Warum nur haben so viele Le Pen gewählt?

„Le Pen liebt Putin“, steht wahrscheinlich an dieser Wand. Hinweis auf die bevorstehen Wahlen im Juni 2024 im Hafen der Insel Ouessant.

Mit einer Notfall-Taktik hat Mitte-links in Frankreich einen Wahlsieg von Marine Le Pens Rassemblement National verhindert. Zum Glück, denke ich. Denn ich glaube nicht, dass Le Pens europaskeptischer Kurs die Probleme der Menschen in Frankreich lösen könnte. Im Gegenteil.

Letztes Jahr konnten Herr T. und ich besichtigen, wie posteuropäische Verzweiflung in kleinen Städten  Grossbritanniens für Reisende aussieht: Das eine Hotel hatte eine ausgebrannten Küche, das andere ein völlig zugemülltes Geistergeschoss. An den Einkaufsstrassen mit Sperrholz verbarrikadierte Schaufenster, auch an guten Lagen. Zerfallende Häuser überall. In der Bretagne gibt es diese Art von Verwahrlosung nur an wenigen Orten. Klar, es gibt Bettelnde, die mit hohlen Gesichtern vor den Kathedralen stehen. Aber sind es mehr als in anderen europäischen Städten? Die Hotelzimmer jedenfalls sind meist picobello, die Stadtzentren fast alle richtig schnuckelig. Die Leute hier scheinen nicht so verzweifelt, dass sie  rechtsextrem wählen müssten. Und doch hat Marine Le Pen auch hier mächtig zugelegt.

Warum diese Unzufriedenheit? Ich kam wegen meiner Schwerhörigkeit selten mit Leuten ins Gespräch. Aber einmal habe ich mit meiner Schulfreundin Mélanie telefoniert, die mit ihrem Mann in Frankreich einen Bauernhof hat. Wir wollten uns treffen. Mélanie trug schon Brillengläser wie Flaschenböden, als wir beide zwölf waren. Mittlerweile sieht sie so schlecht, dass sie nicht Auto fahren kann (ich ja auch nicht mehr). Sie sitzt in ihrem Dorf fest – denn da, wo sie wohnt, gibt es keinen öffentlichen Verkehr. Ich meine: einfach keinen, im Umkreis von vielen Kilometern.

Und dann ist da ihre Tochter. Die 19-jährige Lou will Physiotherapeutin werden, und dafür muss sie studieren. „Die Matura hat sie bestanden, jetzt steht sie auf mehreren Uni-Wartelisten. In Nantes auf Platz 13, in Rennes auf Platz 5. Krankenschwester könnte sie werden, sie hat eine Lehrstelle auf sicher, aber das will sie nicht. Ich meine: Als Du damals die Matura gemacht hast, da konntest Du doch alles studieren, was Du wolltest, oder?!“

Das System für höhere Ausbildungen in Frankreich ist so stressig, dass sich mein Adrenalinschub auf der Buslinie 91 in Paris dagegen angenehm prickelnd ausnahm. Bis zum 13. Juli müssen sich die Hochleistungs-Kinder mit den besten Plätzen auf den Wartelisten entschieden haben, an welche Unis sie denn nun wollen. Mélanie sagt es nicht, aber es hängt in der Leitung zwischen uns: Hochleistungs-Kinder sind oft auch die Kinder von akademisch gebildeten Eltern. Lou muss also warten, bis die jeunesse dorée sich entschieden hat – die Chancen sind gut, dass doch noch ein Platz für sie frei wird. Aber bis man Genaueres weiss …!

Es war ein schönes Gespräch. Wir hätten uns beide gerne in die Arme geschlossen, da bin ich mir sicher. Aber ich ahnte auch, dass sie mit Selbstzweifeln kämpft, vielleicht mit verhaltenem Neid darüber, dass mein Mann und ich müssig in Frankreich herumkurvten, während sie dasitzt und für ihre Tochter fiebert. Ich weiss nicht, ob sie Französin geworden ist und falls ja, wen sie gewählt hat. Aber ich könnte mir vorstellen, dass solche Sorgen der Stoff sind, aus dem rechte Wahlsiege gemacht werden.

Nur: EU-skeptisch und fremdenfeindlich wählen ist keine Antwort. Das lässt sich für Französinnen und Franzosen relativ leicht herausfinden: mit einem Reisli auf die andere Seite des Ärmelkanals. Wenn der öffentliche Verkehr vor der Haustür fehlt, sollte man sich bei einer derart existenziellen Frage ausnahmsweise von der Nachbarin bis zum nächsten Bahnhof chauffieren lassen.

8 Gedanken zu „Warum nur haben so viele Le Pen gewählt?“

  1. Warum wählen so viele Menschen Le Pen? Warum wählen so viele Menschen Trump oder die AfD? = Weil seit der Jahrtausendwende die Lage überall auf der Welt immer unübersichtlicher und verworrener geworden ist – TROTZ (oder WEGEN ?) besserer technischer Möglichkeiten (schnelle Informationen übers Internet). Und vor allem, weil viele Menschen sich von den etablierten demokratischen Parteien keine Besserung ihrer persönlichen Situation versprechen.
    Ich glaube, was alle Menschen wollen – egal, wen sie wählen -, ist: dass es ihnen persönlich gut geht. Und dann fragen sie sich, wer Partei das am besten hinkriegt.

    1. Danke für Deinen Kommentar, Rabi! Da betrittst Du aber ein weites Feld 😉 Ja, ich glaube auch, dass die meisten Menschen jene Partei wählen, von der sie denken, dass sie dafür sorgen wird, dass es ihnen persönlich besser geht. Nur: Was heisst genau, „dass es mir persönlich besser geht“? Dass es mir gleich gut oder besser geht als meinem Nachbarn Peter? Dass es mir gleich gut oder besser geht als der Zuwanderin Aïcha? Dass Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in meinem Land gewährleistet sind? Dass ich keine Angst haben muss vor Kaufkraftverlust und dem sozialen Abstieg meiner Kinder? Kommt noch ein weiterer Punkt dazu. Vor ungefähr einem Jahr haben ein Kollege und ich heftig diskutiert: Muss man im Zweifelsfall so stimmen, wie man glaubt, dass es a) der Gerechtigkeit und/oder dem Allgemeinwohl dient? Oder so, dass b) den eigenen Interessen gedient ist? Ich denke: Viele Leute sagen a), tun im stillen Kämmerlein dann aber doch b). Oder wie siehst Du das?

      Jedenfalls gibst Du mir die Gelegenheit, aus der Aargauer Zeitung vom 6. Juli zu zitieren (es geht um die AfD-Spendenaffäre von 2017): „Doch die AfD brauchte Geld. Da meldete sich der in Küsnacht an der Zürcher Goldküste lebende Unternehmer Henning Conle bei der damaligen AfD-Chefin Frauke Petry und stellte ihr die Frage, was aus ihrer Sicht die stärkste Triebkraft des Menschen sei. Sie antwortete: «Neid und Gier.» Doch Conle soll sie korrigiert haben: «Nein, Angst.» Dieser Wortwechsel steht am Anfang der AfD-Spendenaffäre.“

  2. Sehr interessant, was du schreibst.
    Ich weiß nicht, nach welchem Kriterium die Mehrheit geht, wen sie wählen. – Ich schließe jetzt aber mal von mir auf andere: Dann wäre es zum einen b) (also „Eigeninteresse“) und dann eher „Angst“ als „Neid und Gier“.
    Ganz konkretes Beispiel: 2005 kündigte Angela Merkel an, dass sie die Krankenkassenbeiträge so gestalten wollte, dass alle Bürger das gleiche zahlen (etwa 200 Euro im Monat), egal wie viel sie verdienen. Da habe ich gesagt: „Um Gottes willen. Das würde mich ruinieren. Diese Frau muss auf jeden Fall verhindert werden!!!“ = Es ging also um mein ganz persönlich-individuelles Interesse und um Angst. Wie du weißt, wurde Frau Merkel dann doch Kanzlerin – aber ihr Koalistionspartner (SPD) hat die Krankenkassensache verhindert. Im Nachhinein weiß ich, dass ich nicht ruiniert worden wäre, sondern allenfalls entreichert (Gegenteil von „bereichern“).

  3. Zum Glück hat Frau Merkel diese Krankenkassen-Kopfprämie nicht durchsetzen können! Wir haben das in der Schweiz schon sehr lange. Jede und jeder zahlt ab Lebensjahr 1, die Parameter schwanken ein bisschen (es ist endlos kompliziert), aber ich komme für eine Frau in meinem Alter an meinem Wohnort bei jeder Berechnung auf rund 400 Franken monatlich (de facto ist es mehr), für ein einjähriges Kind zahlst Du 80 Franken. Die Prämien sind nach der Pandemie sprungartig hochgeschnellt und steigen eigentlich jedes Jahr. Viele Leute empfinden das als drückend ungerecht.

    Und eben habe ich einen grossen Lernschritt gemacht: Mit einer Freundin gesprochen, sie hat Kinder, sie und ihr Partner sind erwerbstätig, sie kämpfen jeden Monat, um all die seit der Pandemie sprunghaft gestiegenen Prämien und Zinsen und Gebühren zu zahlen. Das ist wohl die Realität. Und wenn in der Zeitung dann so steht, die Franzosen würden über geschwundene Kaufkraft klagen, dann heisst das faktisch vielleicht, dass viele Mittelstandsfamilien jeden Monat der Verschuldungsangst in den Rachen blicken oder Kreditlimiten überziehen müssen, um über die Runden zu kommen.

    1. In Deutschland gibt es die Zwei-Klassen-Krankenkasse (gesetzlich versus privat). So wie du das für die Schweiz beschreibst, ähnelt das der Privaten – und man hat nicht einmal die Wahl. In Deutschland werden viele junge Gutverdiener mit der Privaten geködert, und dürfen dann später nicht mehr in die Gesetzliche (mit wesentlich moderateren Prämien) wechseln.

      Was Frankreich und die „Rechten“ (europaweit) betrifft: Die versprechen den Wählern ein besseres Leben („das Steuergeld wird für EUCH verwendet und nicht für Migranten“). Leute, die selber am Limit sind, mögen das gerne glauben. Wenn es mir selber dagegen finanziell gut geht, dann bin ich sowieso nicht auf Staatshilfen angewiesen und dann kann es mir relativ egal sein, ob der Staat eher „die eigenen Leute“ oder „Fremde“ unterstützt.

      1. Ja, da hast Du recht, viele Leute sehen das wahrscheinlich so. Die Logik geht aber nicht ganz auf, denn die öffentliche Hand hilft Dir ja nur, wenn Du Anspruch auf ganz bestimmte Leistungen hast (Stipendien, landwirtschaftliche Subventionen). Oder wenn Du finanziell total am Allerwertesten bist (Sozialhilfe). Und dass zum Beispiel gleich viel Sozialhilfegeld für weniger Betroffene da wäre, wenn weniger Migranten im Land wären, halte ich doch für eine naive Vorstellung.

        Aber in Frankreich hat ja möglicherweise genau diese Botschaft verfangen: Le Pen wollte die Gleichheit aller Menschen in Frankreich bei der Sozialwohnungsvergabe abschaffen.

  4. Um es nicht zu kompliziert zu machen: Die meisten Menschen fragen sich: „Welche Auswirkung hat ein Wahlsieg von Partei XY für MICH?“ – Natürlich gibt es auch Idealisten, die sich fragen, welche Auswirkungen es für die Gesellschaft hat. Ich kann aber nicht beurteilen, wie viel Prozent der Bevölkerung Idealisten sind.

    Hinzu kommt, dass man sicherlich bei keiner Partei allen Punkten des Wahlprogramms zustimmt bzw. alle Punkte kategorisch ablehnt.

    Außerdem kann etwas, das einem kurzfristig auf einem bestimmten Gebiet nützt, langfristig auf einem anderen Gebiet schaden.

    „Früher“ war das Wählen einfacher: die Arbeiter wählten Rot und die Besserverdiener wählten Schwarz, weil dort ihre Interessen am besten vertreten wurden. Extremparteien gab es nicht bzw. sie spielten keine Rolle.

    1. Beim ersten Abschnitt muss ich Dir ganz bestimmt beipflichten. Ich persönlich zähle mich zu den Idealisten, aber in der Praxis hat auch bei mir schon der Eigennutz überwogen. Die anderen Sachen … uh, da könnte man wieder tagelang diskutieren, und ich will doch unbedingt mein Reisetagebuch weiterführen ;-). Aber danke für die sehr anregenden Inputs. Ein andermal diskutiere ich sehr gerne weiter!

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