Wie eine Lawine ergossen sich in den letzten Wochen Bettelbriefe auf meinen Schreibtisch. Neulich habe ich eine Stunde damit verbracht, die meisten Briefe zu entsorgen und jene zu retten, die ich für beachtenswert halte. Wir sind von der Krise bislang zum Glück nur marginal betroffen, daher können wir spenden und tun dies auch.
Eins der Couverts enthält den Spendenaufruf einer schweizerisch-russischen Stiftung, der ich seit vielen Jahren verbunden bin. Ich kenne dessen Schweizer Gründer. Er lebt in einem russischen Landstädtchen südlich von Moskau und hat sich in den neunziger Jahren in ein Hilfsprojekt für die von der Staatskrise Betroffenen dort gestürzt. 1998 oder 1999 war ich mit Freunden bei ihm zu Besuch. Ich hatte die Gelegenheit, mit zahlreichen Russinnen und Russen zu sprechen – etwa mit einer Uni-Professorin, die beim Zerfall der Sowjetunion aus Tadschikistan hatte fliehen müssen. Sie gehörte dem sowjetischen Mittelstand an, doch durch die Währungskrise hatte sie nun auch noch ihre Ersparnisse verloren. Ich sprach mit Lehrpersonen, deren Löhne nur sporadisch ausgezahlt wurden – weshalb sie im Herbst oft nicht in die Schule gingen, sondern auf ihren Datschen Kartoffeln ausgruben. Ich hörte von Korruption, Armut und Alkoholismus. Ich sah traumatisierte Menschen und einen kaputten Staat. Und doch: Ich habe dort zum ersten Mal gesehen, wie Leute in wirklicher Not zusammenhalten und einander in Wärme verbunden sind. Es war eine hervorragende Lebensschule für mich.
Aus Dankbarkeit habe ich der Stiftung seither Jahr für Jahr vor Weihnachten einen nicht zu knappen Beitrag zukommen lassen. Die Probleme in Russland wurden zwar weniger, aber es gab immer noch die Ärmsten, die Essenspakete mit Grundnahrungsmitteln gut brauchen konnten und Invalide, die von der Stiftung Brennholz bekamen – Überlebenshilfe im russischen Winter.
Dieses Jahr drehte ich den Bettelbrief unschlüssig in den Händen, legte ihn zu den zu bezahlenden Rechnungen und zahlte dann doch nicht. Statt dessen las ich den Begleitbrief der früheren Stiftungspräsidentin. Sie betont die politische Neutralität der Stiftung, erwähnt, dass auch in Russland die Preise dramatisch gestiegen sind und schreibt: „So treffen die Sanktionen auch diesmal diejenigen am Härtesten, die am allerwenigsten Schuld tragen.“
Beim Lesen bricht mir fast das Herz – aber ich weiss immer noch nicht, ob ich spenden soll oder nicht. Was würdet Ihr tun?
Gibt es ein ernsthaftes Argument gegen das Spenden? Nach meinem Dafürhalten nicht. Regimenähe? Wohl kaum. Unlautere Absichten? Das wüsstest du. Politisch voreingenommen? Mag sein. Doch wenn man in einem Land lebt, das Krieg führt und in dem Zensur herrscht, braucht es schon eine sehr eigenständige Denke, um nicht voreingenommen zu sein. Zudem: Solange eine allfällige politische Voreingenommenheit sich nicht auf die Verteilung der Hilfsgelder auswirkt …
Also: Spenden! Es sei denn, es gibt ein ernsthaftes Argument, das dagegen spricht. Und darauf bin ich gespannt.
Lieber Gruss – Walter
Nun ja, ich könnte meine Spenden dorthin verlegen, wo sie auch – und durchaus wegen der Russen – besonders gebraucht werden. Für die Ukraine. Oder für den Sudan, wo das Mehl aus der Ukraine fehlt. Aber mit allen anderen Argumenten hast Du recht, insbesondere auch bei der Voreingenommenheit.
Das russische Volk ist doch nicht Putin! Ich bin für Spenden, denn den Menschen scheint es beschissen zu gehen.
Danke, Piri! Ich glaube, ihr beide habt mich umgestimmt.