Luxusprobleme und echte Sorgen in North Wales

In meinem vorletzten Beitrag habe ich ein grosses Drama um meine  befremdlichen, ersten Eindrücke in Caernarfon, North Wales, gemacht. Ich möchte hier betonen: Ich habe es nicht getan, um jemanden dort schlecht aussehen zu lassen. Wenn Herr T. und ich von einer Reisedestination stets blitzblanke Küchen, perfekte Blümchendekos und blauen Himmel erwarten würden, dann würde ich Hotelkritiken auf tripadvisor.com schreiben. Aber wir beide reisen und schreiben, um die Welt besser zu verstehen. So habe ich hingeschaut und mich seither oft gefragt: Weshalb verfallen in einer so schönen Stadt wie Caernarfon so viele Häuser warum stehen so viele leer oder zum Verkauf?

Verkaufsschilder und Baugerüste ohne Arbeiter: Etwas stimmt nicht im Walisischen Wohnungsmarkt.

Den Leuten, denen wir in Nordwales kurz  begegnet sind, konnten wir leider keine solchen Fragen stellen. Dafür hätte es ein blitzschnelles Gehör und etwas Glück gebraucht. Heute ersetzt mir das Internet oft beides, oder verschafft mir wenigstens ein passioniertes Halbwissen. So habe ich herausgefunden, dass die Walisische Regierung in Cardiff ebenfalls hingeschaut hat. Sie hat Anfang dieses Jahres Beihilfen im Umfang von 50 Millionen Pfund bereitgemacht. Für Hauseigentümer, die ein heruntergekommenes, leerstehendes Haus wieder bewohnbar machen. Die so unterstützten, neuen Besitzer müssen dann aber auch mindestens fünf Jahre im renovierten Haus wohnen (hier der Bericht). Laut Regierung gibt es 22000 solche Liegenschaften in ganz Wales. Mich erstaunt, dass es nicht mehr sind.

Schnell musste ich leider auch feststellen, dass in Nordwales nicht nur viele Häuser leerstehen – sondern dass gleichzeitig eine dramatische Wohnungsnot herrscht.  Ist das nicht komplett bescheurt? Beim Lesen der Berichte musste ich mir eingestehen, dass mein Unbehagen in Caernarfon wahrscheinlich ein Luxusproblem war. Dieses Bild jedenfalls machte mich sehr betroffen.

Der Schlossplatz von Caernarfon am 8. Mai 2023 (Quelle: bbc.com)

Es zeigt den Hauptplatz der Stadt ziemlich genau von jener Stelle aus, auf der wir ihn zum ersten Mal betraten. Am 8. Mai fand dort eine Demonstration gegen die Wohnungsnot in Wales statt, an der trotz offensichtlich himmeltraurigem Wetter 1000 Menschen teilnahmen. Dass mit bbc.com hier ein nationales Medium über den Anlass berichtete, unterstreicht dessen Relevanz.

Das Online-Magazin dailypost.co.uk widmete sich am 15. Juni 2023 der Wohnungskrise in Nordwales. Die Schlagzeile: „Alle eineinhalb Stunden meldet sich im County Gwynedd jemand obdachlos.“ Gwynedd, dessen Hauptort Caernarfon ist, zählt 117400 Einwohner, 652 Personen sind ohne festen Wohnsitz, heisst es in einem Bericht der Regierung. Das ist einer von 170 Menschen. Zum Vergleich: In ganz Deutschland ist es etwa einer von 320.

62 Kinder wohnten laut einem Regierungsbericht in provisorischen Unterkünften, 36 Kinder in einem Bed & Breakfast. Und hier reden wir nicht von Gaststätten mit Handtuchwärmern und einer Landlady, die den Kleinen beim Teeeinschenken liebevoll übers Haar streicht. Sondern von eiskalten Zimmern und auch mal von sexuell übergriffigen Mitbewohnern (hier). Fast 7000 Kinder und Jugendliche gelten in Gwynedd als arm, das ist gut ein Drittel der Minderjährigen. Zwei Drittel der Einwohnerinnen und Einwohner könnten sich gar kein Haus leisten, heisst es. Die Regierung will nun sogar ein leerstehendes Verwaltungsgebäude zu Notunterkünften für rund 30 Personen umbauen.

Die Gründe für das Übel sind wohl vielfältig: die Teuerung ist gerade in ganz Europa hoch – in Grossbritannien ist von einer eigentlichen Cost of Living-Crisis die Rede, bei der die Lebenskosten deutlich schneller stiegen als die Einkommen. Die steigenden Hypothekarzinsen bereitet im übrigen auch zahlreichen Hauseigentümerinnen und Mietern in der Schweiz Bauchschmerzen. In Grossbritannien führt er breite Bevölkerungsschichten in die Bredouille, wie hier gut erklärt wird.

In Wales kommt der Boom der Zweitwohnungen dazu. Gerade, weil die Gegend schön ist, begehren reiche Engländerinnen und Engländer für ein paar Wochen im Jahr hier zu wohnen. Und sie können für so ein Häuschen viel mehr Geld in die Hand nehmen als Einheimische. Während der Pandemie hat sich der Anteil der Zweitwohnungen allein in Gwynedd mehr als verdoppelt. Diese Feriendomizile stehen ja dann auch noch die meiste Zeit des Jahres leer. Dazu kommen die Anbieter von Airbnb, die ja teils auch in Konkurrenz zu einheimischen Möchtegern-Hauseintümern stehen. Im April 2023 reagierte Cardiff: Jetzt dürfen die Gemeinden in Wales von Zweitwohnungs-Eigentümern viermal so viel Grundstücksteuern verlangen wie von Dauer-Anwohnenden. Das könnte allerdings dazu beigetragen haben, dass wir an einem kleinen Hafen Felinheli Mitte Juni eine ganze Strasse mit Häuschen sahen, vor denen fast überall „For Sale“-Schilder standen.

Nun, Herr T. und ich haben wahrscheinlich wenigstens etwas richtig gemacht: Herr T mag Airbnb nicht und hat uns deshalb stets in altmodische, halt etwas teurere Hotels gebucht. Da haben wir hoffentlich niemandem einen Platz zum Wohnen weggenommen.

 

 

 

Regentag in Caernarfon

Wir stiegen hoch in unser Zimmer im Dachgeschoss des Hotels in Caernarfon. Ich dachte: „Nun ja, das Gute an einer ausgebrannten Hotelküche ist, dass sie wahrscheinlich kein zweites Mal ausbrennen wird.“ Dann legten wir uns ins Bett und ich zog die Decke über den Kopf. „Hier ist meine Insel, hier fühle ich mich sicher“, sagte ich mir. Dann schlief ich ein. Am nächsten Morgen hatte Regen den Möwenkot an unserem Fenster beinahe abgewaschen. Und ich hatte begriffen, dass es auf dieser Reise an den raueren Orten nur eins gibt: Inseln der Geborgenheit suchen; das Schöne finden. Und ich muss jetzt auch einfach sagen: Wir haben immer wieder freundliche Leute getroffen, die uns dabei geholfen haben. Ich habe sie umso mehr schätzen gelernt.

Wir fanden: Das Caffi Maes, auf dem Schlossplatz, wo uns eine junge Frau mit regenbogenfarbig geschminkten Augen das Frühstück servierte – es war Pride Month. Dort lernten wir unsere erste kymrische Vokabel: „Caffi“ heisst Café.

Wir fanden einen tollen Spazierweg entlang der Meerenge von Menai, auf einem ehemaligen Eisenbahngleis, den Lôn Las Menai.

Herr T. beim Spazieren auf dem Lôn Las Menai in verwunschenen Wäldern.

Die Meerenge ist auf dem Bild oben gerade nicht zu sehen. Sie ist auch nicht sehr fotogen, es handelt sich einfach um einen breiten Meerwasserstreifen, der Nordwales und die Insel Anglesey trennt. Aber für uns zwei Binnenländer war sie ein faszinierendes Gewässer, wir sammelten dort Muscheln und Schiefersteine. Der Weg ist teils von regenwaldartigem Gehölz umwuchert, so dicht und dunkel wie ich es noch selten gesehen habe. Als dann wieder Regen einsetzte, waren wir an einem kleinen Hafen namens Y Felinheli angelangt. Dort fanden wir schnell eine Bushaltestelle mit Wind- und Wetterschutz, und innert zehn Minuten fand uns ein Bus.

Das walisische Wappentier.

In der sehr charmanten Altstadt von Caernarfon, an der Palace Street, fand ich einen ausgezeichneten Buchladen, Palas Print, mit einer englischen und einer grossen walisischen Abteilung. Ich verbrachte dort fast eine Stunde und musste am Schluss schwierige Entscheidungen treffen, denn der Platz in meiner Reisetasche war beschränkt. Ich fand ausserdem einen Souvenirladen, der mir eine Teetasse mit dem walisischen Wappentier verkaufte, einem roten Drachen, in den ich mich ein wenig verguckt hatte. Er ist ein Symbol für den Unabhängigkeitswillen der Menschen in Wales.

Mein Lieblingsplatz aber wurde die Stelle, wo der River Seiont in die Meerenge mündet. Dort trennt eine Fussgänger-Drehbrücke aus dem Industriezeitalter den Hafen vom Meer. Manchmal schrillt auf der Brücke der Alarm, alle müssen sie verlassen, und sie quietscht und knarzt und öffnet sich. Dann zieht ein halbes Dutzend Segelboote in Gänseformation hintereinander ins Meer. Sie liegen schon im Hafen in Wartestellung, bei Ebbe auf ihren Keilen im Schlick.

Die Brücke über den River Seiunt, geöffnet.

Gegenüber steht das Schloss, erbaut vom König Edward I. und auch Aufenthaltsort der Königin Eleanor, der ich anderswo schon einen Beitrag gewidmet habe. Hier brachte sie den ersten englischen Prince of Wales zur Welt, den späteren Edward II. Die Ausstellung über sie im Schloss hebt hervor, dass Eleanor 19 Kinder zur Welt brachte, von denen nur sechs sie überlebten. Seither weiss ich, weshalb die Gebärerin unter den Bienen „Königin“ heisst.

Als wir am nächsten Tag Richtung Süden aufbrachen, stellte ich überrascht fest: Die Stadt ist mir ein bisschen ans Herz gewachsen.

Fremdeln in Caernarfon

Das Schloss von Caernarfon ist eine Wucht. Der erste Blick auf die Stadt weniger erhebend.

In Llandudno hatten wir zwei Nächte lang in einem hübschen, kleinen B&B mit Blick aufs Meer übernachtet. Vom Zimmer aus hatten wir traumhafte Sonnenuntergänge gesehen. Als wir abreisten, verabschiedete uns der Hotelier mit den Worten: „So, you’re going to Caernarfon? Well, you will see, the castle is beautiful, but the town is a little bit rubbish.“ Ein Tourismus-Profi dürfte nie einen solchen Satz über eine benachbarte Destination aussprechen. Und mein Englischlehrer hätte ihn auch nicht als englischen Satz akzeptiert. Dennoch machte sie mich auf der  zweistündigen Busfahrt nach Caernarfon etwas bange. Was uns wohl dort erwartete?

Caernarfon präsentierte sich zunächst als Landstädtchen, das seine besten Zeiten im 19. Jahrhundert gesehen hat. Der Schlossplatz lag grau vor uns, gegenüber unser Hotel. Dazwischen die Statue eines Mannes, der Kopf weiss von Möwenkot. Das Hotel hat ein Pub im Erdgeschoss, und wir fragten den Wirt erst mal, ob wir hier ein Mittagessen bekämen. „Nein, tut mir leid. Es gibt hier  nichts zu essen. Die Küche ist ausgebrannt“, sagte er. Wir bezogen unsere Zimmer im Dachstock.

„Die Küche ist ausgebrannt!“ sagte ich beim Auspacken vorwurfsvoll zu Herrn T. Er ist unser Reise-Organisator, und manchmal erwischt er bei den Hotelbuchungen ein faules Ei. Man schaut sich dann mit grösster Wachsamkeit im Zimmer um, wer weiss, was man alles zu sehen bekommt. Doch der Raum war sauber und frisch gestrichen, das Bad karg, aber sauber. Nur auf der Fensterscheibe klebte ein grosser, weisser Möwendreck. Und ich hatte kein Netz. Die Stadt hat zwar ein offenes WLAN, aber mein Handy verweigerte das Login, aus Sicherheitsgründen. Ich fühlte mich wie aus der Welt gefallen.

Ich beschloss, mich erst mal zusammenzunehmen. Wir gingen zurück auf den Schlossplatz und picknickten auf einer Bank. Dabei waren wir ganz froh, dass wir mit dem Rücken zur Presbyterianischen Kirche sassen, denn diese bot einen traurigen Anblick: geschlossen, die Tore mit Sperrholzbrettern verbarrikadiert. Auch die Post und die Bank hinter uns: bröckelnde Farbe, bröckelnder Stein. Schräg links ein architektonisch ansprechendes Lokal aus den 1960er-Jahren: geschlossen. Durch die grossen Glasfenster waren die verdreckten Trümmer einer einstigen Einrichtung zu sehen. Überhaupt, die Stadtseite östlich des Schlossplatzes: viele leere Bauten, zum Teil verbrettert, da und dort Baugerüste, aber keine Arbeiter. Dazwischen zwei oder drei in fröhlichen Farben frisch gestrichene Häuser. Als seien ihre Bewohner entschlossen, dem Verfall etwas entgegenzusetzen.

Wir waren bei der zweiten Scheibe Brot, als eine Möwe direkt vor uns landete und uns böse anschaute. Sie wollte unser Brot, das war offensichtlich. Die Möwen in Wales sind so gross wie dicke Katzen. Sie haben Hackschnäbel und es gibt kein anderes Wort für ihren Blick als böse. Richtig böse. Plötzlich eine alte Frau hinter uns, die mit verschrecktem Blick auf den Vogel zeigte. „Be careful!“ warnte sie uns und zeigte mit einer wilden Armbewegung, wie der Vogel einen Angriff auf uns fliegen würde. Sie meinte es gut. Aber ich weiss nicht, ob ich mich mich mehr vor dem Vogel oder vor ihr fürchtete. Sie war hager, ihr zerfurchtes Gesicht liess ahnen, dass sie Dinge erlebt hatte, die man selbst lieber nicht erleben möchte.

Unter höchster Wachsamkeit assen wir. Dann nahmen wir unseren touristischen Auftrag wahr und besichtigten das Schloss von Caernarfon. Es ist ist eine Wucht, aussen und innen. Das Abendessen im Pub The Anglesey Arms war köstlich. Danach ein Spaziergang am Strait of Menai in der langen Junidämmerung.

Dann betraten wir wieder unser Hotel. Im Pub ein einziger Gast, angetrunken. Er kam uns entgegen und sagte mit irrem Grinsen: „Es gibt hier nichts zu essen, die Küche ist abgebrannt.“

Walisisch für Schwerhörige

Ein Zug der Firma Transport for Wales brachte uns von Manchester nach Llandudno in Nordwales. Wir können dem Unternehmen nur Bestnoten geben. Das Rollmaterial war neu, die Info-Bildschirme funktionierten tiptop, Lautsprecher-Durchsagen waren häufig, korrekt und gut verständlich, naja, für uns nur die englischen. Dennoch: Es war eine Traumreise für Schwerhörige.

Alle Angaben waren strikt zweisprachig, kymrisch und englisch. Der walisische Ansager klang wie ein gut gelaunter Märchenerzähler. Herr T. verstand schon nach wenigen Haltestellen, was „the next station is…“ auf Walisisch heisst: „gorsaf nesaf“ oder „nesaiaf“ oder ähnlich. Ich habe ja in jungen Jahren Linguistik studiert und mich speziell für Phonologie interessiert. Früher hätte ich nach Kräften versucht, meine Zunge um die merkwürdigen Laute dieser Sprache zu schlingen und erste Phrasen zu verstehen oder sogar verwenden zu können. Aber mittlerweile ist mir das zu anstrengend.

Immerhin hatten wir uns auf dem ganzen Weg nach Wales laut darüber nachgedacht, wie man den Ortsnamen „Llandudno“ ausspricht. „Thlandadno? Liandadno?“ Mein Freund Eagle Eye sagte: „Hlandudno“. In unserem Reiseführer stand, das „Ll“ werde in etwa wie ein weiches „Chl“ ausgesprochen. Also „Chlandudno“. Der Märchenerzähler im Zug sagte aber eher „Schandudno“, oder so klang es jedenfalls für mich. Egal. Wir kamen irgendwann dort an.

„Spricht überhaupt noch jemand Walisisch?“ fragte ich mich. „Oder ist diese Zweisprachigkeit im Zug nur politisch gewollte Diversitätspflege?“ Mein Linguistikprofessor vertrat in den späten achtziger Jahren die These: Minderheiten-Sprachen in ökonomisch eher peripheren Gebieten sind zum Aussterben verurteilt. Zuerst werden alle zweisprachig, und das sei bei den Walisisch sprechenden bereits der Fall. Dann würde die Minderheitssprache allmählich aus dem Alltag verschwinden. Ich war ja schon während meines Studiums in den späten achtziger oder frühen neunziger Jahren in Wales gewesen. Hatte ich damals Welsh gehört? Nein, nicht dass ich wüsste.

An den ersten beiden Tagen hörten wir in Llandudno nur Englisch. Llandudno ist ein gepflegtes Seebad, im Juni mehrheitlich von älteren Feriengästen aus England bevölkert. Am dritten Tag brachen wir Richtung Caernarfon auf. An der Bushaltestelle kam Herr T. mit zwei Frauen um die sechzig ins Gespräch. Ob sie eben Walisisch gesprochen habe, frage er.

Die eine lächelte über so viel Ahnungslosigkeit und sagte in einem lustigen Englisch: „Klar! Wenn wir unter uns sind, sprechen wir selbstverständlich Walisisch.“ Später hat mir Herr T. dann und wann gesagt, Leute um uns herum würden Walisisch sprechen. Ich kann Leute um uns herum zwar reden hören, weiss aber meist nicht, in welcher Sprache. Ich glaubte die keltische Sprache daran zu erkennen, dass sie einen anderen Rhythmus hat als Englisch. Englisch ist eher synkopisch, Welsh hat mehr Triolen, behaupte ich jetzt einfach mal. Auch schien mir diese Sprache voll von „aia aia aia“-Wiederholungen zu sein. Aber eben, meine Eindrücke sind höchst unzuverlässig.

Kaum zurück aus den Ferien stöberte ich in meinen alten Tagebüchern und stiess unerwartet auf Notizen meiner ersten Reise nach Wales, 1990. Ich staunte nicht schlecht, als ich eine Liste von präzis geschilderten Situationen vorfand, in denen ich damals die kymrische Sprache gehört hatte (ich hörte noch normal). Sie enthielt sechs Punkte, einige auch für die Soziolinguistin bemerkenswerte, zum Beispiel diesen: „Ffestiniog, The Abbey Pub: Ein Mann um die 25 und mehrere Knaben zwischen 10 und 14 stehen am Pool-Tisch und sprechen Englisch. Dann kommen eine Frau und ein Mädchen dazu (die Frau um die 40, das Kind 12 oder 13), die beiden sprechen Welsh. Solange die Frauen am Tisch stehen, sprechen alle Welsh. Danach wechseln die Männer zurück auf Englisch.“

Ich habe keinerlei Erinnerungen an diesen Vorfall. Ich glaube, ich bin nicht nur schwerhörig, sondern auch dement.

Das Herz von England

    Die Kathedrale und Altstadt von Lincoln im Juni 2023

Das Herz von England liegt nicht in London. In London liegt das Hirn, liegen einige der wichtigsten Muskeln von England. Aber das Herz von England liegt in kleineren Städten, zum Beispiel in Lincoln, ungefähr in der Mitte zwischen London und Newcastle.  Wenn man im Herzen von England angelangt ist, sieht man das am Stadtbild. Meistens gibt es in solchen Städten eine Kathedrale und eine Burg oder wenigstens einen stolzen Landsitz. Es gibt Fachwerkhäuser, Pubs mit Butzenscheiben, Kopfsteinpflaster und sehr rote Postgebäude. Es gibt einen Fluss, in dem Trauerweiden ihre Äste baden und tief liegende Wolken. Es gibt Cafés, in denen man Dinge wie Cheddarkäse auf Früchtebrot, Scones mit sehr dicker Sahne oder Cheesecake essen kann. Es gibt ein sorgfältig gepflegtes Geschichtsbewusstsein.

Das sehr rote Postgebäude in der Altstadt von Lincoln.

Lincoln war im Mittelalter dank florierendem Export von Wolle eine reiche Stadt. Ab 1027 baute man eine Kathedrale, heute ein atemberaubender Anblick, aussen und innen. Die Hooligans hatten uns hergebracht, sie verwöhnten uns mit diesem Ausflug, wir genossen jede Minute. Die Altstadt ist richtig schnuckelig, mit verwinkelten Gässchen und hübschen Läden. Belebt, aber nicht überlaufen. „Ihr hättet das alles vor der Pandemie sehen sollen!“ sagte Diamond Eye. „Es waren so viele Leute in den Gassen, dass es  ein Fussgängerleitsystem gab. Links ging man hoch, rechts kam man herunter.“ War ich froh, dass wir nach der Pandemie gekommen waren!

Es gibt in Lincoln auch eine Burg mit Museum. Dort ist eine der vier ersten Abschriften der Magna Charta von 1215 zu sehen (was das für ein Dokument ist, ist hier einfach erklärt). Es wird auch im Museum selbst gut erklärt, weshalb dieses Dokument so bedeutsam ist, für die Rechtsordnung sehr vieler Staaten. Museumsdidaktisch sind sie im Vereinigten Königreich top. Da starrt man nicht einfach ehrfürchtig ein tintiges Stück Pergament in einer Vitrine an. Da gibt es immer auch kleine, gut verständlich geschriebene Texttäfelchen (ideal für Schwerhörige). Auf so einem Täfelchen stand, dass die Magna Charta der Anfang der Gleichheit aller vor dem Gesetz war.

Wir streiften weiter durch das Herz von England und stellten abseits der meistbegangenen Fussgängerpassagen fest: seine Kranzgefässe kränkeln ein bisschen. Am Rande der Altstadt und an den Ausfallstrassen: auffallend viele geschlossene Ladenlokale, die Schaufenster oft mit Brettern vernagelt. Auch in respektablen, gut erhaltenen Bauten. Herr T. erkundigte sich bei Eagle Nose nach den Gründen. Dieser gab sich wortkarg: „Ungünstiges ökonomisches Klima.“ Aber aus seinen Briefen weiss ich: Er denkt, dass es nicht zuletzt am Brexit liegt. Und er denkt, dass der Brexit mehr ist als ein kleiner Konjunkturknick, ein Klacks angesichts von Hunderten Jahren Geschichte. „Mir tun die jungen Leute leid, von denen so viele jetzt um ihre Zukunft betrogen werden“, hat er einmal geschrieben.

 

Ferien im Vereinigten Königreich

Abend am Pier von Llandudno, Wales

Gestern Abend sind Herr T. und ich aus unseren dreiwöchigen Ferien in England und Wales zurückgekommen. Von Anfang an war diese Reise von einer eigenartigen Wehmut durchtränkt. Sie lässt sich schwer mit zehn effektvollen Highlights feiern, sie braucht Stimmungsbilder.

Sie braucht das Meer, immer wieder das Meer. Stundenlang haben wir an den Stränden von Wales die Gezeiten beobachtet. Wir haben zugeschaut, wie es an einem Sommerabend vor einem Pub am Strait of Menai langsam Ebbe wurde. Im Lokal stieg der Alkoholpegel, junge Männer vergnügten sich auf Gaelisch. Draussen sank der Wasserspiegel und legte nach und nach Kiesbuckel frei. Zwischen ihnen stelzten Vögel und suchten mit langen Schnäbeln nach Futter.

Sie braucht die Gespräche mit unseren Freunden, den Hooligans. Wir kamen bei ihnen an, in der Nähe von Peterborough, und waren noch voll von diesem unwirklichen Gefühl, das man nach einer neunstündigen Zugreise in ein fremdes Land hat. Wir setzten uns an ihren Tisch, gefasst auf ein Stündchen leichte Konversation. Aber Diamond Eye kam sofort zu Sache. Sie hat eine schreckliche Geschichte mit ihrer Familie durchgemacht und war vor Entsetzen dem Tod nahe gewesen. Sie musste alles erzählen. Sie ist über 70. Einst schien sie mir vor Kraft und Fröhlichkeit zu strotzen, ihr einige Jahre jüngerer Ehemann Eagle Nose erst recht. Aber beide sind gezeichnet von schlechten Zeiten und schlechten Nachrichten. So seltsam es klingt: Ich hätte nie gedacht, dass sie älter werden könnten. Bei Menschen, die oft sieht, merkt man das nicht so. Aber Freunde, die man acht Jahre lang nicht getroffen hat, halten einem den Spiegel hin. Auch wir sind älter geworden.

Sie braucht die Unruhe des Lebens aus der Reisetasche. Alle zwei Tage morgens abreisen und am Nachmittag ankommen in einer neuen Stadt, einem neuen Zimmer. Fremdeln. In einigen Städten in Wales vor den verlassenen, öden Ladenstrassen mitten im Zentrum erschrecken. Die schwierige ökonomische Lage, hatte uns Eagle Nose gewarnt. Ungetröstet einschlafen und am Morgen einen Ort suchen, an dem wir uns wohlfühlten. Hier ein bunt angemaltes Café mit gutem Cappuccino oder auch nur ein Billardtisch in einem Pub. Dort ein verborgener botanischer Garten am Stadtrand. Oder der Strand. Den Menschen dankbar sein, die sich hier in Würde eingerichtet haben, uns anlächeln und uns fragen, wo wir herkommen. Weiterreisen.

Sie braucht die Wachheit, mit der ich in den ersten Tagen alles sah und registrierte und innerlich beschrieb. Und dann, nach zehn Tagen dieses Gefühl, vom vielen Reisen glattgeschliffen und stumm zu sein und mitgerissen zu werden wie ein Kiesel im Fluss.

Sie braucht die pralle Dynamik von London, die Fleischigkeit dieser Stadt, ihre Gier und ihre Lebensfreude.

Sie braucht das verschmitzte Lächeln meines Patensohns Tim, seine ruhige, abwägende Art. Und sie braucht die liebenswürdige und sehr hilfreiche Wohlorganisiertheit seiner grossen Schwester Mina.

Sie braucht eine Anekdote zum Schluss. Ich stehe in Greenwich, London, vor einem Kaffeestand. Es ist ein strahlender Tag, 30 Grad. Die Betreiberin des Standes ist kurz weg, aber ein Sicherheitsmann bewacht ihn. Ich warte. Wir stehen da und betrachten die Mineralwasserfläschchen auf dem Tresen. „Sind die aus Glas oder aus Plastik?“ frage ich. „Made of glass“, sagt der Sicherheitsmann, „the water must be quite warm by now. You could probably make a cup of tea with it.“