Radfahren

Letzte Woche musste ich bei der Gynäkologin einen Bluttest machen. Die Praxisassistentin schloss ein Röhrchen an eine Vene in meinem Arm an und sagte: „Machen Sie eine Faust.“ Ich ballte meine Finger zusammen und sah, wie das Blut in einer Fontäne in die Kanüle spritzte. Ich staunte über die Kraft in meiner Hand. Dann dachte ich über all die Dinge nach, die unser Körper einfach kann. Und dann an jene Dinge, die wir ihm einmal beigebracht haben und die er auch nach Jahren des Vergessens mit geradezu gelangweilter Selbstverständlichkeit doch wieder tut: häkeln, skifahren, Guetzli backen, radfahren. Ja, radfahren, der Gemeinplatz unter den Bewegungsabläufen, die der Körper nie vergisst.

Der Bluttest erwies sich als unauffällig, aber ich brauchte dann doch noch ein MRI. Da lag ich, und wenn ich geradeaus blickte, sah ich direkt vor mir am Rand der Röhre eine dünne Rille aus Plastik. Darin klebten winzige, schwarze Bälle, sie sahen aus wie die Fasern eines zu heiss gewaschenen Wollpullovers. Schlecht gereinigt, die Rille, dachte ich und wollte die Kügelchen wegwischen, aber ich durfte mich ja nicht bewegen.

Ich dachte wieder ans Radfahren. An die Velos, die ich besessen habe, ihre Sättel und wie sie bei längeren Fahrten auf die Gesässknochen drückten. An die Mühsal, die ich einmal am Nordhang des Gotthards hatte, mit zwanzig. Von dieser Tour gibt es die köstliche Anekdote in Oberwald, aber ich war zu faul, sie mir zu erzählen, ich wollte in Gedanken nur radfahren. Ich sah sehnsüchtig Landschaften an mir vorbeiziehen, eine Strasse in den Tiefen des Emmentals, rechts der Eisenbahndamm, links Augustfelder im Nachmittagslicht. Und dann ein Strassenstück an einem Pass im Westen Sardiniens, links ein Wäldchen, rechts Macchia, ein Abhang, unspektakulär. Aber ich wollte in Gedanken nicht vorwärts und nicht zurück, nur an dieser Stelle verharren.

Dann wurde ich aus der Röhre herausgefahren. „Die Bilder sind gut geworden, Sie können gehen“, sagte die Frau, die mich untersucht hatte. Ich trat hinaus auf die Strasse. Frostige Januarluft packte mich am Kinn. Ich hätte mein Leben dafür gegeben, richtig in die Kälte einzutauchen. Radfahrerin bin ich schon lange nicht mehr. Eigentlich hätte ich den Bus zur Arbeit nehmen müssen, ich war spät dran. Aber ich entschloss mich, zu Fuss zu gehen. Es war herrlich.

2 Gedanken zu „Radfahren“

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