Dinge tun, die glücklich machen

Die Magnolie auf unserem Balkon in voller Blüte.

Zehn Dinge, die ich tue, um die Angst zu vertreiben und mich in die Gegenwart zurückzuholen.

1) Wäsche aufhängen, ein Stück nach dem anderen, planvoll und ohne Eile.
2) Der Sternmagnolie auf unserem Balkon beim Blühen zuschauen. Sehen, wie ihre weissen Blüten sich an ihr kurzes Leben verschwenden.
3) Mich empören. Der Kanton Luzern will dem Vatikan 400000 Franken für eine neue Kaserne der Schweizergarde schenken. Ich fasse es nicht! Der Kanton Luzern benimmt sich sonst immer, als wäre er mausarm, der Vatikan schwimmt im Geld, und die Schweizergarde ist nichts als eine Folkloretruppe für Jungmachos. Sofort unterschreibe ich auf dem Referendumsbogen, den mir jemand auf der Strasse entgegenstreckt.
4) Mich mit Kaja versöhnen. Wieder einmal haben wir uns gezofft, es sind angespannte Zeiten. Ein paar Wochen lang wissen wir beide nicht, wie wir überhaupt je wieder miteinander sprechen können. Aber dann treffen wir uns zufällig in einem kleinen Kleiderladen, beide halten wir ein fuchsiafarbenes Kleidungsstück in den Händen, und nach wenigen Worten umarmen wir uns.
5) Einen Spaziergang um die Blumenrabatte beim Neubad machen, in meiner Hand das Händchen des eineinhalbjährigen Glückskindes, das sein Lachen so grosszügig verschenkt.
6) Lesen. Mit vielen Büchern habe ich im Moment keine Geduld. Virginia Woolf musste ich entnervt weglegen. Ich kehrte zu klassischen Werten zurück: Gustav Schwabs „Griechische Sagen“ und „Black Sea“ von Neal Ascherson. Ascherson beschwört in seinem Buch nicht nur die Schönheit der Krim. Er sah schon 1996 das mörderische Dilemma, das Nikita Chruschtschow heraufbeschwor, als er sie 1954 zur Ukrainischen SSR schlug. Inzwischen verstehe ich die ungefähren Eckpfeiler dieses Krieges – die Auseinandersetzung mit der mythischen Vergangenheit ist irgendwie überflüssig, und doch rührt sie mich manchmal fast zu Tränen.
7) Neue Wörter lernen. Zum Beispiel: Heterotopie, Mixoparthenos
8) Mit der Kassierin an der hintersten Kasse im Coop plaudern. Ich verstehe zwar längst nicht alles, was sie sagt. Aber das macht nichts. Es geht irgendwie trotzdem.
9) Mit meinem Mann diskutieren, egal über was. Spaghetti Barba di fratte, Rechtsextremismus in der Schweiz oder den Yanayev-Putsch von 1991.
10) Schöne Kleider anziehen und mich schminken. Mein hellblaues Mäntelchen passt zur Saison und verdeckt unter seinem Leuchten das Finstere in mir. Beim Schminken erwische ich manchmal etwas zu viel Rouge.

Die gute Nachricht

„Die Badende“ von Hermann Haller vis à vis vom Brustzentrum
Zum Beitrag gestern habe ich viele Wortmeldungen erhalten, Anteilnahme, Schreck und Aufmunterung, alle sehr freundschaftlich. Vielen Dank! Ich weiss, dass der Beitrag ziemlich verstörend ist und habe lange gezögert, ihn zu veröffentlichen. Am Schluss siegte mein Mitteilungsbedürfnis. Dabei vergass ich, dass mich hier einige Leute lesen, die mich auch persönlich kennen, aber von nichts gewusst haben. Es tut mir leid, dass ich Euch diesen Beitrag
zugemutet habe. Was ich im gestrigen Beitrag geschildert habe, war der erste, düstere Schock einer Diagnose, mit der ich nicht gerechnet hatte. Mittlerweile hat sich alles merklich aufgehellt.

Vorgestern, vier Tage nach dem Bericht der Frauenärztin, hatte ich einen Termin bei der Brustspezialistin. Da wusste ich noch relativ wenig. Ich wartete vor dem Eingang auf Herrn T. und blickte dabei der Frauenstatue auf der anderen Strassenseite auf die entblössten Brüste. Seit der Diagnose sehe ich ständig Darstellung von Frauen mit nacktem Busen und habe komplizierte Gefühle dabei – aber ich konnte mich jetzt nicht mit ihnen befassen. Herr T. kam und wir gingen zusammen zur Senologin.

Sie hat mir alles erklärt: dass der Tumor nicht von der aggressiven Sorte ist und noch relativ klein. Wie sie ihn voraussichtlich operieren wird, welche Komplikationen dabei auftreten können und mit wie hoher Wahrscheinlichkeit. Welche Therapien ich danach machen muss, und dass ich dann mit hoher Wahrscheinlichkeit geheilt sein werde. Ihre Informationen waren sachlich, rational und präzis, kamen freundlich, ohne Umschweife und, so hoffe ich, ohne Beschönigungen. Sie brachte das Licht der Vernunft in jenen dunklen Estrich, dem meine Seele gerade glich. Was ich sah, stimmte mich zuversichtlich.

Am Abend kam unsere Nachbarin Lydia auf ein Gläschen herüber. Sie hat den denselben Zirkus vor sechs Jahren durchgemacht, ist gesund und fröhlich.

Das Zimmer mit dem Samowar

Die Frauenklinik ist ein Bau aus den Neunzigerjahren mit kühlem Design und sterilen Materialien. Sicherlich könnte man das ganze, dreistöckige Haus in einem Tag von Grund auf desinfizieren. Nur das Wartezimmer der Mammografie ist anders. Hier ruht man auf Sitzpolstern aus Wolle, es ist ein Wohlfühlzimmer wie auch Psychotherapeutinnen sie haben. Ein Zimmer, in dem Ängste in weichen Materialien ihre Schärfe verlieren. Auf einem Tischchen steht ein Samowar mit Teegläsern. Das lässt an warmherziges Beisammensein denken, aber mir ruft es meine verlorenen Freunde in Russland in Erinnerung. Ich habe viele Jahre keinen Kontakt mit ihnen gehabt. Ich weiss nicht, wo sie jetzt stehen. Ich möchte sie per E-Mail fragen und weiss nicht, wie ich anfangen soll.

Ängste habe ich sonst keine. Das hier ist eine reine Routine-Untersuchung, bei mir ist alles in Ordnung. Ich lasse mich abholen, in die Röntgenmaschine spannen und verrenke mich geduldig. Dann will ich weggehen und mich wieder anziehen, da ruft die Röntgenassistentin mich zurück. Sie spannt meine Brüste nochmals in die Maschine, diesmal tut es etwas weh.

„Machen Sie das immer?“ frage ich.

„Nur, wenn wir eine kleine Verdickung feststellen“, sagt sie. Ich bin nicht sicher, was eine „kleine Verdickung“ ist, aber ihr Ton ist derart beschwichtigend, dass mir sofort klar ist: Ich sollte alarmiert sein.

Im nächsten Zimmer macht eine Ärztin einen Ultraschall. Auch sie spricht von „einer Verdickung“, aber was es genau ist…, „das werden wir herausfinden“, sagt sie. „Jetzt gehen Sie mal nach draussen und machen einen Termin für eine Stanzbiopsie aus. Die werden wir analysieren, dann wissen wir es.“ Eine Stanzbiopsie. Die Sprache der Medizin! Beinahe beginne ich zu lachen. Ich bin doch kein Stück Leder!

Versteht mich bitte richtig, ich will niemanden kritisieren, diese Frauen machen ihren Job, sind freundlich und wollen mein Bestes, und wahrscheinlich rechnen sie damit, dass ich mich aufrege, damit könnten sie umgehen. Aber ich rege mich nicht auf, ich meine: Nicht weit von hier ist Krieg, und darüber rege ich mich so sehr auf, ich weiss gar nicht, wo ich noch Platz habe für Aufregung über eine „Verdickung“ in der Brust.

Später am Abend spüre ich dann „die Verdickung“ oder meine jedenfalls, sie zu spüren. Sie fühlt sich an wie das, was meine Mutter gehabt hat. Man nannte es damals „einen Knoten“, und es war Krebs. Das war vor 30 Jahren, dieses Jahr wird sie 80 und ist bei guter Gesundheit.

Die Stanzbiopsie ist gleich am nächsten Tag, aber dann muss ich vier Tage warten.

Als mein Handy klingelt, sitze ich im Büro, auf meinem Schirm flimmern Bilderfluten aus der Ukraine und meine Kunden dreschen verbal aufeinander ein – hier die Putin-Versteher, da alle anderen, die Trennung verläuft wie meistens, ziemlich genau am linken Rand der SVP. In Europa ist Krieg, aber Einigkeit in der Schweiz? Vergiss es. Mein Handy klingelt sonst nie, deshalb weiss ich, dass es die Ärztin ist und frage mich, ob ich jetzt lieber im Samowar-Zimmer mit ihr sprechen möchte. Wahrscheinlich nicht. Ich will es einfach wissen.

Ihre Stimme dringt durch den Tinnitus: „Sie haben Brustkrebs“, sagt sie, und dann nochmals, sie weiss, dass ich schlecht höre. „Sie haben Brustkrebs.“

Ich stehe da und sage: „Ja, ich habe sie gehört. Ich habe verstanden.“

Klappe halten

Hiermit künde ich an, dass ich nun mal eine Weile die Klappe halten werde. Ich meine: Es gibt im Moment rein gar nichts zu sagen. Soll ich etwa Entsetzen über das bekunden, was Putin mit der ukrainischen Bevölkerung macht? Natürlich bin entsetzt, aber diese Entsetzensbekundungen sind doch längst zum Feigenblatt der Putin-Versteher geworden. Sobald sich diese feinen Damen und Herren ihre Entsetzensbekundung gut sichtbar montiert haben, entblössen sie sich rundum mit „Ja, aber…“-Sätzen. Also: Ich trage lieber Kleider und bin einfach froh, dass die Schweiz jetzt unbürokratisch Flüchtlinge aufnehmen will.

In den sozialen Medien oder hier irgendwas über den Krieg schreiben? Närrisch, wir haben ja alle keine Ahnung.

In den sozialen Medien oder hier irgendwas anderes schreiben? Idiotisch.

Demonstrieren? Das mag uns guttun. Aber Putin lacht.