Vor ein paar Jahren machte ich mit meiner Freundin Helga in Deutschland einen Ausflug nach Speyer. Sie zeigte mir den goldenen Hut im Museum, dann schlenderten wir zum Auto zurück. „Dort hinten liegt der Rhein“, sagte sie beiläufig. Ich sofort: „Oh, da will ich unbedingt hin!“ Sie sah mich befremdet an. „Da gibt es aber nicht viel zu sehen“, meinte sie. „Das ist einfach ein Fluss.“ Ich grinste: „Du bist kein sehr reisefreudiger Mensch, oder?“ Ich gab keine Ruhe, bis wir am Rhein standen und ich die Hand ins Wasser getaucht hatte. Mich beglückte die Vorstellung, vielleicht einen Tropfen am Finger zu haben, der 350 Kilometer flussaufwärts durch meine Heimatstadt Luzern geflossen war. Denn durch meine Heimatstadt fliesst die Reuss, und die wiederum mündet bei Brugg im Aargau in die Aare – und die wiederum etwas weiter nördlich in den Rhein.
Die Episode ging mir durch den Kopf, als ich „Iowa“ von Stefanie Sargnagel las. Die 38-jährige Autorin schildert darin ihren „Ausflug nach Amerika“ mit der Musikerin Christiane Rösinger im Jahre 2022. Zunächst sitzen die beiden in einem Unort namens Grinnell fest. Aber dann werden sie eines Autos habhaft, und plötzlich tun sich ungeahnte Möglichkeiten auf. Bei näherer Betrachtung klingen allerdings auch diese Möglichkeiten recht banal, halt das, was die Touristin so macht. Bis die Idee auftaucht, an den Mississippi zu fahren. „Mit einem Mal verklärt sich Christianes Blick“, schreibt Sargnagel (S. 137). „Etwas ist entfacht“ bei der Freundin. Stefanie erwidert trocken: „‚Ok, dann machen wir Mississippi, ist notiert.'“
Das tun sie dann auch. Sie erreichen den Strom bei Dubuque im Staate Iowa. Dort ist Christiane „glücklich und streckt ihre Nase in den Wind“. Stefanie dagegen findet alles hier „zubetoniert und deprimierend“ und hat auch noch Menstruationsschmerzen. Sie reisst sich dann aber zusammen und erzählt eine magische Anekdote über Christiane und den Fluss und die Pelikane am Fluss, die sie vielleicht gesehen haben und vielleicht auch nicht. Warum nur fühlen manche Menschen den Sog, den nur schon der Name eines Flusses haben kann und manche nicht?
Stefanie Sargnagel: „Iowa – ein Ausflug nach Amerika“, Rowohlt Verlag, 2. Auflage, 2024
„The mississipi delta was shining like a national guitar…“
Große Sehnsucht nach diesem Fluß durch die erste Zeile von einem meiner absoluten Lieblingssongs: „Graceland“ von Paul Simon. Die Songzeile ist ganz schön lyrisch, das fällt mir zum ersten mal auf!
Oh ja, „Graceland“! Eine schöne Erinnerung, auch an die Freunde, mit denen wir das damals hörten!
Vielleicht ist die Faszination auch zum Teil im Namen selbst und seinem melodischen Klang begründet. Und er lässt sich gut singen, Musik schafft eine Verbindung… ähnlich wie beim Namen des Ortes „Kalamazoo“ in Michigan, das ist eine relativ kleine Stadt, über die aber gleich mehrere Songs geschrieben wurden.
Ja, das habe ich auch schon vermutet. „Missässibiii“ klingt ja besonders schön im Blues! Es soll ja „Vater der Flüsse“ in der Sprache der Algonquin-Ureinwohner heissen. Kalamazoo kenne ich allerdings überhaupt nicht. Werde ich mal googeln 🙂
Flüsse müssen mich nicht anziehen, aber als ich in Mainz war, hat mich der Anblick des Rheins nicht kalt gelassen.
Ja, nicht?! Ist ja auch ein grosser Fluss. Was bedeutet er Dir denn?
Äh, erst einmal nichts. Wasser ist ja nicht so mein Element.
Meine erste Begegnung mit dem Rhein fand vor mehr als 30 Jahren statt, aber kurz vor der Rhein-Mosel-Schiffahrt verdarb ich mir den Magen und das Gewässer ging an mir vorbei.
Als ich vor ein paar Jahren mit den Zügen von Wien nach Osnabrück reiste, faszinierte mich der Anblick des Rheins, während der Zug Mainz erreichte und weiter nach Koblenz fuhr.
Und in diesem Jahr am Adenauer-Ufer in Mainz war ich dann von der Grösse des Flusses überwältigt. Du lässt den Blick schweifen und kannst nicht anders, als erst einmal in Ehrfurcht zu verharren. Das ist mir bei der Limmat, Donau, Spree oder Elbe nicht gelungen.
Ja, das glaube ich! Ich war noch nie in Mainz, aber dass der Fluss dort sehr breit sein muss, glaube ich sofort. Je nach Optik sieht man das ja dann auch richtig gut. Da kann die Limmat natürlich nicht mithalten.
Mich hat es (früher?) immer fasziniert, an einem „neuen“ Fluss zu stehen, dessen Name ich zwar schon oft gehört, aber den ich zuvor noch nie gesehen hatte. Das ist also der Rhein, die Donau, die Elbe, die Themse, die Seine etc., dachte ich dann immer ganz ehrfürchtig, obwohl es doch eigentlich jedes Mal nur der Blick auf fließendes Wasser war. Bei Mississippi wäre es wahrscheinlich ähnlich: man hat den Namen schon oft gehört, und nun liegt der Fluss vor einem.
Ja, das kenne ich auch! Es gibt so etwas wie Ehrfurcht, wenn man einen Fluss oder einen Berg zum ersten Mal sieht.
„… Fluss oder einen Berg…“ – Das erste „Berühmte“, woran ich mich erinnern kann, es im Original gesehen zu haben, war in Brüssel das Manneken Pis. Da war ich damals richtig enttäuscht, dass so ein kleiner Pipi-Mann weltweit so ein großes Aufsehen bekommt. Naja, mit den Bremer Stadtmusikanten ist es wohl ähnlich; da kommen die Leute extra aus China, um die kleine Bronzestatue hinter em Rathaus zu sehen.
Oh, da war ich noch nie! Und dass die Bronzestatue von den Bremer Stadtmusikanten so klein ist, wusste ich auch nicht. Aber ich erinnere mich auch an solche Momente beim Reisen. Die Türme, die von der Berliner Mauer stehengeblieben waren anno 1997, sie sahen mickrig aus. Dass sie einen solchen Horror hatten verursachen können, schien schwer nachvollziehbar.
Apropos Horror: Gibt es nicht auch Stadtführungen zu geschichtlichen Horror-Orten? Zumindest werden solche Stellen bei Stadtführungen „ganz nebenbei“ erwähnt.
Ich erinnere mich, als wir auf Lanzarote mit dem Bus über eine Kreuzung fuhren und die Reiseleiterin sagte „Genau hier hatte César Manrique den tödlichen Autounfall“. – Oder der Stadtführer in San Francisco „Von dieser Stelle wurde der Schuss auf Gerald Ford abgegeben“ (google nach Oliver Sipple, der dem Präsidenten das Leben rettete).
Manch Unscheinbares kann eben doch Geschichte haben / Geschichten erzählen.