Londongrad

Roman Abramowitsch, Russe und bis letztes Jahr Besitzer des Fussballclubs Chelsea (Quelle: zdf.de).

Wenn man heute nach London fährt, muss man darüber sprechen, dass dort zahlreiche vermögende Russinnen und Russen leben – oder vor dem russischen Angriff auf die Ukraine gelebt haben. Es waren so viele, dass die Stadt den Spitznamen Londongrad bekommen hat („grad“ heisst „Stadt“ auf Russisch). Laut BBC sollen es um die 100000 russische Staatsangehörige sein oder gewesen sein. Einige von ihnen gehören zu den vermögendsten Oligarchen Russlands, immer wieder liest man in diesem Zusammenhang die Namen Roman Abramowitsch, Alischer Usmanow und Andrej Gurjew. 1200 russische Staatsangehörige sind im Vereinigten Königreich mittlerweile sanktioniert. Seit Wochen durchforste ich das Internet, um mehr über diese Leute zu erfahren. Ich will meinem Patensohn – und wenn möglich seiner Schwester – berichten, was in der Stadt unserer Träume in Tat und Wahrheit vor sich geht. Die Recherche hat mir ein paarmal die Haare zu Berge stehen lassen und meinen Blick auf den Kapitalismus und die englische Kapitale ganz neu ausgerichtet.

Warum kamen so viele reiche Russinnen und Russen nach London? Diese Frage wurde von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 18. März 2018 hier präzis beantwortet. Zusammenfassung: Putin-Freunde kamen, weil sie im Vereinigten Königreich problemlos ihr Geld anlegen konnten – die Behörden interessierten sich kaum für eine mögliche kriminelle Herkunft. Dazu kam in den neunziger Jahren das Goldene Visum: Wenn jemand mehr als 2 Millionen Pfund im Land zu investieren versprach, bekam er anstandslos eine Aufenthaltsbewilligung. Und dann sind da die renommierten Schulen, die tollen Partys und die tollen Läden.

Es kamen aber auch Putin-Gegner. Sie kamen, weil sie sich hier sicher fühlten vor dem langen Arm des russischen Diktators. Irrtümlich, wie sich in mehreren Fällen herausstellte. Einige starben unter mysteriösen Umständen oder wurden vergiftet. Das brachte auch Risiken für Jenny Normalverbraucherin mit sich, die zum Beispiel mal eben ein seltsames Parfümfläschchen fand.

Hier gibt’s eine bitterböse Satire der Schriftstellerin A. L. Kennedy darüber, wie Durchschnitts-Britinnen und Briten Londongrad kurz nach Kriegsausbruch erlebten. Bis vor kurzem konnte man auch eine Kleptokraten-Tour machen, über die ARD hier berichtete. Sie führte zu den Anwesen reicher Russen, findet jedoch aus unbekannten Gründen nicht mehr statt.

Ich werde aber versuchen, meinen Begleitern zu erklären, weshalb das alles so grauenhaft unfair ist: Weil die meisten Oligarchen den Grundstein ihres Reichtums mit Geld gelegt haben, das eigentlich allen Russinnen und Russen gehören würde – wahrscheinlich oft mit unsauberen Methoden. Das habe ich schon irgendwie gewusst, aber ich habe nicht so genau hingeschaut. Mittlerweile bin ich aber überzeugt, dass der ganze russische Staat auf mafiösen Strukturen aufgebaut ist – mit Wladimir Putin als oberstem Gangster.

Für die Menschen in Grossbritannien sind die Gäste aus dem Riesenreich durchaus auch eine Belastung. Sie machen das Leben in der Hauptstadt fast unerschwinglich. Russinnen und Russen haben zudem den Tories viel Geld gespendet, der Partei, die das Vereinigte Königreich seit langem regiert. Ex-Premierminister Boris Johnson kann sich noch so sehr als Freund der Ukraine aufführen. Fakt ist, dass seine Partei Spenden von Russen im Wert von Dutzenden Millionen Pfund erhalten hat (Quelle: ein sehr informativer Bericht des Schweizer Fernsehens: Hier). Ob die feinen Milliardäre wohl eine Gegenleistung dafür bekommen haben?

Doch nicht nur Russinnen und Russen leben in London in Saus und Braus. Der Buchautor Oliver Bullough sagt über das Geld, das in Londoner Immobilien und im Londoner Luxuskonsum steckt: „Es wurde aus Staaten gesaugt, die es wirklich, wirklich gut brauchen könnten, und die Reichen werfen hier damit um sich.“ Er nennt als Herkunftsländer dieser Hyperkapitalisten auch Angola, Nigeria und auch die Ukraine.

Sehr schnell stiess ich auf die Oligarch Files der englischen Zeitung The Guardian. Dort ist Roman Abramowitsch der meistgenannte Name. Kein Wunder, denn dieser besass von 2003 bis 2022 den Fussballclub Chelsea und verfügte auch über eine luxuriöse Villa in Kensington Palace Gardens. Er war dort Nachbar der Royal Family. Das Abramowitsch-Vermögen vor Kriegsausbruch wurde auf 17,3 Milliarden Dollar geschätzt. Wie er sich solche Unsummen zusammengerafft hat, erklärt dieser Bericht gut verständlich. Zusammenfassung: Der Milliardär hat sich um die Jahrtausendwende massiv an russischen Staatsbetrieben bereichert.

An dieser Stelle muss ich erwähnen, dass Abramovitsch 2016 in die Schweiz ziehen wollte, jedoch von Bundesamt für Polizei abgewiesen wurde. Dieses urteilte Anfang 2017, „dass Abramowitschs Anwesenheit in der Schweiz als Gefährdung der öffentlichen Sicherheit sowie als Reputationsrisiko für die Schweiz einzuschätzen sei. Abramowitsch sei Fedpol wegen Verdachts auf Geldwäsche bekannt“ (soweit Wikipedia). Dennoch sind wir hierzulande nicht fein raus, denn Abramowitsch hatte laut einem im Januar 2023 im „Guardian“ publizierten Leak bis 2022 Vermögenswerte im Umfang von 920 Millionen Dollar unter anderem auf der UBS – einer Schweizer Bank.

Eines Tages werde ich über Kleptokraten in der Schweiz schreiben müssen. Aber das muss noch warten. Im Moment tue ich etwas anderes: Ich versuche aus diesem Wust von Informationen eine Londongrad-Tour zusammenzustellen. Hier habe ich schon mal eine brauchbare Skizze gefunden, hier gibt’s weitere Infos vom „Guardian“.

Bleibt die Frage, was aus dem FC Chelsea wurde nach den Sanktionen gegen Abramowitsch. Hier die ausführliche Antwort. Zusammenfassung: Der US-Multimilliardär Todd Boehly hat ihn jetzt gekauft, für 5,25 Milliarden Dollar. Es sei die teuerste Fussballtransaktion der Geschichte gewesen, heisst es.

7 Gedanken zu „Londongrad“

  1. Die Summen, die im Fußball gezahlt werden, finde ich such völlig unverhältnismäßig – egal ob für Spieler, Trainer, Vereine, Turniere.

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