Die gute Nachricht

Ich hatte mir für den heutigen Abstimmungssonntag schon allerhand Zitate von Hannah Arendt zurechtgelegt, die der Menschheit die Vernunft weitgehend absprechen. Ich war wirklich nervös diesmal. Nachdem aber rund 62 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger Ja zum aktualisierten Covid-19-Gesetz gesagt haben, habe ich wieder Vertrauen, dass die Demokratie in der Schweiz doch einigermassen stabil ist.

Im Nachhinein darf man meinen Pessimismus gerne belächeln. Aber ich hatte in den letzten Wochen im Büro mit derart vielen militanten Covidskeptikerinnen und -skeptikern zu tun, dass ich um ein gewisses Verständnis bitte. Dieser Urnengang fühlte sich an wie ein Waffengang. Auch, weil die Landschaft weit und breit mit Nein-Plakaten geradezu zugepflastert war. Die Gegner hatten Geld wie Heu, und das macht Angst.

Nun dümple ich zufrieden in den Sonntagabend. Ab morgen mache ich mir dann meinetwegen wieder Sorgen um die epidemiologische Lage. Nicht mehr heute Abend.

Notfall-Drill mit Telefon

Der Phonak Compilot, mein Helfer beim Telefonieren.
Aus allseits bekannten Gründen bereite ich mich mental auf ein medizinisches Worst Case-Szenario vor, das da wäre: Eine mir sehr nahestehende Person liegt im Bett, ringt um Luft und kann nicht mehr selber telefonieren (ich wage es nicht, diese Person hier beim Namen zu nennen. In dieser Hinsicht bin ich wie die weniger heldenhaften Zauberer in Harry Potter. Das Böse versuche ich von mir fernzuhalten, indem ich es nicht gänzlich in Worte fasse). Ich bin allein mit dieser Person und muss also selbst die Ambulanz herbeitelefonieren.

Das Problem ist: Ich kann nur noch mit grösster Mühe und einem Hilfsmittel telefonieren. Das Hilfsmittel heisst Phonak Compilot II und überträgt den Schall vom Telefon via Bluetooth direkt auf meine Hörgeräte. Auch mit Hilfe dieses Streamers verstehe ich meist nicht so richtig, was man mir sagt. Aber ich höre es wenigstens, wenn auf der anderen Seite jemand spricht.

Mit Herrn T. exerziere ich durch, was ich im Notfall tun müsste. Im Moment bin ich, so glaube ich jedenfalls, durchaus im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte. Aber ich ahne, was Panik mit mir machen könnte. Deshalb braucht es jetzt diesen Drill. Ich fange an: „Ich muss den Streamer immer in Bereitschaft haben – das heisst: Ich muss regelmässig seinen Akku aufladen. Wenn es soweit ist, muss ich den Streamer umhängen, ihn einschalten und die Nummer 144 anrufen. Es ist 144, oder?“ Herr T. nickt. Ich habe die beunruhigende Tendenz, 144 mit 142 zu verwechseln. Im Falle eines Falles könnte eine solche Verwechslung unnötig Zeit kosten, ich werde es also täglich repetieren: Die richtige Telefonnummer für medizinische Notfälle ist 144.

Wenn die Person am anderen Ende sich meldet, muss ich sagen: „Guten Tag, ich habe hier einen medizinischen Notfall. Ich bin schwerhörig, bitte sprechen Sie langsam und deutlich.“ Die Person am anderen Ende wird etwas sagen, was ich bestenfalls verstehe, aber vielleicht auch nicht. Ich werde genau beschreiben, was mit der kranken Person los ist.

Herr T. nickt.

„Und dann werde ich sagen: ‚Ich glaube, Sie müssen eine Ambulanz schicken und ihn holen.'“

Herr T. nickt und wartet, ich weiss nicht auf was. Dann sagt er: „Du musst aber unbedingt Deine Adresse angeben und sagen, bei welchem Namen die Leute von der Ambulanz klingen müssen.“

Wenn das Chaos ausbricht

Der griechische Historiker Thukydides wusste aus Erfahrung, wie Menschen sich während einer Seuche verhalten. (Quelle: phil.uni-mannheim.de)
Die Fallzahlen steigen auch in der Schweiz. Die Bundesregierung in Bern beobachtet wieder mal untätig die Lage. Dafür sind die Massen in Aufruhr. In Zürich demonstrieren Tausende gegen 3G und das Covid-19-Gesetz. Was das für Leute sind, bekomme ich aus beruflichen Gründen besser mit als mir lieb ist. Sie verstecken sich hinter einem Haufen pseudowissenschaftlichem Bullshit. Aber in Wirklichkeit sind ihre Motive ganz einfach: Die Mehrheit will für ein 3G-freies Bier ohne zu zögern die eigene Grossmutter an den Sensemann verkaufen. Die Anspruchsvolleren wollen dazu auch gleich noch einen neuen Staat. Sie sind für ihre Umsturzpläne bei Donald Trump in die Lehre gegangen, das erkennt man an der Konstruktion ihrer Lügen. Und dann gibt es noch Leute, die echte existenzielle und/oder psychische Probleme haben, über die man aber wenig weiss. Nur so viel ist bekannt: In der Innerschweiz leiden viele an einem Wahn, bei dem sie sich für Wilhelm Tell halten und Gesundheitsminister Alain Berset in Bern für den fremden Vogt. Solche Menschen haben im Massenaufruhr ihr Glück und ihre Heimat gefunden.

Bei Herrn T. und mir geht es gesetzter zu und her. Wir hatten Bekannte hier zu Kaffee und Zuger Kirschtorte, alle geimpft, und wir hielten Abstand. Als der Besuch gegangen war, blätterte ich in leicht melancholischer Stimmung in „Krankheit als Metapher“ von Susan Sontag. Es gibt dort eine kurze Passage über Epidemien: „Wie jede Extremsituation bringen gefürchtete Krankheiten das beste und das Schlimmste im Menschen zum Vorschein“, schreibt sie. „Die üblichen Erzählungen über Epidemien betonen jedoch die verheerende Wirkung der Krankheit auf den Charakter. Je weniger sich der Chronist auf die Annahme stützt, dass die Seuche eine Strafe für die Schlechtigkeit der Menschen ist, desto eher wird die Chronik den moralischen Verfall betonen, der sich bei der Ausbreitung der Krankheit manifestiert. Thukydides berichtet anschaulich, auf welche Art und Weise die attische Seuche von 430 vor Christus Unordnung und Gesetzlosigkeit säte (‚das Vergnügen eines Moments nahm den Platz der Ehre und des klaren Denkens ein‘.)“*

Als ich das im Frühjahr 2020 zum ersten Mal las, schien es wenig mit Covid-19 zu tun zu haben. Aber wie heil mir die Welt von 2020 bereits scheint! Damals hatten wir zwar einen Schock und einen Lockdown. Aber noch keine „Liberté!“ skandierenden Menschenmassen.

Zum Schluss nur noch dies: Wer will, dass in der Schweiz das klare Denken die Oberhand behält, stimmt am 28. November Ja zum Covid-19-Gesetz,

*Susan Sontag: „Illness as Metaphor and AIDS and its Metaphors“, New York, 1990, Seiten 40 und 41, aus dem Englischen übersetzt von Frau Frogg.

Böse Schwerhörige

Ein Kindertretrad, hier Likeabike
genannt, ist handlungstreibendes Element dieser Geschichte. Quelle: babyjoe.ch
Man sagt, viele Schwerhörige würden zu besonderem Misstrauen ihren Mitmenschen gegenüber neigen. Wenn sie etwas missverstünden, würden sie immer gleich das Negativste über den Sprecher oder sich selbst denken. In älteren Texten ist sogar von einem Hang zur Paranoia die Rede. Bis vor wenigen Tagen war ich überzeugt, dass das bei nicht so sei. Ich habe mich aus familiären Gründen schon als Teenager mit dem Phänomen Verfolgungswahn (ohne Schwerhörigkeit) auseinandersetzen müssen. Damals legte ich für mich eine Lebensmaxime fest: „Wenn Du nicht mit Sicherheit weisst, ob jemand etwas Fieses zu Dir oder über Dich gesagt hat, dann stellst Du am besten gar keine Vermutungen an.“ Bis jetzt habe ich das leidlich durchgehalten.

Am letzten Sonntag bin ich gänzlich unerwartet gescheitert.

Es passierte auf einem Spaziergang mit Herrn T. auf einem etwa zwei Meter breiten Weg am Stadtrand. Wegen meiner Instagramsucht musste ich einen kurzen Fotostop einlegen. So holte ein junger Papa mit zwei quengeligen Kindern hinter uns auf. Ich hörte ihn noch entnervt sagen: „Nein, Alma, hör jetzt auf damit!“ Dann näherte sich pfeilschnell eines der Kinder auf einem Likeabike. „Tsiite!“ sagte das Kind mit verkniffenen Lippen, und wir wichen gehorsam aus. „Tsiite!“ ist Schweizerdeutsche Kurzform für: „He, zur Seite, aber dalli!“ „Tsiite!“ sagten wir als Kinder, wenn wir jemandem auf respektlose Art mitteilen wollten, dass er oder sie uns im Wege war.

„Was für ein ungezogener Goof!*“ dachte ich.

Schon nach zehn Metern hielt die Kleine an. Es handelte sich um ein vielleicht vierjähriges Mädchen mit langem, honigblondem Haar, wahrscheinlich jene Alma, die kurz zuvor von ihrem Vater aus der Contenance gebracht hatte. Vor uns lag die Durchgangsstrasse. Das Kind wollte sie wohl nicht ohne den Papa überqueren, der mit seinem zweiten Kind im Wägeli immer noch hinter uns ging. Als wir an der Kleinen vorbeigingen, musterten wir einander. Sie hatte ein zum Erbarmen bekümmertes Gesicht, der Eklat mit ihrem Vater ging ihr wahrscheinlich nahe. Sie sah überhaupt nicht ungezogen aus. Ich wollte jetzt mehr wissen. Kaum konnte ich davon ausgehen, dass wir ausser Hörweite waren, fragte ich Herrn T.: „Du, hat die Kleine wirklich „tsiite“ gesagt?“

Herr T. schaute mich verwundert an. „Nein“, sagte er, „sie hat ganz einfach ‚grüzei‘ gesagt.“

Es brach mir fast das Herz, dass ich sie nicht zurückgegrüsst hatte.

* „Goof“, ist ein despektierliches schweizerdeutsches Wort für Kinder, „Saugoof“ die Steigerung.

Instagramsüchtig

Eines meiner „meistgelikeden“ Instagram-Bilder. Atlasfigur an der Tür des Luzerner Hotels Palace, das gerade umgebaut wird.
Falls Ihr Euch gefragt habt, warum ich so selten schreibe: Ich bin wieder mal instagramsüchtig. Das kommt bei mir in Schüben. Diesmal liegt es daran, dass wir einen goldenen Herbst gehabt haben, zwei Monate kobaltblauen Himmel und Laub in allen Farben. Ausserdem habe ich ein neues Handy und mithin eine bessere Kamera.

Ich gebe mich Instagram nicht ohne schlechtes Gewissen hin. Dieses ständige Schielen nach neuen „Likes“ hat etwas Zwanghaftes. Meine angestrengte Suche nach den besten Hashtags hat dazu geführt, dass an mehreren Orten in unserer Wohnung unordentliche Listen mit solchen herumliegen. Und dann die idiotischen Fragen, die ich mir so stelle: Soll ich den Hashtag #abandoned (den man normalerweise für verfallene, leerstehende Häuser braucht) auch für den Helden aus Sandstein im Bild links verwenden? Verstehen alle die Anspielung, wenn ich den Hashtag „#notimetodie“ setze? Sehen andere die Ähnlichkeit mit James Bond auch? Wie auch immer, das Bild schlug ein: Ich habe bis dato 258 „Likes“ dafür bekommen, zwei- bis dreimal so viel wie für meine anderen Bilder. Ich habe einen Hammer-Hashtag gefunden, aber den verrate ich nicht. Überhaupt: Was sind „Likes“ denn für eine Messgrösse?

Eine grosse Schweizer Tageszeitung warf kürzlich die Frage auf, ob man bei Facebook überhaupt noch mitmachen dürfe – und diese Frage darf ruhig für Instagram auch gelten, denn das der Laden gehört ja Facebook. Ganz abgesehen davon, dass ich dem Konzern ohne nachzudenken Informationen über mich und jeden meiner unschuldigen Spaziergänge liefere – ich mache da auch bei einem Spiel mit, das junge Frauen magersüchtig macht, auf dem auch Menschenhändler ihr Unwesen treiben, und das Hass und Hetze sät. Dabei will ich meine Follower nur auf kleine Reisen mitnehmen.

Und dann ist da noch der Umstand, dass ich mir vorgenommen hatte, wieder mehr zu schreiben. Dass ich mich so leicht davon habe abbringen lassen, bestätigt nur ein Zitat, das angeblich von Jan Philipp Reemtsma stammt: Das Ich sei eine «Turnhalle, die von Stimmungen durchweht wird». Für mein ich gilt das offensichtlich. Nun, ich bin zurück und habe in der Halle einen Turnbock für Tagebuch-Übungen aufgestellt. Meine anderen Schreibprojekte bekommen erst mal den Hashtag #abandoned.