Ab jetzt könnte es aufwärts gehen

Gestern musste ich zum Bluttest in die Onkologie. Die letzte Dosis Chemo hatte ich zehn Tage zuvor bekommen, der Bluttest sieht erwartbar mies aus, zwei Drittel der Blutwerte sind im Keller. Besonders tief ist der Wert bei den Leukozyten. Ich habe noch 0.6 Giga/l (normal wäre so ab 2.6). Die Ärztin sagte: „Ja, das macht Sie jetzt etwas anfällig auf Infektionen. Melden Sie sich bitte sofort, falls Sie Fieber haben. Da müssen wir Ihnen dann notfalls eine Transfusion machen.“ Aber sie sagte auch: „Der Tiefpunkt ist jetzt erreicht. So innert drei Wochen sollten sich die meisten Blutwerte normalisieren, und dann werden Sie sich besser fühlen.“

Gestern Abend hatte ich danach zum ersten Mal sowas wie ein Wendepunkt-Gefühl. Ich lag dabei ermattet, wie ich es im Moment bin, auf unserem Sofa, genehmigte mir ein Glas Rotwein und schaute mir den georgischen Tanzfilm And Then We Danced an. Der Hauptdarsteller Levan Gelbakhiani, ist zum Niederknien.

Herr T. war nicht da. Er hatte mit unserem Nachbarn, dem Buddha, ein kleines Konzert organisiert. Der Buddha konnte dann zwar nicht kommen, er hat Covid-19. Herr T. hätte das Festchen wohl absagen können. Warum er es nicht tat, wird sein Geheimnis bleiben. Als er zurückkam, sah er richtig glücklich aus, das sah ich auch aus der Distanz von zwei Metern und bei offenen Fenstern. „Frau Buddha kam dann auch“, berichtete er. „Ich weiss ja nicht, wie die beiden das machen, dass sie einander nicht anstecken.“

Bitte versteht mich nicht falsch. Ich will hier nicht über meinen Ehemann lästern, er ist mir vier Monate lang sehr hilfsbereit zur Seite gestanden. Er muss auch mal aus der sauren Routine hier ausbrechen können. Aber heute können wir ja wieder erst am Abend lüften, weil es immer noch so heiss ist – und ich bin jetzt erst mal mit einer FFP2-Maske in unserer Wohnung unterwegs.

Platzregen

Flaneurin Frogg wird von der Wucht des langersehnten Gewitters überrascht. Als um 17.45 Uhr ein Platzregen einsetzt, muss sie unter einem grossen Vordach auf den Bahnhofplatz Schutz suchen. Ein Moment des Innehaltens mit bester Sicht auf den Verkehrsknotenpunkt. Regen peitscht den Asphalt, vermischt mit Hagelkörnern. Es blitzt und donnert, es schäumt am Trottoirrand. Es ist grossartig.

Zwei Autospuren stadtauswärts sind fast sofort überschwemmt. Stoisch kämpft sich der Feierabendverkehr durch die Elemente. Während ich so zuschaue, verstehe ich, weshalb hierzulande jede, die etwas auf sich hält, mit Vierradantrieb unterwegs ist: Auf so einem Bahnhofplatz kann man bei Gewitter Wasserfluten aufspritzen lassen als würde man in einem Wasserloch in der Kalahari mit Nilpferden herumtollen. Es muss eine Freude sein! Mich treffen die Fontänen nicht, ich stehe in sicherer Distanz, andere zu Fuss Gehende schon.

Ein paar verdutzte Touristen irren in den Unterstand, schauen unschlüssig ins Schaufenster des jetzt schon hell beleuchteten Schmuckladens. Wenn wir in dieser Stadt dann zu wenig Strom haben, gibt es hier erfreulich viel Sparpotenzial.

Durch den Regen radelt ein Mädchen lächelnd auf die Brücke zu. Überhaupt: Auffallend viele junge Menschen sind ohne Schirm unterwegs, T-Shirts kleben ihnen am Leib, ihre Augen sind weit offen.

Um 18 Uhr ist alles vorbei. Als ich noch zum Coop einkaufen gehe, zerren mich kleine Windstösse an den Armen hierhin und dorthin.

Die Wolfstreppe

Die berühmte Kirche Madonna del Sasso in Orselina mit Treppe, die Teil des alten Wegnetzes hinunter nach Locarno ist.
Schliesslich konnten Herr T. und ich dann doch noch ein paar Tage in die Ferien. Wenn man krank ist, ist es immer dasselbe: Vieles geht nicht wie früher, tja, da muss man neue Wege finden – und das versuchen Herr T. und ich gerade. Schliesslich reisten wir in unser geliebtes Orselina im Tessin. An meinem Geburtstag tafelten wir in einem Restaurant, am nächsten Tag waren wir früh mit Freunden in Locarno verabredet. „Lass uns zu Fuss hinunterhingehen“, sagte ich abends zu Herrn T., „ich brauche einen Spaziergang.“ Tatsächlich erreicht man Locarno von Orselina aus zu Fuss in ungefähr 25 Minuten. Ich behaupte sogar, dass man gleich schnell ist wie die vielen Millionäre dort oben, die sich mit Geländewagen die engen Kurven hinunterzwängen. Aber man muss halt das alte Wegnetz kennen.

Dieses haben wir während mehreren Ferien erforscht, die Wolfstreppe entdeckte ich 2016. Damals machte Herr T. eines Tages eine Bergwanderung, zu der ich gerade nicht imstande war. Schon damals war Herr Menière schuld, wenn ich mich richtig erinnere. Ich fuhr mit dem Bus nach Locarno und wollte auf dem Rückweg wenigstens einen Spaziergang machen. So entdeckte ich die Salita del Lupo, die sehr lang ist und fadengerade aufwärts führt. Man muss wissen: Zwischen Locarno und Orselina liegen ungefähr 250 Meter Höhedifferenz. Mehr als die Hälfte legt man auf der Wolfstreppe zurück. Danach muss man, von unten her kommend, einer Klinik und einer Bonzenvilla ausweichen, dahinter verzweigen sich zwei weitere Treppchen, beide führen in den oberen Dorfteil. Sie sind alt und wirken planvoll angelegt. Ich glaube, früher wurden sie rege benutzt, die Bonzenvilla hat man später dann einfach über den Weg gebaut, Motto: „Wer geht schon zu Fuss heute? Haben doch alle ein Auto!“

Auf der Wolfstreppe also wollte ich also hinunter nach Locarno und studierte spätabends die Karte, um am nächsten Morgen der Bonzenvilla gekonnt ausweichen zu können. Die Stufen führen durch unbebautes Land, das sich auf der Karte auftut wie eine gefährliche Wildnis. Nun erst dämmerte mir wieder, wie verdammt steil die Wolfstreppe ist. Hatte sie überhaupt einen Handlauf? Ich glaube nicht. Eine steile Treppe ohne Handlauf abwärts gehen – da kann ich mich ebensogut gleich in einen Abgrund stürzen, die Chemo hat dem Karussell in meinem Innenohr ordentlich Schub verliehen.

Oder waren meine Ängste übertrieben? Und hatte die Treppe vielleicht doch einen Handlauf? Ich haderte lange, dann gestand ich Herrn T. das Problem. Es war spät abends, und er hatte null Verständnis für meinen plötzlichen Sinneswandel. Dass ich schlecht höre, versteht er. Aber beim Schwindel denkt er manchmal, ich würde meine Möglichkeiten unterschätzen.

„Es gibt eine Alternative“, sagte ich. „Wir gehen einfach bei der Madonna del Sasso vorbei. Dort gibt es einen Handlauf.“ Die Madonna del Sasso liegt im unteren Dorfteil.

„Das ist ein verdammter Umweg“, schimpfte Herr T. „So früh am Morgen braucht das zu viel Zeit.“ Wir sind beide keine Frühaufsteher.

Wir grummelten ein bisschen, dann legten wir uns schlafen. Am Morgen erwachte ich schon um 7 Uhr, und siehe da: Herr T. war auch wach. So gingen wir bei der Madonna del Sasso bergab. Wir waren sogar zu früh in Locarno.

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