Schreiben oder schweigen?

Vor ein paar Tagen habe ich meine Beiträge der Kategorie „Im Menière-Land“ überflogen. Streckenweise las sich das wie ein einziger, zehn Jahre andauernder Empörungsschrei über den Verlust meines Gehörs und die Macken meines Gleichgewichtssinnes. Dabei habe ich beim Schreiben damals die Empörung gar nicht gespürt. Eher schrieb ich in einer Art vager Hoffnung, ich könnte das Übel bannen, indem ich es in Worte fasste. An meine Leserinnen und Leser habe ich dabei durchaus auch gedacht: Ich MUSSTE erklären, wie sich das alles anfühlt, damit es alle verstehen. Damit die Welt ein Ort wird, in dem auch diese unerhörte Erfahrung einen Platz hat.

Die Reaktionen waren meist positiv. Es kam die eine oder andere Unbedarftheit und es kann sein, dass sich einige still und leise von meinem Blog verabschiedet haben, weil sie nicht genügend Geduld für einen zehn Jahre andauernden Empörungsschrei hatten. Rückblickend habe ich dafür ein gewisses Verständnis. Genau deshalb frage ich mich jetzt: Soll ich überhaupt über den Brustkrebs schreiben? Sollte ich mich nicht besser einem heitereren Thema zuwenden? Und wenn ich doch schreibe: Wie soll ich das genau machen? Und warum?

Ich begann mich in die gängige Krebsliteratur zu vertiefen, auch in Audre Lorde’s „Cancer Journals“. Es handelt sich um ein ein 70-seitiges Essay, in dem sich die Autorin, eine damals 42-jährige, schwarze, lesbische Dichterin und Mutter im Jahre 1980 mit sämtlichen Fragen konfrontierte, die eine Brustamputation 1978 für sie aufwarf – die Angst vor dem Tod und der Mut, der angesichts des Todes kommt. Die Trauer und alles, was sie wieder ins Leben zurückgebracht und in gewisser Weise auch stärker gemacht hat.

Nun stehe ich an einem ganz anderen Ort als sie. Sie war eine Königin unter den Kriegerinnen. Ich bin nicht einmal mehr eine Kriegerin, und ihr royaler Gestus nervt mich sogar gelegentlich. Ausserdem ist das hier ein winziger Blog. Ich könnte schweigen, es würde niemanden kümmern. Ich kann darüber schreiben, es langweilt, ekelt, nervt vielleicht ein paar wenige, die mich hier lesen. Doch wenn wir schweigen, berauben wir uns unserer selbst und uns alle des Wissens über einander*, schreibt Lorde sinngemäss. Nur durch sprechen können wir die Unterschiede zwischen uns überbrücken. „Denn es sind nicht die Unterschiede, die uns lähmen, sondern das Schweigen darüber. Und es gibt so viel Schweigen, das es zu brechen gilt.“ (S. 16) So denke ich nicht länger über das Schweigen nach, sondern spreche und hoffe, dass es uns alle in gewisser Weise stärker machen wird.

Und für mich ganz persönlich: dass ich über die nackte Empörung hinausgewachsen bin und die richtigen Worte finde.

* meine Übersetzung

Audre Lorde: „The Cancer Journals“, Penguin Classics, 1980.

20 Gedanken zu „Schreiben oder schweigen?“

  1. Ich bin auch für Schreiben. Ich habe ja eine chronische Erkrankung und schreibe da auch ganz offen drüber. Weil ich auch denke, Andere kennen das gar nicht, und ich persönlich bin neugierig, wie sowas ist, vielleicht sind die Anderen auch so. Ich mag authentische Einträge, erst recht, wenn sie von einer intelligenten Person kommen. Ich finde, man kann über seine Erkrankung schreiben und darüber, wie man damit umgeht, was das mit einem macht. Ich finde sowas interessant.

  2. Liebe Frau Frogg,

    ich bin für das Schreiben.

    Zwar kann ich zu Brustkrebs nicht viel kommentieren, weil ich bisher kaum Berührungspunkte habe, aber ich möchte daran Anteil nehmen.
    Wenn auch nur aus der Ferne.

    Herzliche Grüsse aus Wien!

  3. Ein Blog ist ja auch eine digitales Zuhause, und da würde mir nicht einfallen, Dir anzuschaffen, wie Du deines einzurichten hast.
    Vielleicht ist es angebrachter, das Geschriebene nicht öffentlich festzuhalten, und nach … 48 Stunden zu entscheiden ob man es teilen will, oder nicht?

    1. Danke, Hopkins, das ist ein guter Input. Es gibt wohl Beiträge, bei denen ich das ins Auge fassen werde. Auch wenn es ein Mitteilungsbedürfnis in mir gibt, das derlei Verzögerungen fast nicht aushält. Kommt noch dazu, dass man gewisse Dinge erst beim Wiederlesen nach Jahren sieht. Aber wenn Du etwas siehst, wo Du findest, man müsse diese Frau Frogg nun endlich mal vor sich selber schützen, dann schreib mir. Ich verspreche, dass ich das von Dir als wohlmeinenden Rat akzeptieren werde.

      1. Zu sehen wie man sich entwickelt hat kann ja auch etwas schönes sein. In diesen Dingen, für die man sich nach Jahren selbst Ohrfeigen möchte, steckt die Person, die wir zu dem Zeitpunkt als authentisches selbst begriffen haben. Trotzdem habe ich gerade das Bedürfnis, meine Tagebücher zu verbrennen 🙂
        Ich bin dazu viel zu schüchtern; ich werde versuchen zu unterstützen —vielleicht hast Du eine Idee was ich außer „thoughts and prayers“ schicken kann — und mir Deine momentane Person aus Deinen Worten herzuleiten 🙂

        1. Danke, Hopkins, „thoughts and prayers“ sind schon viel, und wenn man mich liest und darüber nachdenkt – sogar super!

  4. Liebe Frogg, ich finde es gut und wichtig, dass du darüber schreibst, es wirklich machst, es als das zeigst, was es ist, ein Teil vom Leben und Wirklichkeit… auch wenn es mich, das sage ich jetzt mal ehrlich, schockt, panikt, fertig macht, weil ich seit jeher und immer schlimmer eine üble Angstneurose habe, die sich allein auf Krebs bezieht und reiche Blüten in mir trägt; meist bekomme ich schon keine Luft mehr, erstarre oder laufe weg, wenn ich das Wort nur höre und bin jahrelang, immer wieder, mit der Angst dicht unter der Oberfläche unterwegs gewesen, dass ich es eh schon habe und mich innerlich verabschiedet, die Kinder angeschaut und für sie und um sie getrauert.
    Pervers, ja, aber es gibt in meiner Geschichte Ursachen dafür und in meiner Genetik auch… aber wenn es jemanden betrifft, den ich kenne und mag, weiß ich, ich kann nicht weglaufen und werde es niemals tun, egal was für ein Psychoding bei mir abläuft, und ich werde nicht fliehen, deine Einträge nicht wegdrücken, auch wenn sie mir Angst machen und meine Geister aus der Packung holen. Begegnung ist lebenswichtig… und du hast eine Art darüber zu schreiben und dich zu zeigen, die es für jemanden wie mich möglich macht, das Tuch vor den Augen vorsichtig zu lüften und hinzuschauen, mit Herzklopfen und Zitterhänden, aber ich schaue und begleite dich, deine Einträge beschäftigen mich, arbeiten in mir, bewegen mich.
    Ich habe also gelesen und dir im Stillen gedankt, dass du weitermachst und mich mitnimmst auf diese schwierige und schmerzhafte Reise, dass du darüber schreibst und jeden auf seine Art teilhaben lässt und mich zumindest tief erreichst.
    Das wollte ich dir sagen… liebe Grüße und alles Gute von zora

    1. Liebe Zora, das rührt mich jetzt fast zu Tränen, danke Dir! Ich mag mir gar nicht ausdenken, was in Deinem Leben und vielleicht in jenem Deiner Mutter, Grossmutter oder Tante vorgefallen ist, dass Dir das Thema derart nahegeht. Was für eine furchtbare Angst! Wenn ich etwas sagen oder tun kann, was sie Dir leichter macht, schreib mir, jederzeit. Aber wenn ich Deinen Kommentar lese, verspüre ich auch eine grosse Dankbarkeit Dir gegenüber. Denn er gibt den Worten von Lorde Sinn, die da sagt, dass wir vielleicht alle zusammen stärker werden können, wenn wir gewisse Dinge aussprechen. Umso mehr wünsche ich mir, dass ich weiter die richtigen Worte finde, auch für Dich!

      1. Liebe Frogg, ja, die Worte von Lorde machen in ganz vieler Hinsicht für mich Sinn; jeder kann an einem anderen Ort abgeholt und mitgenommen werden, jeder wird es sehr persönlich rezipieren und etwas anderes daran für sich erfahren können… während schweigen alle immer nur am selben Ort stehen lässt.

        Meine thematisch so klar eingegrenzte Angststörung hat seinen Ursprung übrigens nicht in meiner eigenen Familie, in der alle bis ins hohe Alter erfreulich gesund sind und waren; nur meine Tante hatte vor 10 Jahren Brustkrebs, hat es aber gut überstanden und gilt als geheilt 🙂
        Mit Genetik meinte ich meine psychologische Disposition, die ein prima Nährboden für diese neurotischen Übersteigerungen und Ängste ist… und nachdem ich meine ganze Kindheit und Jugend, über einen wirklich langen Zeitraum, die engste, beste, nächste Freundin unserer Familie, ein ganz wichtiger und präsenter Mensch in meiner Geschichte, in den vielen Höhen und immer tieferen Tiefen, diesem Sterben auf Raten und Hoffen und Kämpfen bis hin zum Tod begleitet habe, hat sich diese Krankheit wie Säure in mich eingebrannt. Spätestens da. Und hänge darin seither fest. Sobald das Wort nur andeutungsweise im Raum steht und oft auch, wenn es das gar nicht tut, aber es in meinem Kopf mal wieder keine anderen Interpretationsspielräume gibt, tickert es bei mir los, frag nicht wie. Ich habe in den letzten Jahren immer wieder daran gedacht, das mal therapeutisch anzugehen und irgendwann tue ich es bestimmt.

        Aber damit wollte ich dich jetzt auch nicht belasten oder den Fokus verdrehen… ich bin einfach froh, dass du nicht schweigst und ich nicht flüchte… damit sind wir beide schon einen guten großen Schritt gegangen; jeder für sich und doch gemeinsam 🙂

        1. Oh, Zora, kein Wunder, dass Du Ängste hast, wenn eine für Dich wichtige Person einen solchen Leidensweg durchmachen musste. Das kann ja nicht spurlos an einem vorübergehen. Inwieweit das jetzt tatsächlich „neurotische Übersteigerung“ bei Dir ist, kann ich nicht ferndiagnostizieren. Aber schwierig ist das allemal. Du schneidest damit auch ein Thema an, vor dem ich mich – zumindest in schriftlicher Form – bisher gedrückt habe: die Möglichkeit, dass das bei mir auch passiert, dieses Auf und Ab, Tendenz Ab, immer den möglicherweise fatalen Ausgang im Blick. Bis jetzt habe ich immer meine Mutter im Blick gehabt, bei der nach einer OP und kurzen Chemo alles paletti war in den letzten 30 Jahren. In schwachen Stunden halte ich mich fest an dieser Perspektive, über das andere denke ich nach, wenn es soweit ist. Aber Du hast eine andere Erfahrung, da verstehe ich die Ängste.

          1. Ich glaube fest daran, dass du deiner Mutter und meiner Tante und so vielen anderen, bei denen es ein einmaliger Spuk war, nachfolgst… ganz sicher; irgendwie spüre ich das, nicht nur so dahingesagt… und freue mich auf deinen nächsten Eintrag 🙂

  5. Schreibe über dein Leben wie bisher, denn dazwischen hattest du dich ja hier auch noch anderen Themen zugewendet.
    Ich möchte dich weiterhin bei mir haben.🌝🙋🏼‍♀️

  6. Schreiben – auf jeden Fall! Ich kann mich den Worten der anderen nur anschließen. Was da in dir an Gedanken ist, das muss raus. Bleib nicht allein damit. Du erfährst hier positive Unterstützung, was dir für deinen weiteren Weg hilfreich sein kann. Auch ich begleite dich 🙂

  7. Bitte schreib weiter und lass uns teilhaben. Das wünsche ich mir sehr. Und ich möchte nur heitere Themen von dir lesen, wenn dir tatsächlich auch heiter zumute ist. Ich finde auch Empörung sehr nachvollziehbar, wenn man mit einer Situation hadert.
    Vielleicht können wir etwas helfen, unterstützen, wenn auch aus der Ferne. Viele liebe Grüße, Juni.

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