Wer den Mont St. Michel besucht, muss etwa zwei Kilometer vom Berg entfernt sein Fahrzeug abstellen. Von dort kann man im Shuttle-Bus bis vor die Mauern des Städtchens fahren. Es empfiehlt sich aber, zu Fuss hinüberzugehen. Wir nahmen an jenem Morgen das Strässchen mit einigen Dutzend anderen Touris unter die Füsse. Zuerst sieht man nur flaches Land, Motels und Restaurants. Aber nach wenigen hundert Metern gelangt man zu einer kleinen Besuchertribüne an einem Fluss. Von dort aus sieht man zum ersten Mal den Berg, der sich Ehrfurcht gebietend aus dem Marschland erhebt. Ein magischer Augenblick. Stille stellte sich ein, nur unterbrochen durch das Klicken von Kamera-Auslösern.
Auch auf dem Rest des Weges war es still. Einen Moment lang fühlte ich mich wie eine jener Pilgerinnen und Pilger, die das Kloster durch die Jahrhunderte in Scharen besucht haben müssen.
Dann gelangten wir zur Stadtmauer, und von da an war vor allem eins: Gedränge. Etwa 3 Millionen Menschen besuchen den Mont-Saint-Michel, also 8000 pro Tag. Eine Freundin beschied mir per Whatsapp: „Mont-Saint-Michel ist eine Top-Sehenswürdigkeit. Das muss man schon gesehen haben.“ Aber ich fragte mich zum ersten Mal auf dieser Reise: Muss ich das wirklich? Was mache ich eigentlich hier? Ergibt das irgendeinen Sinn?
Oh, das macht mich jetzt doch nachdenklich… denn diese Sehenswürdigkeit steht auch auf meiner Ausflugliste im demnächst anstehenden Urlaub. Habe den Berg schon mal als Kind besichtigt (ohne Menschenmassen) und kann mich tatsächlich noch gut daran erinnern, weil es echt beeindruckend war, aber wenn das jetzt so ein Geschiebe ist, brauche ich das nicht :/
Oh, nun habe ich Dir die Vorfreude verdorben, das tut mir sehr leid! Ich muss hier unbedingt hinzufügen, dass ich sehr empfindlich auf Massenaufläufe reagiere. Bei mir ist der Punkt, wo ich flüchte, sehr viel schneller erreicht als – offensichtlich – bei den meisten Menschen. Ich habe aber gestern beim Verfassen des Beitrags kurz zum Thema Overtourism und Mont Saint Michel gegoogelt und stellte fest, dass das 2023 tatsächlich ein Medien-Thema war. Die Empfehlung der französischen Tourismusbehörde: am Morgen vor 10 Uhr oder am Nachmittag gegen 16 Uhr hingehen. Wir liefen fadengerade zum Zeitpunkt des grössten Gedränges ein, etwa um 11 Uhr morgens. Die Abtei ist in der Hauptsaison von 9 Uhr morgens bis 7 Uhr abends geöffnet. Im Städtchen sind die Besucherströme leidlich kanalisiert. Man geht durch die Gasse hoch und kommt über die Befestigung wieder runter (tolle Aussicht, zahlreiche Restaurant-Eingänge).
Ich muss hier unbedingt hinzufügen, was ich im Haupttext aus Zeit- und Platzgründen weggelassen habe: Der Besuch der Abtei ist schon ein Erlebnis. Der Rundblick von der grossen Terrasse Richtung Westen ist überwältigend. Und wenn mir jemand im 13. Jahrhundert einen Arbeitsplatz im Scriptorium angeboten hätte, hätte ich Gott täglich auf den Knien gedankt (ich weiss nicht genau in welcher Kirche oder Kapelle, es gibt ja viele). Und auch das Refektorium ist ein wunderschöner Raum, man ass dort in Stille und lauschte dem Vorleser, der vorne mit der Bibel auf einem Podestchen sass. Ich hätte den Vorleser trotz leidlicher Akustik nicht verstanden, dennoch hätte mir das Arrangement wohl sehr gepasst 🙂
Was mich auch nachdenklich gemacht hat, ist die vollkommene Säkularisierung eines solchen Besuchs. Ich meine, 950 von 1000 Leuten gehen da nicht hin, um sich irgendwie meditativ, geschweige denn religiös, zu versenken (ich auch nicht, und das ist ja im Grunde auch ok, und dennoch …). Die allerwenigsten verstehen etwas von Architekturgeschichte (ich auch nicht). Und trotzdem geht man einfach hin, weil man hingeht und sich irgendetwas erhofft, Schönheit, ein Erlebnis, den Schauer angesichts von 1000 Jahren Geschichte, eine kurze, vielleicht bedeutsame Versenkung, ich weiss es nicht.
Ja, ich glaube, es ist in erster Linie der historische Schauer… den ich mir dann auf jeden Fall erst nach 16 Uhr abholen werde 😉 Vielen Dank für den Tipp, das war echt nett; ich meide Massenveranstaltungen nämlich auch… nicht weil sie mir in irgendeiner Form Angst machen, sondern nur weil ich nicht gerne mitlaufender Teil einer Menge respektive Gesinnung bin; das hat immer so einen Touch von solidarisieren oder mit den Wölfen heulen. Muss mich irgendwie immer von allem absetzen, um mich authentisch zu fühlen, Massen regen meinen inneren Widerstand an… wie bin ich jetzt hierhin gelangt? 😉
Das Scriptorium klingt genau nach meinem Geschmack; ich werde dort an dich denken… liebe Grüße von zora
„Solidarisieren“ ist ja unter Umständen gut. Aber „mit den Wölfen heulen“ wieder nicht so. Ich habe mich in letzter Zeit viel mit Politik befasst und mit dem verlorenen Gemeinschaftsgefühl der Menschen eines Staates, das die weniger Privilegierten in den Rechtsextremismus treibt (namentlich die USA). Am Mont Saint Michel habe ich mich dann gefragt, ob ich mit diesen globalen Touristinnen und Touristen eine Gemeinschaft bilde und bin zu Ergebnis gekommen: Eigentlich Nein, aber es gibt etwas, was uns alle noch einte, nämlich die elementaren, höflichen Umgangsformen. Niemand ist auf den bumsvollen Wendeltreppen abwärts mit gezückten Messer brüllend zum nächsten Saal gerannt oder hat eine Sonderbehandlung irgendeiner Art in Anspruch genommen. Das ist nicht ganz selbstverständlich, wie ich vor einiger Zeit beim Besuch eines vielbesuchten Berges in den Alpen erleben durfte. Alle Leute nahmen ihren Platz in der Schlange mit Würde und Anstand ein.
Klicken heute tatsächlich noch so viele Kameras? Oder hängt das mit der Zielgruppe zusammen?
Gute Frage 😀 Ja, viele Mitwander*innen hatten tatsächlich die beste Foto-Ausrüstung dabei, auch ich. Und meine Kamera hat noch dieses wichtig klingende Shutter-Geräusch. Es „Knipsen“ zu nennen, ist eine Untertreibung.
Noch was… ich würde tatsächlich auch gerne fürs meditative Versenken (jenseits aller Religion) dorthin gehen, aber fürchte, das ist an so einem Ort völlig utopisch oO
Also, ich möchte diesem Wunsch ja nicht seine Berechtigung absprechen. Ich habe mich ja mal wieder öfter gefragt, weshalb wir so gerne reisen. Und das „An-einem-anderen-Ort-Sein“ und dort „Auf-meditative-Art-präsent-Sein“ ist wahrscheinlich ein wichtiger Grund. Aber eben, Mont-Saint-Michel ist dafür tatsächlich nur teilweise geeignet.