Fünf Lieblingsbücher des Jahres 2021

39 Titel habe ich auf der Liste der Bücher vermerkt, die ich 2021 gelesen habe. Das sieht nach wenig aus. Aber es waren einige richtige Büchergiganten dabei. Wenn ich einen oder zwei dieser zentnerschweren Werke auf der Liste unten vermerke, dann tue ich es, weil sie meine Gedanken immer noch begleiten. Aber auch ein wenig aus Stolz darüber, dass ich sie tatsächlich geschafft habe. Beginnen werde ich jedoch mit einem vergleichsweise dünnen Band, der für mich gewichtige Fragen aufwirft:

Claudia Durastanti: „Die Fremde“, Paul Zsolnay Verlag, 2021, 256 Seiten
Die 38-jährige italienisch-englische Schriftstellerin schreibt unter anderem über ihre Eltern, die beide gehörlos waren. Es ist ein schonungsloses, bisweilen grausames Buch, jenseits aller Gebärdensprach-Klischees. Über ihren Vater steht da: „Dann nahm er eines Tages eine junge Frau in den Arm, und er entdeckte, dass er sein ganzes Leben lang nach einem Menschen gesucht hatte, der ihm glich. Einem Menschen, der die Behinderung nicht mit Mut oder Würde, sondern mit Leichtsinn meistern wollte.“ Dann machen sich der junge Mann und die junge Frau zusammen auf eine Reise, bei der sie alle Regeln des umsichtigen Benehmens in den Wind schlagen. Aber ist das dann wirklich Liebe oder oder vielleicht doch vor allem geteiltes Schicksal? Ich habe mir da noch keine abschliessende Meinung gebildet.

Bernardine Evaristo: „Girl, Woman, Other“, Penguin Paperback, 2020, 453 Seiten
Pures Leseglück, in einem starken, zeitgenössischen Englisch, mal sehr lustig, mal wütend, mal geradezu hymnisch. Ich zögerte lange, es zu lesen, weil es in einer Art Versform geschrieben ist und beinahe ohne Satzzeichen auskommt. Aber lasst Euch davon nicht abschrecken – es ist einfach wunderbar. In lockerer Form beschreibt es die Lebensgeschichten von 12 Frauen im Vereinigten Königreich, fast alle schwarz, viele lesbisch, eine transsexuell. Alle Figuren überschreiten Grenzen, die der Rassismus, das Klassensystem oder ihr Geschlecht ihnen setzen. Und dann setzt Evaristo nach 453 Seiten eine grossartige Schlusspointe. Sollte ich 2022 etwas trübsinnig werden, werde ich es nochmals lesen.

Hannah Arendt: „Eichmann in Jerusalem“, Piper Verlag, 17. Auflage März 2021, 438 Seiten
Ich preschte im Juni in fünf Tagen durch dieses Buch, als wir auf einem idyllischen Campingplatz im Jura festsassen. Das heitere Wetter und Blick auf den ruhig dahinziehenden Fluss machte die präzisen Schilderungen der Judenvernichtung im Buch gerade noch erträglich. Ich las den Klassiker über Adolf Eichmann, den Logistiker des Genozids, weil mich meine eigenen Gewissensqualen umtrieben: Im Verlauf der Pandemie war ich mit meinem kleinen Büro wider Willen ein Kommunikationszentrum der Covidskeptiker geworden. Gebunden vom Recht auf freie Meinungsäusserung konnte ich nichts dagegen tun. Ich hatte schier unerträgliche Halbwahrheiten und Verdrehungen zur Veröffentlichung gebracht. Konnte ich es mit meinem Gewissen vereinbaren, auf einem solchen Job sitzen zu bleiben? Eine schlüssige Antwort bekam ich nicht von Arendt, aber einen Hinweis: Auf das Gewissen zu hören, ist nie verkehrt. Wie es mit meinem Job weitergegangen ist, erzähle ich ein andermal.

Ayad Akhtar: „Homeland Elegies“, Tinder Press, 2020, 343 Seiten
Vor ein paar Wochen kontaktierte mich ein junger Mann, nennen wir ihn Kemal Abdul. Er sei Kochlehrling und schreibe an einer Diplomarbeit über „Manipulation in den Medien“, erklärte er. Er wolle eine Zeitungsfrau treffen. „Ok“, dachte ich und lud in für ein Gespräch in unsere Betriebscafeteria ein. Der ganze Austausch fand in E-Mails statt, ich telefoniere ja nur, wenn es nicht anders geht. Am Morgen vor unserem Treffen kündigte Herr Abdul an, er werde einen Kollegen mitbringen. Da passierte etwas Merkwürdiges in meinem Kopf: Plötzlich bekam ich Angst, die beiden seien Terroristen und wollten sich gewaltsam Zugang zu unseren Büros verschaffen. Das ist nicht gänzlich lachhaft, ich habe auch schon gewaltbereite Leute in der Cafeteria empfangen. Meine Phantasie machte wilde Sprünge. Dann erinnerte ich mich an eine Szene im Buch von Ayad Akhtar. Er schildert dort die Begegnung seines literarischen Alter Ego mit einem Polizisten in einem Kaff in den USA. Der Ordnungshüter liest den Namen Ayad Akhtar in seinem Führerschein und hält den völlig unschuldigen Sohn pakistanischer Einwanderer sofort für einen Terroristen. Von da an gehen die Dinge schrecklich schief. „Nein, ich bin nicht wie dieser Polizist“, dachte ich. Aber ich schrieb Herrn Abdul, pandemiebedingt möchte ich ihn alleine treffen. Später ging ich entschlossen in die Cafeteria, um einem 23-jährigen Jungen mit geradezu kindlich unschuldigen Augen die Hand zu schütteln. Seither und seit der Lektüre dieses Buches habe ich oft versucht, die Dinge aus der Sicht von Migranten zu sehen, wenn ich nicht ganz gelungene Begegnungen mit einem von ihnen hatte. Der Roman ist ausserdem ein Festessen für literarische Gourmets, vielschichtig und überaus reich an sprachlichen Finessen.

Fernando Pessoa: „Das Buch der Unruhe des Hilfbuchhalters Bernardo Soares“, Fischer Taschenbuch, 8. Auflage, November 2019, 573 Seiten
Was soll ich sagen? Ich habe über dieses Buch hier und hier geschrieben. Es hat mich mehr als zwei Monate lang beschäftigt. Pessoa lässt darin den Hilfsbuchhalter Bernardo Soares erzählen – über seine Stadt, sein Leben, seine Seele. Wir lernen viel, unter anderem, dass auch kleine Hilfsbuchhalter eine unermesslich grosse Seele haben.

9 Gedanken zu „Fünf Lieblingsbücher des Jahres 2021“

  1. Außer dem Buch von Fernando Pessoa kenne ich keines der Bücher, die du vorstellst. Es ist schon relativ alt – ich müsste es noch mal lesen, wenn ich es denn finden würde.

  2. Auf „Die Fremde“ wurde ich, selbst ein Kind gehorlöser Eltern, aufmerksam, aber die bisherigen Beschreibungen zum Roman schreckten mich davon ab, mir das Buch zu Gemüte zu führen.

    Mein Lesejahr 2021 werde ich nicht näher erläutern. Es waren auf jeden Fall mehr Bücher und sehr thüringen-lastig.

    Komm gut in das Neue Jahr und viele liebe Grüsse!

    1. Rutsch ebenfalls gut ins neue Jahr, liebe Sori! Ich lese eben sehr langsam. Ich komme selten auf mehr als 40 Titel oder so, aber bei manchen Büchern lese ich Sätze immer wieder, gehe vorwärts und rückwärts. Aus meiner Heimat gibt’s leider nur sehr wenige gute Bücher. Daher fröne ich lieber meiner Anglophilie.

      Falls Du Durastanti dann trotzdem noch lesen willst, bin ich sehr auf Dein Urteil gespannt. Dieses Buch wirft grosse Fragen auf, zum Beispiel: Was ist Liebe? Oder: Was bedeutet „sozialer Aufstieg“?

  3. Ich finde die Zahl überhaupt nicht wenig, wenn man mal davon ausgeht, dass man leider noch das ein oder andere zu tun hat im Leben außer zu lesen, so gemein das auch ist 😉
    Girl, Woman, Other habe ich dieses Jahr auch mit großem Genuss gelesen. Homeland Elegies nehme ich mal als Tipp mit und setze es auf meine Liste 🙂
    Vielen Dank für den interessanten Eintrag!

    1. Gern geschehen, liebe Phoebe. Ich muss gestehen, dass ich beim Schreiben mehrmals an Dich gedacht und nicht zuletzt für Dich bewusst „Homeland Elegies“ auf die Liste gesetzt habe. Ich verdanke Dir ja auch den Hinweis, dass Evaristo wirklich lesenswert ist (ich hatte schon andernorts darüber gelesen, aber man liest ja über so viele Bücher!).

    1. Danke Dir! Auch Dir wollte ich wohl vor allem Akhtar ans Herz legen, falls Du ihn nicht eh schon gelesen hast. Herzlichen Gruss und beste Wünsche für das neue Jahr.

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