Ätzende Kritik an „Nomadland“

Frances McDormand bekam für ihre Rolle in „Nomadland“ einen Oscar als beste Schauspielerin (Quelle: variety.com)
„Nomadland“ war einer der grossen Oscar-Renner des Jahres 2021. Neben Frances McDormand bekam auch Regisseurin Chloé Zhao eine Auszeichnung. Es geht im Film um ältere Leute in den USA, denen das Geld nicht mehr zum Wohnen und sowieso nicht für den Ruhestand reicht. Sie streifen mit Campern durchs Land, von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob. Kaja und ich waren uns einig: Man muss ihn gesehen haben – und begaben uns gestern Abend ins Open Air Kino.

Auf dem mitternächtlichen Spaziergang zurück in die Stadt dann unser übliches Spielchen. „Hat er Dir gefallen?“ fragt sie. Ich: „Ja, ganz gut. Die Würde und Unerschrockenheit dieser vom Leben verarschten Leute… .“

Kaja lässt mich kaum ausreden, sie muss ihrem Ärger Luft machen. „Ich mochte schon den letzten Film von Chloé Zhao überhaupt nicht, ‚The Rider‘, erinnerst Du Dich?!“ schimpft sie, „Diese endlosen Einstellungen von traumhaft schönen Landschaften! Das romantisiert doch die missliche Lage dieser Menschen! Und von wegen Würde und Unerschrockenheit! Bestimmt sind diese Leute oft unglücklich und entnervt! Ich meine: Wenn Du so lebst, dann verlierst Du wahrscheinlich zehn oder fünfzehn Jahre Lebenserwartung, einfach, weil es so stressig ist. Und diese Leute arbeiten bei Amazon! Da müsste man doch genauer erfahren, was das für ausbeuterische Arbeitsverhältnisse sind!“

Man muss es Kaja lassen, sie hat recht. Und gleichzeitig beharre ich auf meiner Sichtweise: Ich finde es tröstlich, vielleicht auch für die Betroffenen selbst, dass der Film auch eine bejahende Wahrnehmung dieses Lebensstils zulässt. Schicksal oder Flucht in eine prekäre Art von Autonomie? Der Streifen lässt vieles offen, aber er hat auch entlarvende Szenen. Zum Beispiel da, wo die Heldin Fern ihre Schwester besucht, deren Mann im Immobilienbusiness reich geworden ist. Was für eine Heuchelei! Ich finde, man kann Kajas und meine Sichtweisen mal einfach so nebeneinander stehenlassen.

Trotzdem, ich habe jetzt ein bisschen Material zum Film gesammelt. Ich finde es wissenswert, dass er auf einem Buch der Autorin Jessica Bruder basiert (hier mehr darüber). Dort gibt es Informationen zu den Workampers, die im Film nicht explizit erwähnt sind.

Und zu Amazon: Der Versandgigant heuert in den USA jährlich in den drei Monaten vor Weihnachten um die 1400 Camper-Nomaden an, eine beschönigend Camperforce genannte Truppe. Diese temporären Angestellten bekommen einen Abstellplatz für ihren Wagen und arbeiten zu einem tiefen Stundenlohn in Zwölfstundenschichten. Und, im Zusammenhang mit Amazon auch von Interesse: Im Amazon-Hauptsitz Seattle stiegen die Mieten wegen Amazon ins Unermessliche – und damit wuchs auch die Obdachlosigkeit. Die Stadt Seattle wollte diesem Elend ein Ende bereiten und die Unternehmenssteuer erhöhen, um mehr Häuser zu bauen. Da drohten die Amazon-Chef*innen, den Firmensitz zu verlegen – und bauten statt dessen Unterkünfte für ihre Angestellten. Mit mässigen Erfolg, wie man hier nachlesen kann. Letzteres weiss ich schon seit einer Weile und kaufe deshalb nicht mehr bei Amazon ein.

26 Gedanken zu „Ätzende Kritik an „Nomadland““

  1. Ich habe „Nomadland“ bisher nicht gesehen. Oft dürften die Oscar-prämierten Filme nicht immer die besten zu sein. Aber in letzter Zeit scheint es mir, dass die Academy Awards nicht mehr nach den filmischen Leistungen, sondern nur mehr aus politischen Gesichtspunkten (Geschlecht, Herkunft und ähnliches) vergeben werden.
    Ohne diese Leistungen dieser Menschen schmälern zu wollen, kommt es mir doch vor, die jüngsten Oscar-Galas arten zu „Entschuldigung“-Veranstaltungen aus.

    Und das große A: Seit knapp vier Jahren kaufe ich dort nicht mehr ein und habe im Zuge dessen mein Kundenkonto aufgelöst.

    1. Ja, diesen Verdacht finde ich im Fall von „Nomadland“ legitim. Hollywood sagt: „Sehr her, wir haben ein soziales Gewissen! Wir haben Euch Underdogs nicht vergessen.“ Dabei ist der Verdacht, dass vieles arg geschönt ist, total legitim.

  2. Amazon-Chef*innen ist ja wohl ganz falsch gegendert. Absicht? Naja, Chef*s/innen dürfte auch falsch sein. Mit dieser Genderei kann man das ganze Lesevergnügen boycottieren und die Aufmerksamkeit von dem ablenken, was Dir im Text eigentlich wichtig war. Kann natürlich sein, dass ich nur von mir rede. Von wem soll ich sonst reden? Nix für ungut.

  3. Ach, das tut mir leid, dass Dich dieses eine Sternchen jetzt vom Wesentlichen ablenkt. Zum Glück kommt es ganz am Schluss, vielleicht ist das Wesentliche doch eingesunken und kommt wieder zum Vorschein, wenn sich der Ärger gelegt hat. Warum findest Du es auf diese Art falsch gegendert?

      1. Die Männer sind da mitgemeint, lieber Dieter. So fühlt sich das an, wenn man mitgemeint ist. Ich weiss nicht, ob Chef*innen im Sinne der Erfinder*Innen ist, aber Chefs*innen kann es wohl nicht sein… Es tut mir leid, wenn ich Dich hier ein bisschen vor den Kopf stosse. Ich finde das in diesem Fall zulässig.

        Hier noch ein Link zur Erläuterung:

        https://geschicktgendern.de/gendersternchen-anwenden/

        1. Irgendwie nervt mich dieses ganze Gendern, weil es eine Verhunzung, der deutschen Sprache ist. Aber so, wie man Feuer mit Feuer bekämpft, wird man dem Gendern nur durch „Überverhunzug“ beikommen, wie du es am Beispiel von „Chefs*innen“ demonstriert hast.
          Oder wenn sich mehrere Frauen um den Posten des Innenministers bewerben, dann sind das Innen-Minister*innen-Kandidat*innen.

          1. Wie sich die unreflektierte Gendersternsingerei zum schieren Flachsinn auswachsen kann:
            Wie viele der Islamisten, die in Kabul durch die Straßen ziehen und Männer, Frauen & Kinder umbringen, weiblich sind, ist nicht bekannt. Ebensowenig, ob diese sich diskriminiert fühlen möchten, wenn sie nicht gegendert würden.

          2. Wisst Ihr was?! Dieses eine Gendersternchen hat jetzt so viel Aufsehen erregt, dass ich es wieder hinsetze. Sonst haben wir hier einen langen Thread über ein mitgemeintes Gendersternchen, das man nicht sieht. Das darf nicht sein, denn es würde meine werten Herren Vorredner dem Verdacht aussetzen, dass sie sich über ein Thema ereifern, das im Text gar nicht existiert. Für alle, die das Sternchen dennoch fast nicht finden: Es steht im allerletzten Abschnitt. Wer gerne den ganzen Rest lesen und sich darüber einen oder zwei Gedanken machen möchte: bitte sehr!

    1. Ok, ich ändere das in Chefs/Chef*innen. Wir wollen ja niemanden benachteiligen, nicht einmal Chefs 🙂 Ich bestehe aber auf das *innen, denn die Person, die in den Berichten für das Amazon-Obdachlosenprojekt-Projekt geradegestanden ist, war eine Frau.

  4. Eine Hollywoodproduktion die auf Preisgewinn hin optimiert wurde hat «ihren Auftrag» vielleicht erfüllt, wenn Menschen dadurch zum nachdenken angeregt wurden.

    1. Guter Punkt. Das sehe ich eigentlich auch so. Irgendwann im Verlauf der Diskussion habe ich dann gesagt: „Wenn der Film all dieses Elend gezeigt hätte, hätte kein Mensch ihn sehen wollen.“ Dann ist mir aber eingefallen, dass Michael Moore Filme gemacht hat, bei dem solche Themen durchaus explizit zur Sprache kamen. Halt mit diesem umwerfend satirischen Humor, der ein sehr schräges Schlaglicht auf die gebrochenen Versprechen des amerikanischen Traums warf.

      1. Als Dokumentation hätte Nomadland mehr Salz in die Wunden streuen können. Aber die Zeit der großen Dokumentationen scheint auch vorbei zu sein. An Inconvenient Truth ist da die letzte große Sache in meiner Erinnerung, die erst im Kino und dann im Fernsehen lief.
        Hmm, vielleicht würde dies inzwiwchen nicht mehr funktionieren, weil alle Gesellschaftsschichten derart geschunden wurden, dass die Hornhaut einen weniger spüren lässt.

  5. Schade, „An Inconvenient Truth“ habe ich leider verpasst. Ist er gut? Und wieso glaubst Du, dass die Zeit der grossen Dokus vorbei ist?

    1. Inzwischen ist es leider keine Dokumentation sondern ein Tatsachenbericht. Hmm, «An Inconvenient Truth» war trocken, aber gut präsentiert.
      Die großen Medienhäuser geben meines Wissens nach nichts mehr in Auftrag und man hat so viel «unabhängig» produziertes auf YouTube.
      Vielleicht muss ich auch nur meine Fühler ausstrecken; bevor wir den Fernseher abschafften, lief im lokalen Fernsehen zumindest einmal in der Woche eine Dokumentation. Beim momentanen Landesmanagement fürchte ich, dass die Zeit inzwischen einem Standbild des Kanzlers weichen musste.

      1. Dabei hatte Österreich so grossartige Dokus! Sehr schade! In der Schweiz gibt es die Dok-Kultur noch, Doks werden zum Teil vom Schweizer Fernsehen mitproduziert, zum Teil mit eigenen Finanzierungsmodellen der Filmautoren. Der letzte, den ich gesehen habe: Vamos! von Silvia Häselbarth, über Frauen und Männer im mittleren Alter, die sich neuen Herausforderungen stellen müssen. Interessanter Kontext zu Nomadland, fällt mir grad ein 🙂

        1. Es liegt wahrscheinlich am Rauswurf des Fernsehers und Elternschaft, dass ich da nicht mehr aufmerksam genug bin.
          Neue Herausforderungen … inzwischen müsste unsere Gesellschaft als Ganzes zusammenkommen und sich fragen, ob Sie es gerne wie im Nomadland hätten…

          1. Du hast den Fernseher rausgeworfen?! Sehr klug, finde ich! Und Deine Bemerkung zu „Nomadland“. Ja, das müssten wir. Der eigentliche Skandal an der Situation in „Nomadland“ ist ja, dass der Staat nicht mehr imstande ist, Leuten, die ein Leben lang gearbeitet haben, eine angemessene Rente zu zahlen.

          2. Wegen Streaming und den diversen Mediatheken haben wir uns entschieden, «linearem» Fernsehen den Rücken zu kehren. Die Zerstreuung fiel dadurch weg.
            Und die Nomadland Situation ist leider schon Alltag in Mitteleuropa, und die Leute zeigen immer noch auf die USA und schimpfen…

          3. Interessante Entwicklung mit dem „linearen“ Fernsehen. Selbst Netflix-Abonnentin und häufige Nutzerin, verfolge ich diese Abwendung vom öffentlich finanzierten Fernsehen, überhaupt von den öffentlich finanzierten Medien, doch mit grosser Sorge. Im Moment scheint unwahrscheinlich, dass sie mich selbst ins Nomadland katapultieren wird. Aber nichts ist unmöglich, wie die Pandemie gezeigt hat.

            Dass viele Menschen schon dort gelandet sind – insbesondere in Deutschland – ist mir bewusst. Hier in der Schweiz sind die Wohnungen teuer, aber für die meisten noch erschwinglich. Sieht es in Österreich ähnlich aus wie in Deutschland?

          4. Da bin ich bei Dir: die Lage der öffentlich finanzierten Medien bereitet Sorge. Aber ich zahlte meinen Beitrag trotzdem weiter, und der neue Intendant des ORF verkündete bereits, dass er einem Format für unseren Kanzler nicht im Wege steht, sollte die Redaktion dieses Vorschlagen…

            Bei uns sind schon lange—vor allem Frauen—im Nomadland. Nur ist der Österreicher «zu stolz» um sich Hilfe zu holen. Der Wohnungsmarkt ist bei uns ebenfalls ein Mienenfeld. Aber das große Gentrifizierungsprojekt in unserer Nähe scheiterte daran, dass es den «Bobos» dann doch zu … proletenhaft war.

          5. Ein Format für den Kanzler?! Das klingt ja wie „Wir sind Kaiser“, nur ohne Satire 😀

            Das mit der Wohnungsnot finde ich ganz furchtbar! Ich muss jetzt allerdings gestehen, dass wir mittlerweile selbst zu den Bobos gehören, wenn auch nicht ganz freiwillig. Aber als wir hier in die neuen Häuser eingezogen sind, konnten wir gegenüber noch die Mieter in den letzten stehenden Häusern der alten Siedlung sehen. Die Unterschiede stachen ins Auge. Immerhin wohnen wir in Genossenschaftswohnungen. Nützt denn der städtische Wohnungsbau in Wien nichts mehr? Noch 2019 haben wir die tollen Ausstellungen in Wien darüber besichtigt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es in Wien eine Wohnungsnot gibt.

          6. «Wir sind Kaiser» war eine Warnung; die Österreicher wollen so jemanden in Staatstragender Position. Sah man schön mit Herren Strache, da meinten überraschend Viele, dass Sie genauso gehandelt hätten.
            https://zackzack.at/2021/08/11/orf-weissmann-hat-gegen-eigene-kanzler-sendung-nichts-einzuwenden/

            Der städtische Wohnungsbau funktioniert, aber die Mieten sind oft auf hohem Niveau bzw. liegt die Mietanpassung bei Neuvermietung oft bei +100%. Die Lohnstruktur bzw. Abgabenstruktur ist inzwischen ein treibender Faktor, im Vergleich zu anderen europäischen Städten, sind wir in Wien wahrscheinlich günstig.

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