Wovor wir uns in der Politik wirklich fürchten sollten

In der vergangenen Woche tauchte in den Medien kurz die Meldung auf, immer weniger junge Menschen würden sich für News interessieren (siehe zum Beispiel hier). 38 Prozent der jungen Menschen seien „news-depriviert“. „Depriviert“ kommt vom Lateinischen „privare“, zu Deutsch „berauben“. Fast die Hälfte unserer jungen Erwachsenen sind also der News beraubt. Das warf keine hohen Wellen, denn die Beraubten fühlen sich nicht beraubt, im Gegenteil: News, gerade über Politik, finden sie langweilig und zu traditionellen Massenmedien haben sie wenig Vertrauen.

Meldungen dieser Art kommen einmal im Jahr, und weil ich selbst einmal eine politisch höchst naive junge Erwachsene war, haben sie mir früher auch kaum Sorgen bereitet. „Diese jungen Leute werden schon noch richtig erwachsen“, dachte ich jeweils. Ausserdem habe ich einen Patensohn, der Co-Präsident eines Jugendparlamentes ist. Es gibt also auch politisch aktive junge Leute. Solange der Staat funktioniert und fast alle einen Job und eine Wohnung haben, ist das Desinteresse an News auch kein politisches Problem, sondern lediglich ein wirtschaftliches, für die Medienhäuser. Dachte ich.

Aber dann kam die Pandemie, während der viele Menschen erstmals die Existenz des Staates überhaupt bemerkten, und zwar negativ. Da haben wir schmerzlich erfahren, was Leute anrichten können, die plötzlich und aus kompletter Ahnungslosigkeit heraus politisiert werden. Sie wollten „selber denken“. Sie informierten sich auf Plattformen, die elementare Anforderungen an die Wahrhaftigkeit und Sachlichkeit nicht erfüllten. Anforderungen, denen ausgebildete Journalistinnen und Journalisten normalerweise schon aus Professionalität gerecht werden – und wenn dies einmal nicht der Fall ist, sorgt das zu Recht für Empörung, etwa im Fall Relotius.

Die Selber-„denker“ bildeten eine Bewegung, wurden zur Machtbasis der Libertären und Rechtsextremen und merkten es nicht mal. In der Schweiz war der Höhepunkt, dass sich eines Donnerstagnachts in der Hauptstadt ein paar Leute – vom Mob geschützt – mit Brechstangen an den Absperrgittern vor dem Bundeshaus  zu schaffen machten. Ich habe in meinem Leben ab und zu demonstriert – aber diesmal stand ich auf der Seite jener, die froh waren, dass ein paar kräftige Wasserwerfer die Angreifer wegfegten.

Die breite Öffentlichkeit hat das schon fast wieder vergessen. Ich nicht, und ich fürchte, dass die Pandemie ein laues Lüftchen gewesen sein könnte im Vergleich zu dem, was uns die Zukunft bringen wird. Ausserdem weiss ich dank meiner Hannah Arendt-Lektüre, dass politisch desinteressierte Menschen, die von allen anderen Parteien als „zu dumm und apathisch aufgegeben worden waren“*, zur bevorzugten Zielgruppe faschistischer Demagogen werden. Man kann in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ nachlesen, wie diese Demagogen dann arbeiten, um durch Wahlen legitimierte Parlamente lächerlich aussehen zu lassen. Mit Hilfe der Bewegung reissen sie Macht an sich. Danach sind ihnen die Bewegten meist herzlich egal. Diese Demagogen gibt es schon, sie heissen zum Beispiel Trump oder Orban oder – in der Schweiz – Roger Köppel.

Ich warf einen Blick in die News und stellte fest: Vielleicht stehe ich auf verlorenem Posten, vielleicht haben die Libertären und Faschistinnen in Europa schon gewonnen. Dennoch setzte ich mich hin und schrieb meinem Gottenbuben ein Whatsapp: „Lieber Tim, bitte sag mir: Was sagst Du zu jungen Leuten, die sich für Politik überhaupt nicht interessieren?“

Hannah Arendt: „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, Serie Piper, 1986, S. 668.

4 Gedanken zu „Wovor wir uns in der Politik wirklich fürchten sollten“

    1. Das ist die Frage, die sich nach dem Beitrag selbstverständlich stellt, und es freut mich, dass Du das gesehen und sie gestellt hast, liebe Zora. Eigentlich wollte ich sie in einem nächsten Beitrag beantworten, aber ich kann es auch hier tun, es war nur ein kurzer Whatsapp-Austausch. Tim meinte, er finde es ok, wenn man sich nicht für Politik interessiere. Aber Desinteressierten zeige er häufig, „was man trotz dem jungen Alter erreichen kann und dass viele Menschen ein falsches Bild von der Politik haben.“ Häufige Vorurteile junger Menschen: „Politik ist nur was für Gebildete, Politik ist komplex und man muss viel verstehen von Politik, um etwas zu ändern.“

      Ich fragte ihn, was er von dem Ansatz halte: „Es hat alles mit Politik zu tun. Jeder Schritt, den Du machst (Strassenbau), jeder Atemzug den Du tust (Luftreinhaltegesetz), die Schule (wer hat die Schule gebaut? Wer bezahlt die Lehrpersonen?). Seine Antwort: Das stimme bei vielem, leider aber nicht überall. So könne die Politik gegen den Mega-Ärger auf der Management-Ebene der lokalen Fussball-AG leider gar nichts tun (da tobt gerade ein Machtkampf zwischen dem Mehrheitsaktionär und dem Rest der Welt). Dann geschah etwas, was den Generationengraben im politischen Denken wohl sehr gut auf den Punkt brachte. Ich schrieb: „Ja, beim Fussballclub-Ärger müsste man etwas sehr Grundsätzliches ändern, um überhaupt mitreden zu können: das Obligationenrecht – und den Kapitalismus.“ Tims Antwort: „Oder kurz gesagt: alte weisse Männer.“

      Aha, es reduziert sich also alles auf die Identitätsfrage bei den Jungen. Jetzt würde ich ihn gerne treffen, um ihn über dieses Identitäts-Zeugs ein wenig zum Nachdenken zu bringen, aber er ist gerade sehr beschäftigt mit Schule, Jugendchor und Politik. Nun, hoffentlich klappt es irgendwann. Ich schrieb ihm dann einfach: „Ja, lieber Tim, dann werde bitte nie ein alter weisser Mann!“

      1. Wahrscheinlich muss man sich letztendlich auch für Wirtschaft interessieren, weil es mit der Politik Hand in Hand geht… was nicht das eine ist, ist das andere, aber meistens ist es doch untrennbar verwoben. Und in der Wirtschaft stimmt das mit den weißen alten Männern noch Mal mehr…

        1. Ja, das sehe ich genauso, in jedem Punkt. Leider war Wirtschaft nie meine besondere Stärke von mir. Ich meine, ich verstehe elementare ökonomische Zusammenhänge wie Geldentwertung oder die Gesetze von Angebot und Nachfrage (und dass der Staat in vielen Bereichen steuernd eingreift, was nicht immer gleich gut funktioniert). Aber ich bin froh, dass es mehr und mehr Frauen gibt, die sich einbringen (und ein bisschen durchlässiger ist die Wirtschaft für Frauen ja auch geworden, wenn auch nur ein bisschen).

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