Schwerhörigkeit, Lektion 1

„Mann, wie gut ihr unsere Nachbarn kennt!“ sage ich staunend zu Herrn und Frau Buddha. Die beiden wissen sogar, in welcher Wohnung die meisten Leute hier genau wohnen. Ich füge hinzu: „Ich bin da eher zurückhaltend. Ich überlege mir bei jeder Begegnung: ‚Wenn ich diese Person anspreche, muss ich ihr wahrscheinlich auch sagen, dass ich schwerhörig bin. Denn wenn die Akustik nicht optimal ist, werde ich ihre Antwort beim ersten Mal nicht verstehen, und vielleicht auch nach zwei Wiederholungen nicht. Lohnt sich das wirklich?'“

„Ja, aber, Mona, das musst Du doch den Leuten sagen!“ ruft Herr Buddha. „Du kannst Dich doch nicht so zurückziehen, sonst bist Du plötzlich total isoliert!“ Die beiden sind bei uns zum Nachtessen, und ich bin sicher, er will mich nicht belehren, sondern meint es gut.

„Ja, da hast Du recht“, sage ich, „Aber weisst Du: Ich müsste das bei jeder Begegnung tun, den ganzen Tag. Im Büro, in der Stadt, überall. Ich überlege mir, ob es sich wirklich lohnt, einen Laden zu betreten und ein womöglich peinliches Gespräch mit dem Verkäufer zu riskieren. Ich muss entscheiden, ob ich im halligen Treppenhaus einer Nachbarin einen schönen Abend wünsche. Wenn sie dann nicht ‚danke gleichfalls‘ sagt, bin ich verloren. Ich muss das auch Leuten sagen, denen ich es schon zweimal gesagt habe, denn sie vergessen es mit Sicherheit. Das ist anstrengend. Oft weiche ich den Leuten deshalb einfach aus.“

Herr Buddha wiegt nachdenklich den Kopf.

Eine schwerhörige Bekannte von mir hat schon gesagt: „Ich sage ‚es‘ nur Leuten, von denen ich denke, dass sie mir wohlgesonnen sind.“ Aber sie ist nur auf einem Ohr taub. Ich bin auf beiden Ohren hochgradig schwerhörig. Wenn ich etwas sage und dann die Antwort nicht verstehen, denken meine Gesprächspartner womöglich, ich sei nicht so hell auf der Platte. Oder unfreundlich. Aber dass ich unfreundlich und etwas merkwürdig bin, denken sie wohl sowieso – gerade, weil ich nichts sage.

Man nennt es das Dilemma der Schwerhörigkeit.

8 Gedanken zu „Schwerhörigkeit, Lektion 1“

  1. Das stelle ich mir auch schwierig vor. Ich würde wohl so wie du agieren. Lieber Rückzug, als Peinlichkeiten erleben. Ich würde vermutlich auf meine Hörgeräte deuten und dazu sagen, dass ich schwerhörig bin. Vielleicht würde das sogar schon reichen?

    Entschuldige übrigens, dass ich selten kommentiere. Die Kommentarfunktion klappt über den Reader bei dir leider nie. Ich lese aber alles 🙂

    1. Danke Dir, Milou! Das ist ein verständnisvoller Kommentar, der mich sehr freut. Merkwürdigerweise sieht man bei mir die Hörgeräte nur schlecht, obwohl ich eine Kurzhaarfrisur trage. Manchmal ziehe ich sie nach vorne beim Sprechen, so dass man es sieht. Ich denke, ab einem gewissen Grad von Schwerhörigkeit ist die Schwerhörigkeit ein Lernprozess für beide an der Kommunikation beteiligten Seiten. Ich freue mich immer, wenn jemand bereit ist, mich auf diesem Weg zu begleiten, egal wie, auch mit Blog-Kommentaren 🙂 Aber ich weiss, selbst dafür gibt es technische Hindernisse 😀

  2. Für Schlecht-Sehende gibt es doch diesen überall-bekannten gelben Sticker bzw. Armbinde mit den drei schwarzen Punkten, so dass sie nicht jedem immer wieder erzählen müssen, dass sie schlecht sehen.
    Warum gibt es so etwas nicht auch für Schwerhörige?

    1. Gute Frage! Ich bin, ehrlich gesagt, auch nicht sicher, dass ich so eine Binde tragen würde. Ich hatte eine Phase, da dachte ich, natürlich würde ich das tun. Im Moment denke ich eher: Nö, ich möchte nicht auf meine Behinderung aufmerksam machen, noch bevor die Leute zum ersten Mal mit mir gesprochen haben. Vielleicht müsste man es von Situation zu Situation handhaben. Muss mal herumfragen, wie meine schwerhörigen Kolleginnen und Kollegen das sehen. Man könnte sowas auch als Input bei einer Hörbehinderten-Organisation abgeben, wenn dafür ein Bedarf bestünde. Ich kenne Leute, die das Problem mit sehr farbigen Cochlea-Implantaten entschärfen. Muss mal fragen, ob sich das im Alltag bewährt.

    2. Es gibt vereinzelt Armbinden oder Anstecker mit einem Ohrensymbol, die darauf hinweisen, dass der Träger (m/w/d) hörbeeinträchtigt ist. Ich habe selbst vor Jahren über meinen Schwerhörigenverband einen Anstecker erhalten.
      Getragen habe ich ihn erst, seit die Maskenpflicht eingeführt worden ist. Aber besonders erfolgreich bin ich nicht damit gewesen, weil die meisten Leute die Bedeutung des weißen gestrichelten Ohres auf blauem Hintergrund nicht bewusst ist. Also staubt der Anstecker wieder vor sich hin…

      Auch dank C habe ich meine Haare nun etwas länger als sonst und binde ihn öfters mit einem Zopf zu. Somit werden meine Hörgeräte schreiend sichtbar und dieser positive Nebeneffekt zieht viel mehr als der blaue Anstecker. Ich bin in letzter Zeit sehr oft aufmerksamen Menschen begegnet, die einfach nur meine blossgestellten Hörgeräte gesehen haben und fragten schon, ob sie die Maske herunterziehen sollen oder bemühten sich viel mehr um Gestik.

      1. Ich habe ein merkwürdiges Gefühl, wenn ich mir vorstelle, eine Armbinde zu tragen. Ich würde mich damit so richtig invalide fühlen. Ich hätte Mühe damit und verstehe, dass Du die Armbinde nur selten trägst. Im Prinzip müsste es reichen, wenn man den Leuten sagt: „Sprechen Sie langsam und schauen Sie mich an beim Sprechen.“ Mir fällt grad auf, dass Nachbarschaft das Schwierigste ist. Beim Arbeiten stellt man sich vor, wenn jemand neu ist, und da kann man es gleich sagen. Bei Nachbarn leben die Kontakte zunächst von kurzen Konversationen über das Wetter und so oder einem Witzchen. Schwierig.

        1. Ich stehe dazu, ich geniere mich, eine Armbinde zu tragen. Stattdessen habe ich einen Anstecker, leider habe ich kein Foto von mir mit Anstecker gemacht.
          https://sori1982.wordpress.com/2020/07/07/hoergeraete-tagebuch-15/

          Aber wie schon oben erwähnt, ist der Anstecker – bis auf wenige Ausnahmen – komplett untergegangen, als ich ihn spazieren führte.

          So wie Du mache ich das auch meistens, dass ich die Leute einfach darauf hinweise, dass sie deutlich sprechen und mich ansehen sollen.
          Mit meinen Nachbarn wechsel ich kein Wort und es gibt immer einen Teil von Arbeitskolleg:innen, egal wo ich gearbeitet hatte, die jedes Mal darauf vergisst, dass ich schwerhörig bin.

          1. Das mit den Nachbarn finde ich eigentlich sehr schade. Und die Arbeitskolleg*innen, ach Gott! Einige können es sehr gut, aber meinem Stellvertreter müsste ich täglich sagen, dass er beim Sprechen die Hand vom Mund wegnehmen soll; dass er deutlich sprechen und dass er mich ansehen muss. Ab einem gewissen Alter können viele Menschen ihre Verhaltensweisen nicht mehr ändern, es ist krass.

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