Wie ich in Paris reisen lernte

Die vergangenen fünf Tage haben Herr T. und ich in Paris verbracht. Eigentlich hatten wir das ganze Jahr über andere, ambitioniertere Reisepläne gehabt. Aber diese scheiterten umständehalber gleich reihenweise. Blieb Paris. Mein Herz hatte zwar nie so richtig für die französische Metropole geschlagen, glaubte ich. Dennoch stiegen wir am Montagmorgen in einen TGV. Am Montagabend stand ich auf der Bastille und sah den blaugolden erleuchteten Engel auf der Säule in der Mitte und den tosenden Verkehr rundum.

Die Julisäule auf der Place de la Bastille erinnert an die Opfer des Juli-Aufstandes von 1830 (und natürlich auf den Sturm der Bastille 1789, den Beginn der Französischen Revolution).

Paris-Korrespondentinnen des Schweizer Fernsehens nutzen Kreisel wie diesen oft als Hintergrund für ihre Berichte. Daher erwartete ich, den Platz alltäglich und lärmig zu finden, so gewöhnlich, wie ich diese Plätze auf meinen früheren Paris-Reisen gefunden hatte. Aber irgendetwas liess mich das alles diesmal mit ganz neuen Augen sehen, vielleicht war es das blaugoldene Licht. Es erinnerte daran, dass in einem Land mit blaugoldener Flagge genau an jenem Tag Menschen in einem Raketenhagel gestorben waren, für etwas, was hier, genau hier, einen seiner Anfänge genommen hat.

Am Mittwoch streiften Herr T. am Eifelturm vorbei Richtung Arc de Triomphe. Ich erinnerte mich plötzlich sehr klar an meinen ersten Besuch in Paris, mit 20, mit einer Schulkollegin. Wir zwei Frauen waren mit einem Interrail-Ticket unterwegs, sie wollte nach Paris, ich nach London, wir fingen mit Paris an. Ich erinnerte mich, wie ich dort ankam und erwartete, „es“ zu sehen. Das, wofür so viele Menschen nach Paris reisten. Aber ich sah es nicht. Ich fand die Champs-Elysées zu schäbig und die Avenue Kléber zu schick und den Eiffelturm eine gigantische Touristenfalle. Mich faszinierten sehr wohl die silbern und weiss leuchtenden Häuser der Stadt, aber das konnte nicht „es“ sein. Ich liess sehr wohl den Blick sehnsüchtig über die Gesichter maghrebinischer Migranten im Barbès huschen, aber auch das konnte nicht „es“ sein. Ich fühlte mich verloren und gab mich blasiert. Dass wir lediglich einen Reiseführer für Interrail-Touristinnen hatten, der Paris in zwei Seiten abhandelte und nichts erklärte, machte alles auch nicht besser. 2022 schüttelte ich, nunmehr 57-jährig, den Kopf über mein 20-jähriges Ich. Ich erstieg mit Herrn T. den Arc de Triomphe, und diesmal erschlug „es“ mich schier, ich sah die gewaltige Grösse dieser Stadt, ihr Leuchten, sogar an jenem trüben Tag.

Schon am Vortag hatten mich in einer Gasse im Marais die Erinnerungen überflutet, jene an meinen zweiten Besuch in Paris, 1986. Damals reiste ich mit einer anderen Freundin, nennen wir sie Frau Fernweh. Wir verfügten nun über einen Reiseführer aus der damals populären Reihe „Anders reisen“, und mit diesem Buch griffbereit in der Tasche streiften wir durch das Quartier. Wir spazierten von Park zu Park, von Gasse zu Gasse, sahen die Läden und die Menschen, und einmal kauften wir in einem kleinen, arabisch anmutenden Laden Handtücher in hellen Farben. Ich habe meins heute noch. An jenem Tag habe ich flanieren gelernt und das Reisen so, wie ich es in meinem späteren Leben praktizieren sollte. Ohne Erwartungen, dafür mit einem aufmerksamen, wenn möglich gut informierten Blick auf das Hier und Jetzt.

Herr T. holte mich in die Gegenwart zurück. Er klagte: „Ach, es ist alles so schick hier! Ich mag Quartiere mit so vielen schicken Läden nicht.“ Aber ich hatte mich eingelesen, auch auf dem Internet. Ich hatte meine Antwort bereit: „Weisst Du, vor 30 Jahren war es hier ganz anders! Es ist halt alles gentrifiziert worden seither.“ Mit dem Wort „gentrifiziert“ kann mein Geographen-Ehemann etwas anfangen. Nun sah er „es“ auch. Hoffe ich jedenfalls.

So wurde diese Reise nach Paris für mich zu einem gigantischen Bilderbuch über das, was wir gewesen und geworden sind. Es war eine Reise voller Entdeckungen. Und ich habe oft daran gedacht, dass solche Reisen auch ein kostbares Privileg sind. Aber das ist eine andere Geschichte.

8 Gedanken zu „Wie ich in Paris reisen lernte“

  1. Als ich vor mehr als 22 Jahren das erste Mal „Arc de Triomphe“ von Remarque las, dachte ich, ich muss nach Paris und zumindest den Triumphbogen sehen. Flanieren, in einem Bistro draussen sitzen, Gauloises rauchen und die Menschen beobachten.

    Mittlerweile habe ich (wieder) mit dem Rauchen aufgehört, das Reisen werde ich nächstes Jahr neu erlernen und Paris?
    Nicht mehr so wichtig.

    Aber es freut mich zu lesen, dass diese Reise für Dich zu etwas Besonderem geworden ist.

  2. Ich hatte keine Ahnung, dass Erich Maria Remarque ein Buch über Paris geschrieben hat. Schon interessant, wie verschieden die Bezugspunkte zu dieser Stadt sind. Gauloises? Nie im Leben hätte ich daran gedacht 😀

    Ich glaube, meine Begeisterung kam auch aus diesem Gefühl heraus, dass ich zurück ins Leben komme nach diesem ganzen Mist mit der Chemo und so.

  3. Ich hatte schon Gauloises geraucht, bevor ich das Buch las. Aber es erschien so passend.

    Aber das Buch verführte mich dazu, Calvados zu probieren. Ich habe dieses geistige Getränk nachher noch ein paar Mal genossen.

    Ja, das kann ich mir vorstellen, dass diese Reise für Dich eine Art Befreiungsschlag nach der Chemotherapie darstellt. Ich hoffe, es geht Dir diesbezüglich soweit gut.

    1. Ja, danke der Nachfrage, es geht mir sehr gut. Ich habe wieder Wolle auf dem Kopf und war die ganze Reise lang unternehmungslustig – wobei es schon vorkommen konnte, dass ich in einer Galerie mal eine halbe Stunde lang einfach dasass und gar nichts sah. Aber das war dann auch nicht so schlimm.

  4. Den Anders-Reisen-Paris-Reiseführer hatte ich auch. Dadurch habe ich das „Sampiero Corso“ in der rue de l’Amiral Roussin entdeckt, ein Restaurant, in dem man nach eigener Einschätzung zahlte, was man für angemessen hielt und zahlen konnte. Ich war auch später noch dort, aber inzwischen ist der Betreiber, der es vierzig Jahre betrieben hat, verstorben. Aber einen Artikel im Spiegel-Archiv gibt es noch:

    https://www.spiegel.de/kultur/kaviar-fuer-alle-a-e4b4aee5-0002-0001-0000-000042762711

    1. Wahrlich, mein Leben lang hat man mir erzählt, dass solche Utopien niemals funktionieren! Und doch hat er es 40 Jahre lang so gemacht. Das finde ich grossartig! Du musst allerdings eine andere Ausgabe gehabt haben als wir, ich erinnere mich nicht an einen solchen Restaurant-Tipp (vielleicht hätten wir Mädels uns auch nicht hingetraut, ich war schon sehr unbedarft damals). Aber es ist schön, dass hier die eine oder andere Paris-Geschichte zusammenkommt, das freut mich sehr.

Schreibe einen Kommentar zu Frau Frogg Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert