Mir ist vor ein paar Tagen klargeworden, dass ich 2023 keine Zeit haben werde, meine wiederkehrende Jahresend-Bücherrubrik zu bedienen. Das ist schade, denn 2023 habe ich so viel gelesen wie nie zuvor. 49 Titel stehen auf meiner Liste, und es waren beileibe auch beleibte Bände dabei. Darunter fünf, die einen so starken Eindruck hinterlassen haben, dass ich sie unter Umständen auch verschenken würde. Hier sind sie, als verfrühter Rückblick auf das Lesejahr.
Kein Buch hat mich 2023 so fasziniert und so gequält wie dieser 1,5 Kilo schwere Ziegelstein. Fasziniert, weil er mein eurozentrisches Weltbild sprengte. Er lässt Weltgeschichte vor 4000 Jahren im heutigen Irak beginnen, mit einer Frau. Dann stellt er die Geschichte von Asien, Lateinamerika und Afrika effektvoll neben jene Europas und Afrikas. Gequält, weil das Buch letztlich doch sehr wenig Substanz hat. Der Autor leiert die Gräueltaten der grossen Dynastien mit dem voyeuristischen Vergnügen einer englischen Boulevard-Zeitung herunter. Bei ihm ist Weltgeschichte eine endlose Abfolge von Machthunger und Blutdurst, von Kriegen, Folter, Massenmorden und sexueller Gewalt. Immer wieder kommt das Buch an den Punkt, wo es interessante Fragen stellen könnte: Warum war das so? Wie waren die ökonomischen und politischen Verhältnisse damals? Aber genau da bricht der Autor einfach ab und richtet den Blick auf eine andere Ecke der Welt. Dass sich unsere Spezies in vier Jahrtausenden trotz all diesen Grausamkeiten exponentiell vermehrt hat, steht zwar da. Aber erklärt ist es nicht mal ansatzweise. Wir sollten gelassen akzeptieren, dass der Mensch eine reissende Bestie ist, das ist Herrn Montefiores These. Ich habe das Buch selbst geschenkt bekommen, und mit der Zeit wurde die abendliche Lektüre von mindestens zehn Seiten (mit dem Handy auf den Knien, zum Googeln) eine Art Meditationsübung. Schenken würde ich es jemandem, der gerne wichtig aussehende Wälzer herumstehen hat. Oder jemandem, der mit mir darüber diskutieren möchte, was wir mit Herrn Montefiores These anfangen sollen. Aber nur zusammen mit dem nächsten Buch.
Diesen dünnen Band habe ich bereits einer linken, feministische Kollegin verschenkt – weil wir beide ein gewisses Unbehagen gegenüber dem woken Feminismus teilen, der so tut, als gäbe es Frauen gar nicht. Aber begeistert hat es mich schliesslich, weil es sich liest, als würde Susan Neiman Herrn Montefiore geradewegs ins Gesicht antworten: „Nein“, sagt sie. „Wir Linken nehmen nicht einfach hin, dass der Mensch eine reissende Bestie ist und bleibt und basta.“ Sie schreibt sinngemäss: Links sein heisst, darauf zu bestehen, dass Ansprüche auf Gleichheit, Gerechtigkeit und die Einhaltung der Menschenrechte nicht utopisch bleiben. Dass alle Menschen zwei Dinge gemeinsam haben: dass sie Schmerz und Mitleid empfinden können. Und dass dies unser Zusammenleben definieren sollte – nicht unsere Zugehörigkeit zu einer Gruppe, einer Rasse, einer Dynastie. Oder unser Status als Opfer. Ich zweifle manchmal, ob es eine gute Idee ist, links zu sein, aber ich bin sicher lieber links als Montefiore.
Reines Leseglück! Dieser Roman hat einen Sound, einen leicht sphärischen Sound, etwa wie „Lucy in the Sky with Diamonds“ von den Beatles aus dem Jahre 1967. Und das ist kein Zufall, denn er spielt im Jahre 1967 und ist die Geschichte einer fiktiven Popband namens Utopia Avenue in Swinging London. Neben den vier sehr verschiedenen fiktiven Bandmitgliedern kommen da auch viele Musikgrössen von anno dazumal vor, der junge David Bowie etwa, der einen sphärischen Humor hat. Oder Gitarrengott Jimi Hendrix, der entweder sehr verladen ist oder einfach sonst kein origineller Plauderer. Ich würde es jeder und jedem mit meinen einstigen musikalischen Vorlieben schenken. Besonders aber jenen, die keine Musik mehr hören können und hier auf dem Papier die Leichtigkeit eines Spätsechziger-Songs zurückbekommen.
„Ach, weibliche Betroffenheitsliteratur“, habe ich geseufzt, als eine Freundin mir dieses Buch auslieh. Was habe ich in jungen Jahren solche Bücher gelesen! Klar, sie haben damals dazu beigetragen, dass ich ein kritisches Bewusstsein für das patriarchale System der 1980er-Jahre entwickelte. Aber heute sind wir doch viel weiter, da werde ich doch nichts mehr lernen können, dachte ich. Ich täuschte mich. Schutzbach liefert Antworten auf aktuelle Fragen wie: Warum müssen Frauen eigentlich immer noch so sehr darum kämpfen, ernst genommen zu werden? Ist es wahr, dass Frauen immer noch mehr Familienarbeit leisten als Männer? Und wenn ja: Warum? Warum hassen Frauen ihre Mütter (jedenfalls manchmal)? Und: Wie könnten wir es schaffen, Erwerbsarbeit, Care-Arbeit und Erholungszeit neu aufzuteilen? Zweierlei nehme ich ihr allerdings übel: Sie laugt sich damit aus, so zu tun, als würden nicht grossmehrheitlich Frauen weiblich sozialisiert, sondern halt eben Flintaqs. Und dann vergisst sie eine ziemlich grosse Gruppe Menschen, die mehrheitlich aus Frauen (oder meinetwegen Flintaqs) besteht: jene, die sich um ältere Angehörige kümmern. Überhaupt vergisst sie Frauen Ü50. Sollte Schutzbach das hier je lesen, wird sie sich nun ermattet eine Haarsträhne aus dem Gesicht streichen und stöhnen: „Oh nein, nicht das auch noch!“ Allein für das Fünkchen Schadenfreude, das bei dieser Vorstellung aufkommt, würde ich es meinen feministischen Freundinnen schenken, auch den älteren.
Auch wenn dieser Beitrag nun schon sehr lang ist: Dieses Buch des Engländers Oliver Bullough muss ich noch erwähnen. Ich würde es all jenen schenken, die sich für die Ungerechtigkeit des Spätkapitalismus interessieren – aber Finanzdienstleistungen so furchtbar unverständlich finden. Es erzählt höchst anschaulich und leicht verständlich, wie das Vereinigte Königreich vom kolonialen Weltreich zum diensteifrigen Bankier für die Oligarchen der Welt wurde – und wie es damit arme Länder ärmer macht und gemacht hat. Wir erfahren hier so viel über Steuerdumping und -Hinterziehung, über zwielichtige Finanzdeals und Casino-Spielchen, dass ich mir oft gewünscht habe, es gäbe ein solches Buch über die Schweiz (die Bullough vergleichsweise harmlos findet). Leider hat das Buch ein frustrierendes Fazit: Der britische Staat ist mittlerweile derart abgewirtschaftet, dass zwar ein Wille besteht, wenigstens internationalen Standards von Fairness und Transparenz nachzukommen – aber der Staat hat leider einfach nicht mehr genug Geld dafür.