Aus allseits bekannten Gründen bereite ich mich mental auf ein medizinisches Worst Case-Szenario vor, das da wäre: Eine mir sehr nahestehende Person liegt im Bett, ringt um Luft und kann nicht mehr selber telefonieren (ich wage es nicht, diese Person hier beim Namen zu nennen. In dieser Hinsicht bin ich wie die weniger heldenhaften Zauberer in Harry Potter. Das Böse versuche ich von mir fernzuhalten, indem ich es nicht gänzlich in Worte fasse). Ich bin allein mit dieser Person und muss also selbst die Ambulanz herbeitelefonieren.
Das Problem ist: Ich kann nur noch mit grösster Mühe und einem Hilfsmittel telefonieren. Das Hilfsmittel heisst Phonak Compilot II und überträgt den Schall vom Telefon via Bluetooth direkt auf meine Hörgeräte. Auch mit Hilfe dieses Streamers verstehe ich meist nicht so richtig, was man mir sagt. Aber ich höre es wenigstens, wenn auf der anderen Seite jemand spricht.
Mit Herrn T. exerziere ich durch, was ich im Notfall tun müsste. Im Moment bin ich, so glaube ich jedenfalls, durchaus im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte. Aber ich ahne, was Panik mit mir machen könnte. Deshalb braucht es jetzt diesen Drill. Ich fange an: „Ich muss den Streamer immer in Bereitschaft haben – das heisst: Ich muss regelmässig seinen Akku aufladen. Wenn es soweit ist, muss ich den Streamer umhängen, ihn einschalten und die Nummer 144 anrufen. Es ist 144, oder?“ Herr T. nickt. Ich habe die beunruhigende Tendenz, 144 mit 142 zu verwechseln. Im Falle eines Falles könnte eine solche Verwechslung unnötig Zeit kosten, ich werde es also täglich repetieren: Die richtige Telefonnummer für medizinische Notfälle ist 144.
Wenn die Person am anderen Ende sich meldet, muss ich sagen: „Guten Tag, ich habe hier einen medizinischen Notfall. Ich bin schwerhörig, bitte sprechen Sie langsam und deutlich.“ Die Person am anderen Ende wird etwas sagen, was ich bestenfalls verstehe, aber vielleicht auch nicht. Ich werde genau beschreiben, was mit der kranken Person los ist.
Herr T. nickt.
„Und dann werde ich sagen: ‚Ich glaube, Sie müssen eine Ambulanz schicken und ihn holen.'“
Herr T. nickt und wartet, ich weiss nicht auf was. Dann sagt er: „Du musst aber unbedingt Deine Adresse angeben und sagen, bei welchem Namen die Leute von der Ambulanz klingen müssen.“
Es hat ein wenig gedauert, bis ich mich in der Lage sehe, zu diesem deinem Beitrag noch einen Kommentar nachzureichen. Gedauert hat es deshalb, weil mich deine Zeilen sehr berührt haben. Denn diese Notfallprophylaxe beschäftigt mich nämlich ebenfalls, das Was-wäre-wenn bzw. Was-ist-dann-zu-tun sollte man mindestens mal gedanklich durchgespielt haben, nur könnte ich im Falle des Falles einfach zum Hörer greifen, müsste keinen Streamerakku laden – und mir reicht’s ja schon so…
Seit Tagen hört (und sieht) man ständig Krankenwägen durch die Stadt rasen (oder sind das sonst auch so viele und ich habe aktuell eine verzerrte Wahrnehmung?), an der Teststation gestern unsägliche Szenen (eine Ungeimpfte plärrt herum, weil sie „in dieser Scheißstadt jetzt einen Scheißtest fürs U-Bahnfahren“ braucht, aber die Testtermine überall gut gebucht bis ausgebucht sind), allgemein steigt das Aggressionspotential, aus München fliegt die Bundeswehr (!) erste Patienten nach Hamburg, weil die Kliniken dort noch Platz haben und hier nicht mehr.
Manchmal schnürt mir all das die Kehle zu und dann fällt sogar das Tippen schwerer als sonst – und daher eben die späte Reaktion auf deinen Beitrag.
Es freut mich sehr, wie die Volksabstimmung bei euch am Wochenende ausgegangen ist, immerhin DAS.
Liebe Grüße aus München,
N.
Liebe Kraulquappe, das von Dir geschilderte Stimmungsbild kenne ich sehr gut aus dem ersten Lockdown und teilweise aus dem zweiten. Und eben lese ich, dass die Spitäler drüben im Kanton Zürich am Anschlag sind, bei uns also wohl bald Suchverkehr der Ambulanzen in der halben Schweiz. Und der Ärger über die anders „Denkenden“! Ich bin zurzeit relativ ruhig, aber das kann sich schon bald wieder ändern. Ich wünsche gute Nerven und einen guten Ort für den Rückzug.
Was mir bei meinem Drill auch Sorgen macht (ähnlich wie Dir, wie mir scheint): Es ist mir auch durch den Kopf gegangen, dass unsere Sorgen eben erst begonnen haben, wenn wir mal bis zum Notfalldienst durchgedrungen sind. Ob die dann wirklich helfen können, oder ob sie nicht eh schon völlig überlastet sind undsoweiter undsoweiter.