Ein Besuch im Bücher-Brocky spülte mir den Titel „A Field Guide to Getting Lost“*, von Rebecca Solnit in die Tasche. Als ich zu lesen begann, verliebte ich mich sofort in den Text oder vielleicht auch die Autorin. Die Autorin: geboren 1961. Eine Frau meiner Generation, eine Wanderin und Spaziergängerin. Die Texte: träumerische Essays über das Sich-Verirren, im weiten Land oder als Mensch. Es sind auch Essays über die Liebe, die oft klingen, als wären sie über meine eigenen Liebschaften, jene der Vergangenheit und die heutige. Die heutige: eine fürsorglich-routinierte Ehe. Fast täglich fragt mein Mann: „Hast Du gut geschlafen?“ Oder: „Hast Du die Zeitung schon geholt?“ Oder: „Willst Du Suppe essen?“ Er fragt stets mit einer leisen Ironie, als könnten sich hinter der schieren Banalität dieser Fragen ungeahnte Möglichkeiten verbergen – aber dann vertiefen wir uns halt doch in die Zeitung oder essen Suppe.
Das alles wird in ein merkwürdiges Licht gestellt von Solnit’s Gedanken über Alfred Hitchock’s Meisterwerk „Vertigo“. Ihr erinnert Euch: eine Liebesgeschichte zwischen Privatdetektiv Scottie Ferguson und einer blonden Frau mit einer seltsam verschwommenen Identität. Scottie soll herausfinden, wer sie ist, und verliebt sich in sie. Sie ist jedoch schwer suizidal. Als sie auf einen Kirchturm flüchtet, kann er ihr nicht folgen, denn er leidet an Höhenangst. Er muss zusehen, wie sie vom Turm springt und stirbt. Diese Angst des Protagonisten vor der Tiefe versteht Solnit als Metapher für seine innere Unzulänglichkeit.
Dem Phänomen der Höhenangst** widmet Solnit mehrere Seiten. Sie beschreibt eine Besteigung des Mount Whitney in Kalifornien, 4419 Meter über Meer. Dabei kommt sie von Osten her und hat zunächst nur Blick auf die Landschaft auf der einen Seite des Berges. Sie schreibt: „Einen Gipfel zu besteigen, wird immer als Eroberung dargestellt. Aber wenn Du höher und höher steigst, wird die Welt grösser und grösser, und Du fühlst Dich kleiner im Verhältnis zu ihr, bist überwältigt und befreit, weil so viel Raum um Dich herum ist.“ (S. 151). Dann überwindet Solnit die letzten Meter und blickt über den Grat: „Plötzlich erscheint die Welt im Westen vor Dir, eine gigantische Weite. … Die Welt verdoppelt ihre Grösse. Etwas Ähnliches geschieht, wenn Du jemanden wirklich siehst – und das ist der Grund, weshalb alle in ‚Vertigo‘ immer wieder fallen.“ (S. 152) Mit anderen Worten: Scottie kann die Geliebte nicht retten, weil es ihn überfordert, sie wirklich zu sehen. Oder das, was seine Verbindung mit ihr ist oder sein könnte.
Seither frage ich mich: Was heisst das, jemanden wirklich zu sehen? Ich meine, unsere Ehe gleicht keiner Gipfel-Erstürmung – mehr einem Marsch auf den oft glatten, teils unwegsamen Pfaden des Alltags. Aber: Welche ungeahnten Möglichkeiten sieht Herr T., wenn er fragt, ob ich eine Suppe will? Und: Ist es auch ok, sich der gigantischen Grösse einer Liebe nicht täglich bewusst zu sein?
*Rebecca Solnit: „A Field Guide to Getting Lost“, Penguin, 2006. Ich habe hier bewusst den englischen Titel angegeben, der romantisch und ominös klingt. Der deutsche Titel lautet: „Die Kunst, sich zu verlieren – ein Wegweiser“. Das wirkt für meinen Geschmack zu putzig.
** Als Menière-Patientin muss ich anmerken, dass hier von Höhenangst die Rede ist, nicht von Drehschwindel, obwohl im Film-Trailer Drehschwindel dargestellt wird. Wer mir hier allenfalls eine psychosomatische Lesart des Textes aufzwingen will, hat den Ernst einer Menière-Erkrankung nicht erkannt und gehört mit nur einer halben Stunde zünftigem Drehschwindel bestraft.
Ja, doch, die ungeahnten Möglichkeiten gibt es, auch im ganz normalen Alltag und den Banalitäten einer Ehe. Manchmal hat man nämlich nicht gut geschlafen und nicht immer hat man Lust auf Suppe. Dann sind es die kleinen Nuancen im Ausdruck, die man als Gatte sofort erkennt und weiß, was mit dem Anderen los ist, weil man ihn kennt. Dann schlägt man ein anderes Lieblingsgericht des Anderen vor oder lässt ihn erzählen, wenn es ihm schlecht geht, oder lässt ihn in Ruhe, wenn ihm das lieber ist, so lange, bis er dann doch erzählen will. Doch, ich find, auch in so Kleinigkeiten wird die große Liebe erkennbar, auch wenn man es nicht immer extra so groß aussprechen muss.
Danke, Nell! Was für ein schöner Kommentar! Er bringt genau zum Ausdruck, was eine Ehe ausmacht.
Deine Texte und deine darin enthaltenen Gedanken und Gefühle sprechen mich immer sehr an, immer ist da etwas, das in mir nachschwingt, weil es mich entweder zum Nach- oder Weiterdenken anregt oder weil ich eine Anregung darin finde, der ich nachgehen möchte – auch hier ging es mir wieder so. Danke für dein öffentliches Schreiben, es ist mir viel wert, und herzlichen Gruß aus München!
Lieben herzlichen Dank, Kraulquappe, für dieses Kompliment. Manchmal will man ja den Blogger-Löffel hinschmeissen, weil Bloggen so altmodisch geworden zu sein scheint. Da ist es ein Ansporn zu wissen, dass Beiträge nicht nur gelesen werden, sondern sogar nachschwingen! Ich meinerseits lese regelmässig bei Dir und verfolge mit einer gewissen Sorge, wie Du die Schwierigkeiten meisterst, die sich Dir stellen. Ich mag Deine Sprache und Deine Ehrlichkeit, scheue mich aber, zu kommentieren.