Glückliche Unruhe im Ohr

„Unrueh“ ist ein Film, in dem Russisch, Französisch und Berndeutsch gesprochen wird.

Mein Freund, der Pedestrian, lockte mich neulich ins Kino. Der Film hiess Unrueh und spielt im Uhrenfabrikstädtchen Saint-Imier im wilden Berner Jura.

Ich hatte nur eine ängstliche Frage dazu: „Ist er untertitelt?“ Der Pedestrian versicherte: „Ja. Mindestens an den Stellen, an denen russisch oder französisch gesprochen wird.“ Das beruhigte mich nicht einmal annähernd. Denn die meisten Stellen in oft mehrsprachigen Deutschschweizer Filmen sind ja Deutsch gesprochen und somit nicht untertitelt. In letzter Zeit hörte ich oft zu schlecht, um dann folgen zu können. Aber ich wusste, dass Herr T. sich für den Film interessieren würde. Er dreht sich im die anarchistische Bewegung, die es in Saint-Imier im 19. Jahrhundert gab – über diese hat er bereits begeistert geschrieben (hier sein Blogbeitrag). „Unrueh“ bezeichnet das Teilchen, das Uhren am Laufen hält. Aber wohl auch das, was gerade bei der Arbeiterschaft in der Uhrenfabrik damals gärte.

Schon in der ersten Szene merkte ich, dass mit meinen Ohren etwas ganz Unglaubliches passiert sein muss: Ich konnte hören, dass die drei Frauen im Bild russisch sprachen. Ich höre also tatsächlich wieder besser. Merklich besser. Während der Pandemie hatte ich mein Gehör so rasant verloren, dass ich oft nur noch Lärm mitbekam, wenn jemand mich nicht sehr gezielt und in ruhiger Umgebung ansprach. Und das mit voll aufgedrehtem Hörgerät.

Dann musste ich mir im Oktober einen Backenzahn ziehen lassen, um den herum ich eine beträchtliche Zahnfleisch-Entzündung hatte. „Entzündungsherde im Körper fördern den Krebs“, begründete die Zahnärztin das Vorhaben. Sofort hatte ich nach dem wenig erbaulichen Eingriff ein Gefühl nachlassenden Drucks im Ohr – und wenige Tage danach besserte sich dann der Zustand meines Gehörs geradezu dramatisch. Seither geniesse ich jedes Dezibel. Man kann nie wissen, wie lange das Glück dauert.

Fragt mich also nicht nach der Handlung des Films. Ich versenkte mich geradezu verliebt in die Dialoge. Die Protagonisten sprechen ungezwungen ein weiches, helvetisches Französisch und ein zärtlich klingendes Berndeutsch miteinander, so ist das wohl an der Sprachgrenze. Dazwischen kommen Russen ins Spiel.

Einen der ersten Dialoge auf dem Gelände der Uhrenfabrik werde ich wohl nie vergessen. Eben haben Männer einen Teil des Fabrikgeländes gesperrt, wegen Fotoaufnahmen, glaube ich. Die ankommenden Arbeiterinnen werden angewiesen, einen Umweg zum Fabrikgebäude zu nehmen. Da sagt Josephine, eine der jungen Frauen: „Aber wenn ich aussen herum gehe, dann verliere ich vier Minuten.“ Sofort lassen die Herren sie ungehindert passieren. Hat man je eine punktgenauere Abhandlung über das Verhältnis von Zeit, Herrschaft und Selbstbehauptung im Kapitalismus gehört?

 

5 Gedanken zu „Glückliche Unruhe im Ohr“

  1. Zu Josephine, da bewahrheitet sich der Spruch doch wieder: Zeit ist Geld. Sie hätte vermutlich nicht nur vier Minuten, sondern auch Lohn verloren, wenn sie zu spät gekommen wäre.

  2. Ja, genau! Aber es zeigt auch, dass Josephine im richtigen Moment den Mund aufbekommt und sich wehren kann. Viele andere Frauen wären wohl einfach losgerannt, um MIT Umweg doch noch rechtzeitig anzukommen.

    Ich erinnere mich an meine Zeit in der Zeitungsproduktion. Das ist ja auch ein recht zeitsensitives Business. Da haben wir aber nie eine Aufgabe ausgeschlagen mit der Begründung, sie würde zu viel Zeit kosten. Man hat bei einem Anspruch von oben einfach versucht, schneller zu arbeiten. Erst viel später hatte ich auch mal den Mut zu fragen: Wie viel kostet es eigentlich, so eine Seite mit einer leicht verbesserten Textversion nochmals in die Druckerei zu schicken? Lohnt sich das wirklich?

  3. Und das mit der verbesserten Hörleistung ist seit Ziehung des Backenzahns (klingt wie Ziehung der Lottozahlen ;)) so geblieben? Das wäre ja unglaublich… und unglaublich toll 🙂 Liebe Grüße von zora

    1. Danke Zora, ich sehe Deinen Kommentar erst jetzt. Habe meinen Blog wieder mal verwaisen lassen. Ja, bis jetzt ist es so geblieben. Hoffen wir das Beste.

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