Bedeutsame Gespräche in der Kaffee-Ecke

Franz Kafka, Quelle: Wikipedia.

Die Freiheit des einzelnen werde nur gestört „durch das nicht notwendige menschliche Beisammensein, aus dem der grösste Teil unseres Lebens besteht.“ Dies schrieb Franz Kafka 1913 an seine Verlobte Felice Bauer. Das Zitat fällt mir immer ein, wenn ich an die Kaffee-Ecke in unserem Grossraumbüro denke. Zum Glück ist sie klein, es herrscht dort kein Kaffee-und-Gipfeli-Gruppenzwang wie in anderen Büros, sondern ein planloses Kommen und Gehen. Aber immer, wenn ich dort jemandem begegne, frage ich mich: Ist das jetzt nur ein notwendiges menschliches Beisammensein oder möglicherweise mehr? Mit anderen Worten: Ist es angezeigt, dass ich mit dieser Person ein paar Worte wechsle? Oder reicht es, wenn ich grüsse, meinen Espresso hinunterkippe und wieder gehe?

Als hochgradig Schwerhörige habe ich das menschliche Beisammensein im Büro auf das Allernötigste reduziert. Kafka wäre glücklich in meiner Haut. Oder vielleicht auch nicht – es ist ja schwer, sich Franz Kafka glücklich vorzustellen. Ich bin es nicht. Als ich noch gut hörte, war ich eine unermüdliche Plaudertasche und arbeitete auch in einem Team. Dann verlor ich mein Gehör und wurde eine Ein-Frau-Abteilung. Vor der Pandemie pflegte ich noch den Kontakt mit den Leuten im Büro nebenan, zum Beispiel mit Kaja. Nach der Pandemie wurde unsere Bürolandschaft umgepflügt, ich kam in eine neue Ecke, dann kam der Krebs und danach hatte ich für längere Zeit einfach nicht mehr den Mumm, von vorne anzufangen und die Neuen kennenzulernen.

Die Kaffee-Ecke wäre eine Chance, Bekanntschaften zu schliessen. Aber wenn die neue Bekanntschaft in spe beim Nuscheln die surrende Kaffeemaschine anschaut, habe ich schon verloren. Und doch konnte ich beim stummen Kaffeetrinken nicht aufhören, mir die Frage zu stellen: Verpasse ich gerade ein Beisammensein, das eigentlich notwendig wäre? Oder einen Moment der Verbindung oder gar Verbündung? Verkannte Kafka nicht die Tatsache, dass uns das scheinbar unnötige Zusammensein mit Menschen eben auch einen Boden verschafft, auf dem wir uns bewegen können? Ich begann, obsessiv über meine Begegnungen in der Kaffee-Ecke nachzudenken. Ich könnte aus meinen Studien eine ganze, neue Rubrik machen. Aber ich erzähle in nächster Zeit einfach mal das, was ich für bedeutsam, ja, gar für lustig halte.

 

10 Gedanken zu „Bedeutsame Gespräche in der Kaffee-Ecke“

  1. Oh ja, das interessiert mich sehr, denn auch in mir macht sich immer mehr ein kleiner Kafka breit. Immer häufiger muss ich mich zwingen, unter Leute zu gehen und frage mich nach dem Sinn dessen, während ich es genieße, in Ruhe alleine rumzupuzzlen. 🙂
    Liebe Grüße Bea

  2. Oh, das hast Du schön gesagt, liebe Bea! Deine Drabbles lese ich übrigens oft im Büro, wo ich sie nicht liken kann – obwohl ich gerne würde. Da ergibt doch das Rumpuzzeln einen Sinn!

  3. Oh ja erzähl, mach es publik. Nicht nur deine Traurigkeit, sondern auch, dass die Menschen Schwerhörige angucken sollten und nicht extra lauter gesprochen werden muss. Eher ein ganz klein bisschen bewusster und deutlicher! 😉

    1. Danke, piri! Ja, das nicht extra lauter, das ist ein wichtiger Punkt. Bewusster und deutlicher, das bringt es sehr gut auf den Punkt.

  4. Dein gegenüber in der Kaffeeküche kann auch anfangen, nicht nur du. Also wenn ich dir gegenüber stünde, dann würde ich dich ansprechen wollen. 🙂

    1. Weisst Du, sie wissen, dass ich nicht gut höre. Ich glaube, sie trauen sich einfach nicht, weil sie alle auch Angst haben, dass es schiefgehen könnte.

        1. Nein, nicht besonders laut. Aber deutlich. Wenn es still ist und ich einfach zu zweit mit jemandem reden kann, geht es gut. Da musst Du Dich nicht mal besonders anstrengen.

  5. Ich finde Deinen Text großartig und fühle mich Dir durch Deine Wahrhaftigkeit in der Seele sehr nahe.
    Bin so froh, Dich in den uferlosen Weiten des Netzes gefunden zu haben! Viele liebe Grüße vom Nordrand der Alpen

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