Kleine Respektlosigkeit in Gebärdensprache

„Geige“ und „langweilig“ in Gebärdensprache (Quelle: signdict.org)

„Wisst Ihr, was ‚langweilig‘ in Gebärdensprache heisst?“ fragte Frau Wolf. Sie und Frau Rinaldini waren am Silvester bei uns zu Besuch. Frau Rinaldini ist gehörlos, so übten wir uns ein bisschen im Gebärden. Frau Wolf machte die Gebärde im Bild (die ganze Bewegung hier). Als Kind der Rock-Generation würde ich das als „Luftgeige spielen“ bezeichnen. Das also heisst „langweilig“! Ich lachte schallend – für mich war diese kleine Respektlosigkeit gegenüber Geige Spielenden ein Volltreffer. Nicht wegen der Geige Spielenden selbst: Als ich noch gut hörte, wusste ich Streichkonzerte durchaus zu geniessen. Jetzt besuche ich kaum mehr welche. Und wenn, dann sehe ich die Leute vom Orchester hingebungsvoll fiedeln und frage mich die ganze Zeit: Wozu nur die Anstrengung?! Ich höre ja keine Melodien mehr. Bei mir ist das alles Brei.

Bei Rock-Konzerten muss ich ausserdem die Hörgeräte abstellen, weil mir der Sound zu laut ist. Dann höre ich fast gar nichts mehr. Beim letzten Konzert studierte ich eine Stunde lang die Mimik der Lead-Sängerin, einer schalkhaften Engländerin. Als könnte ich auf ihren Gesichtszügen die Botschaft lesen, die die Musik mir hätte vermitteln sollen. Etwas in mir wollte einfach nicht akzeptieren, dass das aussichtslos ist. Es war ein sehr ermüdender Abend.

Ich muss hier unbedingt anfügen: Es gibt eine allgemein gebräuchliche Gebärde für „langweilig“ (siehe hier). Ich weiss nicht, ob das, was uns Frau Wolf verriet, allgemein gebräuchlich ist, lasse darüber aber gern die Expertinnen in meiner Leserschaft zu Wort kommen. Und: Es gibt Menschen mit Hörminderung, die Musik gut und auch gerne hören (zum Beispiel sori1982).

Aber ich fand dieses spöttische, kleine Zeichen der Komplizenschaft und des Desinteresses unter Minderbemittelten sehr vielsagend.

6 Gedanken zu „Kleine Respektlosigkeit in Gebärdensprache“

  1. Liebe Frau Frogg, vielen lieben Dank für die Erwähnung 🙂
    Als Kind gehörloser Eltern und somit verblasste Expertin in Gebärdensprache kann ich die gebräuchliche Gebärde für „langweilig“ bestätigen.
    Doch auch bei uns in Mitteldeutschland wird die Geigen-Gebärde als Synonym für „langweilig“ verwendet. Wir verwenden sie, wenn eine Situation eintritt, die in die Länge zieht, aber eher im negativen Sinne. Ich erinnere mich an eine Begebenheit, als ich mit meinem Papa in der Tram fuhr und die Tram blieb länger stehen als geplant. Und mein Papa war etwas genervt (hochgezogene Augenbrauen) und verwendete daraufhin die Geigen-Gebärde.

    Selbst wenn ich leidenschaftliche Musikhörerin bin und mich auch hin und wieder für klassische Musik begeistern kann, eines kann ich nicht: Beim Fernsehen während ausgeschaltetem Ton einer Opernsängerin/einem Opernsänger zuzusehen. Nicht zu lachen, fällt mir schwer.

    1. Danke sehr, liebe Sori! Ich bin froh, das bestätigt zu bekommen. Ich glaube, genauso meinte das auch meine Gewährsfrau Wolf. Ja, das mit der Opernsängerin kann ich nachvollziehen – das würde mir auch so gehen. Zum Glück hatte die Sängerin, die ich erwähnt habe (Nicky Rushton), eine wirklich charmante Mimik. Aber man kann auch einer charmanten Mimik nicht mehr als eine Stunde lang folgen, ohne dabei im Geiste die Geigengebärde zu machen!

  2. Das Schöne an deinen Einträgen, liebe Frau Frogg, ist, dass dort oftmals Wörter oder Ausdrücke auftauchen, die ich in meinem Leben noch nie gehört habe. Diesmal ist es „Komplizität“. Zuerst dachte ich an einen Schreibfehler, doch dann fand ich hier eine Reihe von Beispielsätzen:
    https://de.glosbe.com/de/de/komplizit%C3%A4t

    Und nun muss ich – ähnlich wie ein kleines Kind – herausfinden, worin die Bedeutung dieses neuen Wortes liegen könnte: ein bisschen erinnert es an „Komplizenschaft“, also dass zwei oder mehrere Menschen bzw. Systeme etwas miteinander aushecken. Liege ich damit einigermaßen richtig?

    1. Also, falls Du nahelegen wolltest, dass Komplizenschaft das bessere Wort ist als Komplizität, liegst Du genau richtig, Rabi! Ich habe das jetzt in meinem Text geändert. Und danke, dass Du mir das Stichwort gibst, um das mit der Komplizenschaft noch ein wenig auszuführen. Komplizen sind Menschen, die gemeinsam etwas Kriminelles oder moralisch oder gesellschaftlich Unerwünschtes tun. Nun gilt ja das Geigenspiel in vielen Zusammenhängen als eine der höchsten Manifestationen der abendländischen Kultur. Wenn sich jemand bei einem Konzert mit Streichern langweilt, dann gilt er schnell als Banause oder eben als Rebell, und eine Rebellion ist gewiss von vielen gesellschaftlich unerwünscht.

      Wenn ein paar Leute einander auf so verschmitzte Art wie hier zu verstehen geben, dass für sie Geigenspiel gleichbedeutend mit Langeweile ist, dann ist das fast schon Populismus, eine Verspottung des Elitären, und es ist gleichzeitig eben auch ein Zeichen der Zusammengehörigkeit. Und das Schöne daran ist: Diese Wenigen, die die Gebärde verwenden, sind Leute, zu denen man nicht hochnäsig sagen kann: „Wenn Ihr Euch nur ein bisschen anstrengen würdet, es zu verstehen, dann könntet Ihr das auch geniessen!“

  3. Jetzt finde ich es aber schade, dass du das Wort geändert hast. In deinem Text hörte sich „Komplizität“ irgendwie schöner an, auch wenn ich „Komplizenschaft“ auf Anhieb besser verstanden hätte.

  4. Ja, das kann ich nachvollziehen. Komplizität ist aber etwas anderes als Komplizenschaft, wie ich nach einigem Nachdenken festgestellt habe. Wenn jemand gegen Regeln verstösst und Du stumm zuschaust, dann machst Du Dich der Komplizität schuldig. Wenn zwei gemeinsam etwas gegen die Regeln tun, dann würde ich von Komplizenschaft sprechen. Die Gebärde ist ja ein Akt der Kommunikation, in die sowohl die gebärdende Person als auch der Zuschauer verwickelt sind – daher sind beide Komplizen in der kleinen Rebellion gegen elitäres Musizieren.

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