immer dagt: „Life’s too short to read bad books.“ In diesem Sinne denke ich, dass ich durchhalten und dafür auf den einen oder anderen Krimi verzichten werde. Und, wer weiss: Vielleicht reicht’s dann noch für einen Band mit Prosagedichten.

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