In der Warteschlange

Eins hat die Pandemie in der Schweiz verändert: Wir stehen sicht- und fühlbar Schlange. Zum Beispiel an Ostern vor der Confiserie, wie hier beschrieben. Aber auch anderswo.

Die ärgerlichste aller Warteschlangen ist unsichtbar. Es ist die Impf-Schlange. Am 15. April habe ich die dritte SMS mit exakt demselben Text vom Absender ImpfCovid bekommen: „Impf-News: Sie haben sich erfolgreich fürs Impfen angemeldet und sind in der Warteschlange. Sobald Impftermine frei sind, kontaktieren wir sie.“ Ich weiss nicht, wer auf die Idee kommt, eine solche Message als „News“ zu bezeichnen. Angemeldet habe ich mich am 14. Januar, ich bekam die Nummer 563990. Ich bin nicht die einzige, die allmählich ungeduldig wird. Neulich stand meine Freundin Beate unter der Tür, Tränen flossen ihr in die FFP2-Maske. Erst nach mehreren Versuchen verstand ich, was sie, Mutter dreier Schulkinder und Pendlerin, herausschluchzte: „Ich halte es einfach nicht mehr aus! Jetzt macht der Bundesrat wieder alles auf*, und ich habe immer noch keinen Imfptermin! Meine Freundinnen in Deutschland sind inzwischen alle geimpft!“ Ich konnte sie nicht mal umarmen.

Und die fröhlichste Warteschlange: An meinen Bürotagen stehe ich vor einer Bäckerei für mein Mittagessen an. In den Laden dürfen drei Personen, draussen steht manchmal fast ein Dutzend Wartende, die meisten aus den umliegenden Büros. Drinnen gibt es aufgewärmte Pasta, manchmal Hackbraten oder Riz Casimir, freitags Käsewähen und immer Salate. Ich würde lieber in unserer hauseigenen Cafeteria essen, aber die ist wegen Pandemie geschlossen. Manchmal stehen vier oder fünf Leute aus demselben Büro vor der Bäckerei und sind zum Scherzen aufgelegt. Das erheitert dann die ganze Schlange, auch mich. Obwohl ich nie verstehe, was sie sagen. Und nur dann, wenn ich vor Hunger nicht schon leicht gereizt bin.


Das Freigleis – zu normalen Zeiten tummeln sich hier Velofahrer*innen und Spaziergänger*innen aus dem urbanen Mittelstand. Zurzeit stehen hier ganz in der Nähe montags hungrige Migrantinnen und Migranten für Lebensmittel Schlange (Quelle: outdooractive.com).

Die traurigste ist die Warteschlange mit Essen für arme Leute: Ich bin ja auch gerade in Kurzarbeit und ging neulich an einem freien Montag mit einer Kollegin auf dem Freigleis spazieren. Nach wenigen hundert Metern passierten wir eine Warteschlange auf der Velospur. Da standen vielleicht sieben oder acht Menschen vor einem leeren Häuschen, mehrere Frauen mit Kopftüchern, eine mit Babywagen, ein junger Mann mit brauner Hautfarbe und Velo. Die Kollegin sagte laut: „Was ist das denn?!“ Da drehte ein vorbeieilender Jogger sich um und sagte: „Das ist eine Essensausgabe für arme Leute, stellen Sie sich das vor, mitten in der Schweiz!“ Eine kurze Recherche im Internet ergab: Die Gruppe Resolut verteilt dort immer montags gratis Lebensmittel an Bedürftige.

* Unsere Bundesregierung hat in ihrer unergründlichen Weisheit (*Sarkasmus off*) trotz steigender Fallzahlen beschlossen, die Fitnesszentren, Restaurant-Terrassen, die Theater und Kinos ab morgen wieder zu öffnen, Hier erklärt sich Gesundheitsminister Alain Berset.

7 Gedanken zu „In der Warteschlange“

  1. Ähnliches gibt’s bei mir auf der Arbeit in der Mittagspause. Die Kantine musste schließen, dafür trifft man an der Pizzabude gegenüber eigentlich immer irgendwelche Kolleginnen.

  2. In Berlin gab es schon vor der Pandemie vielfältige Essensausgaben. Jetzt sind es viel mehr geworden, denn die Not wird immer größer. Es sind immer mehr Familien mit Kindern, die man dort sieht. Im Winter bei Schnee saßen alte Leute teilweise auf Bordsteinen um die Mahlzeit, die sie aus einem Foodtruck erhalten haben, aufzuessen. Gerade war eine Frau in unserer WG zu Besuch (akademischer Abschluß – aufgrund derSituation arbeitslos), die gefragt hat, ob sie etwas zu essen bekommen kann, und sie war nicht die einzige heute.

    1. Oh, das ist schrecklich! Ich weiss, dass die Renten für viele alte Menschen in Deutschland fast nicht reichen, und dass die Mieten in Berlin sehr hoch sind. Es ist traurig, dass wir wieder in solchen Zeiten leben. Hier sieht man die Armut normalerweise nicht – es gibt Läden, wo die Leute günstig Lebensmittel kaufen können. Meist reicht dann die Sozialhilfe. Jetzt, in der Pandemie, trifft es vor allem Sans-Papiers. Sie lebten vorher schon unter prekären Bedingungen, im Lockdown verloren sie ihre Jobs. Es gehörte zu den verstörendsten Bildern des ersten Lockdowns, dass es plötzlich Bilder von langen Schlangen für Essensausgaben mit elementaren Lebensmitteln wie Teigwaren und Reis gab.

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