„Lieber blind oder taub?“ Die schlagfertige Antwort

Jede Schwerhörige kennt das. Sobald sie sich in einer Konversation als schwerhörig outet, kommt vom Gegenüber: „Nein so etwas! Aber zum Glück bist Du nicht blind! Das wäre ja noch viel schlimmer.“ Obwohl ich dieses Gesprächshäppchen in den ersten Jahren meiner Schwerhörigkeit gefühlte 200 Mal zu kosten bekommen habe, habe ich mich jahrelang immer wieder daran verschluckt. Ich meine, was sind das für Menschen, die so etwas zu einer schwerhörigen Person sagen?! „Hast Du kein Herz oder keinen Kopf oder fehlt Dir beides?!“ möchte man sie fragen. Aber das wäre denn doch zu grob.

Am liebsten möchte ich Halbfremden ja gar nichts über meine Schwerhörigkeit sagen. Aber ich muss. Denn ich muss ihnen erklären, warum ich sie nicht auf Anhieb verstehe, vielleicht zwei- oder, oh Schreck, dreimal nachfragen muss. Mit der Zeit habe ich gelernt, dem blind/taub-Häppchen präventiv auszuweichen. Ich sage nun: „Weisst Du, ich höre nicht gut. Bitte sprich deutlich mit mir und schau mich an beim Sprechen.“ Dazu sind die Menschen auf Anhieb bereit, und das blind/taub-Häppchen kommt meist gar nicht erst an unseren Tisch.

Es gibt aber auch noch eine Vorgehensweise bei hartnäckigen Fällen. An Weihnachten probierte ich sie zum ersten Mal aus, bei Herrn T.’s Cousine Tiffany. Wir sehen sie immer an Weihnachten, und das blind/taub-Häppchen kommt regelmässig auf den Tisch.  Als es diesmal kam, lächelte ich kühl und sagte: „Weisst Du, wenn ich tatsächlich wählen könnte, dann würde ich als Kind die Blindheit wählen und als Erwachsene die Taubheit. Denn wer als Kind taub ist, lernt die Lautsprache nur mit sehr viel Mühe – und ohne Lautsprache ist es viel schwieriger, überhaupt etwas zu lernen. Wer als Erwachsene blind wird, hat dagegen grosse Nachteile bei der Orientierung im Raum, und das ist dann auch nicht lustig.“

Wenn Tiffany sprachlos ist, setzt sie ein süsses Lächeln auf und wechselt das Thema. Das tat sie an diesem Punkt. Gelernt habe ich diese Antwort bei Peter Lienhard, einer Schweizer Kapazität in der Forschung über Sinnesbehinderungen. In seinem Buch „Ertaubung als Lebenskrise“ (1992) setzt er sich genau mit dieser Frage auseinander, die, so schreibt er, schon Kinder stellen würden.

Für manche Menschen mit Seh- und Hörbehinderung liest sich das jetzt vielleicht abwertend – gerne öffne ich meine Kommentarspalte zu diesem Thema.

 

 

4 Gedanken zu „„Lieber blind oder taub?“ Die schlagfertige Antwort“

  1. Ach, das damals ewige Thema. Damals deshalb, weil ich das Glück habe, mich in letzter Zeit nicht mehr so viel mit Menschen umgeben zu müssen und dieses Thema kommt nicht mehr zur Sprache.
    Aber viel früher, da war es noch anders. Ich bin selbst auch in einer sogenannten „Gehörlosen-Community“ aufgewachsen und die Blinden waren das komplette Gegenteil zu den Gehörlosen. Wir hatten nicht einmal Mitleid für sie, wir mieden sie komplett. Die Blinden, die sich sprachlich so gut artikulieren können und natürlich hören. Wir hielten uns sehr gern an den Spruch von Immanuel Kant, das auch Helen Keller (für Unwissende: sie war selbst sowohl taub als auch blind) übernahm: „Nicht sehen trennt von den Dingen, nicht hören trennt von den Menschen.“
    Im Laufe der Zeit begegnete ich Menschen mit Usher-Syndrom und meine damals starre Meinung gegenüber hochgradig Sehbeeinträchtigten hat sich verformt.

    Das ist auch etwas, was mich mit zunehmenden Alter stört oder auch nervt: Die Vergleiche, mit welcher körperlichen Beeinträchtigung der Mensch besser dasteht. Da kann ich mich nur an die Stirn hauen. Wobei, in Sachen Barrierefreiheit „stehen“ natürlich die Rollstuhlfahrer besser da als die Hörbeeinträchtigten, aber das ist ein weites Feld. Ich werde wieder in diesem Beitrag vorbeischauen.

    1. Danke Dir, Sori! Das ist ein sehr vielsagender Einblick in das nebeneinander Aufwachsen in einer solchen Community. Der Satz von Helen Keller klingt da geradezu trotzig! Vermisst Du den häufigen Umgang mit Menschen nicht? Ich schon, aber seit ich wieder mehr unter Menschen bin, bemerke ich auch eher, was mir alles – mehr oder weniger – gefehlt hat.

  2. Diese Trotzreaktion wurde ausgelöst, weil damals – also vor ca. 25 Jahren – die Blinden schon eine Art monatliche finanzielle Entschädigung vom Staat bzw. vom jeweiligen Bundesland erhalten hatten. Die Hörbeeinträchtigten mussten noch jahrelang darum kämpfen, dass sie auch mit den anderen Menschen mit Behinderung gleichgestellt werden und das „Teilhabegeld“ auch erhalten konnten. Aber abgesehen von diesen finanziellen Zuwendungen steht das Kommunikative im Vordergrund und ich erlebe es auch noch heute bei meinen Eltern, dass sie in Situationen geraten, in denen sie durch die Kommunikation eingeschränkt werden. Natürlich könnte jemand, der/die das liest, vorschlagen, dass meine Eltern doch einen Gebärdensprachdolmetscher hinzuziehen können. Aber meine Eltern haben mit der Zeit ein gesundes Misstrauen gegenüber den GSD entwickelt, weil wir auch damit schlechte Erfahrungen gesammelt hatten und meine Eltern wollen sich auch ihre Eigenständigkeit nicht nehmen lassen – mit vielen Einbussen. Und da sind die Blinden mit ihren superguten Ohren (Sicher kennst Du die Geschichte mit wer schlecht hört, hat einfach einen besseren Blick und ich denke mir, dass die Blinden wie Luchse hören können…) und der besseren Aussprache im Vorteil. Ich bin mit meiner „nur“ Schwerhörigkeit leidlich besser dran, aber ich merke es auch immer wieder, dass ohne Hören und lautsprachliches Reden auf der Welt nichts geht. Und die Kinder erwerben die Sprache zuerst durch das Hören und Sprechen, bevor sie sich ans Lesen und Schreiben heranmachen können.

    Ob ich den häufigen Umgang mit Menschen vermisse? Nein. Im vergangenen Jahr hatte ich das Glück, dass ich wenige Menschen wiedersehen konnte und es waren zum Glück diejenigen, die mir (auch v. Cor.) angenehm sind. Bei ihnen fühlte ich mich wohl. Einem Wiedersehen mit ihnen bin ich nicht abgeneigt.
    Aber mir reicht es zB dass ich nur zwei Mal die Woche ins Büro kommen muss und für den Rest der Woche erledige ich die Arbeit in meinem Schlafzimmer. Die meisten Menschen lösen eine innere Unruhe in mir aus und sie sind mir einfach unerträglich geworden.

    1. „Ich merke es auch immer wieder, dass ohne Hören und lautsprachliches Reden auf der Welt nichts geht.“ Das ist schon ein sehr trauriger Satz, eigentlich. Und von jemandem wie Dir, die so gut schreiben kann! Aber er hat seine Berechtigung. Ich war in meiner schlimmsten Zeit auch nur noch selten an Orten, wo Menschen miteinander redeten. Jetzt geht es ja etwas besser, und sofort fühle ich mich viel lebendiger und quirliger, es ist alles so viel weniger anstrengend, dass ich sogar öfter mal Lachlust habe. Verdammte Schwerhörigkeit.

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