Man kann einen guten Roman auf 1000 Arten lesen, und „Der Idiot“ von Dostojewski ist ein guter Roman. Aber ich muss jetzt Farbe bekennen. Ich muss sagen, dass ich die Lesart der ukrainischen Schriftstellerin Oksana Sabuschko berechtigt finde (ich habe sie hier kurz zusammengefasst). Diese Geschichte weckt in der Tat Verständnis für mindestens einen sehr grausamen Menschen – und die westliche Literaturkritik hat dies meines Wissens geflissentlich übersehen. Die Rede ist – Achtung, alles Folgende ist ein ausführlicher Spoiler! – vom Messerstecher Rogoschin.
Rogoschin begegnet dem Romanhelden, Fürst Myschkin, gleich auf dem ersten Seiten, im Nachtzug nach St. Petersburg. Schon hier erscheint Rogoschin als an sich unsympathischer Mensch, dessen Lippen sich „fortwährend zu einem dreisten, spöttischen, sogar boshaften Lächeln“ verformten (S. 6.). Sein Gesicht erwecke den Anschein einer „peinvollen Leidenschaftlichkeit“. Er nähert sich Myschkin in „ungenierter, geringschätziger“ (S. 7) Weise und nicht ohne Schadenfreude darüber, dass der junge Fürst für die russische Novemberkälte nicht warm genug gekleidet ist.
Während der Erzähler die Physiognomie Rogoschins genau studiert hat, übersieht der Romanheld Myschkin die Warnsignale im Gesicht des Fremden – vielleicht wider besseres Wissen. Er antwortet mit geradezu naiver Offenheit auf all seine Fragen und fühlt sich sogar zu ihm hingezogen.
Hier muss ich ein paar Worte zu Fürst Myschkin sagen. Mit ihm habe Dostojewski einen „ganz und gar positiven Charakter“ mit einer „absolut schönen Natur“ gestalten wollen, einen wahren Christen, steht hier. Man kann Myschkin als eine Art verhinderten Heiland sehen. Und natürlich legt es der Roman darauf an, dass wir auf seiner Seite stehen. In der Tat will der Fürst immer alle vor sich selbst retten. Dabei nimmt er, obwohl er Epileptiker ist, wenig Rücksicht auf seine eigene Verletzlichkeit.
Es ist Rogoschin, der ihn schliesslich in den Abgrund zerrt. Ich muss gestehen, dass Rogoschin mir in seiner übergrossen Impulsivität fast schon als Klischee-Russe herübergekommen ist. Beispiel: Er verliebt sich unsterblich in eine Frau, die er nur ein einziges Mal auf der Strasse gesehen hat. Sogleich bestiehlt er seinen Vater, um dieser Frau, Nastasja Filippowna, ein luxuriöses Geschenk zu machen. In der deutschsprachigen Rezeption ist von den „unkontrollierbaren, bösen Geistern“ Rogoschins die Rede. Man kann ihn auch einfach als Kriminellen sehen.
Auch Myschkin liebt Nastasja Filippowna. Es entsteht eine verhängnisvolle Dreiecksbeziehung. Am Ende lässt die Frau Myschkin am Traualtar hängen und flüchtet zu Rogoschin. Dieser ersticht sie, wahrscheinlich aus Eifersucht. Und was macht Myschkin? Geht er zur Polizei, um den Mörder an der Gerichtsbarkeit auszuliefern? Ich bin nicht sicher, ob es eine funktionierende Polizei in Russland Mitte des 19. Jahrhunderts überhaupt gab. Jedenfalls tut Myschkin etwas ganz anderes: Er legt sich zum nun fiebernden Mörder und streicht ihm eine ganze Nacht lang begütigend übers Haar, während im Nebenzimmer die Leiche liegt. Ist das wirklich Güte? Ist es nicht vielmehr Komplizität mit einem Verbrecher?
Es ist eine Ewigkeit her, dass ich den Idioten von Dostojewski gelesen habe, ich glaube, ich war 14 oder 15 und habe in meiner Einsamkeit des Internatslebens alles verschlungen, was mir der nette Bibliothekar hingelegt hat. Ich was fasziniert von dem Buch, obwohl ich sicher nicht alles verstanden habe. Ich erinnere sehr gut den Fürsten Myschkin und habe ihn zu meinem inneren Helden gemacht. So sollte ein Mensch sein, empfand ich, gut und voller Liebe, ein reines Herz. Ich haderte mit den vielen russischen Namen und deren Varianten, das machte die Lektüre etwas schwierig und ob ich mich heute erneut durch dieses dicke Buch kämpfen möchte, bezweifle ich. Da fehlt mir wohl die Geduld . Aber dass die russische Literatur jetzt eingeordnet wird aus der heutigen Sicht einer Putinschen Aggression und seinem imperialen Bestreben, das empfinde ich als eine völlig falsche historische Einordnung. Damit meine ich nicht Sie, liebe Frau Frog, sondern andere kritische Beiträge zur russischen Literatur, die plötzlich so in ein falsches Licht gestellt wird. Dass ein Romancier die Abgründe einer Gesellschaftsschicht widerspiegelt und damit auch etwas aus zukünftigen Ambitionen von despotisch und nationalistischen Charakteren mit schwingen lässt, zeugt von einer sensiblen Beobachtung seiner Welt. Sicher kann man so weit gehen, in Rogoschin einen Putin zu sehen, der tötet, wen er liebt, weil die Liebe nicht erwidert wird. Aber das sind sehr gewagte Analogien. Und schon gar nicht sehe ich in Dostojewskis Werken ein umgekehrtes Spiegelbild zu einer faschistischen Ideologie.
Entschuldigen Sie bitte mein langes Gelaber, ich schreibe hier ja sonst nicht, sondern bin nur eine lange Mitleserin ihres schönen Blogs.
Alles Gute, Kalinka.
Liebe Kalinka, danke für Deinen Kommentar, der mir sehr wertvoll ist. Ich bin gerade auf Reisen, aber ich werde am Wochenende eine gründliche Antwort schreiben. Es freut mich, daß Du mitliest, und ich kann voll nachvollziehen, was Du sagst.
Liebe Kalinka, Du schreibst: „Dass ein Romancier die Abgründe einer Gesellschaftsschicht widerspiegelt und damit auch etwas aus zukünftigen Ambitionen von despotisch und nationalistischen Charakteren mit schwingen lässt, zeugt von einer sensiblen Beobachtung seiner Welt“, und von diesem Satz würde ich jedes Wort unterschreiben. Dostojewski schildert die Häme und Geldgier dieser Gesellschaft schon im ersten Kapitel sehr genau. Es gibt sie übrigens auch im heutigen Westen, man findet sie oft in Leserkommentaren und -briefen. Seltener hat jemand sie literarisch besser eingefangen als Dostojewski in diesem ersten Kapitel im Zug. Warum sie bei uns (noch?) etwas weniger Richtschnur des menschlichen Zusammenlebens ist als im damaligen Russland, wäre wohl Thema einer weiteren Abhandlung. Keinesfalls wollte ich Dostojewski verantwortlich machen für das, was heute geschieht. Meine Kritik gilt denn auch eher der westlichen Literaturkritik, die – jedenfalls, soweit ich weiss – diesen Aspekt des Romans nicht vertieft behandelt hat.
Sicherlich kann man Dostojewski nicht verantwortlich machen für das, was zurzeit in der Ukraine geschieht. So wenig, wie man Richard Wagner für das verantwortlich machen kann, was später im Dritten Reich geschehen ist. Aber der Schatten aktueller Ereignisse fällt für mich unweigerlich auf die Lektüre dieses Romans. Eigentlich fällt der Schatten der aktuellen Ereignisse gerade auf fast alles, was ich sehe, und seien es die Bäume in unserem Innenhof. Und wenn man den Roman so liest, kann man auch eine Seelenverwandtschaft zwischen Rogoschin und Putin im Roman sehen – genauso, wie Du es beschreibst.
Wo unsere Lesarten auseinandergehen, ist bei Myschkin. Das hat vielleicht mit dem Alter zu tun, in dem wir das Werk gelesen haben. Ich bin Ü50 und habe schon diverse Erfahrungen mit Krankheiten und auch damit, wie Gesellschaften, auch unsere, mit kranken Menschen umgehen – sie verklären sie und misshandeln sie. Ich sah Myschkin nicht als Lichtgestalt, sondern als einen kranken Menschen, dem die Gesellschaft den doppelten Nimbus des Adels und der Krankheit zuschreibt. Wäre er nicht adlig, müsste er auf der Strasse betteln und hätte wenig Einfluss auf sein eigenes Schicksal und noch weniger auf das anderer. Und DAS wäre dann eine sehr reale Tragik. So, wie die Dinge liegen, scheitert er dann halt auf einem sehr viel höheren Niveau und – wie mir scheint – an seiner eigenen Hilflosigkeit so sehr wie an der Bosheit anderer. Ich hätte ihm oft gerne zugerufen: „Ach, Lew, jetzt schalte doch endlich mal Deinen Selbsterhaltungstrieb ein!“
Ich empfand Deinen Kommentar keineswegs als Gelaber, und ich kann nur hoffen, dass es Dir ähnlich geht mit meinem. Ganz herzliche Grüsse Dir unbekannter Leserin!