Im Namen aller Mütterchen in Beige

In den Jahren zwischen 50 und 59 fühlte ich mich beinahe sicher vor den  ungebetenen Tipps irgendwelcher Lifestyle-Päpstinnen. Aber kaum rückt der 60. Geburtstag näher, diskutieren wir plötzlich über Longevity oder über die Frage: Was heisst gut altern?

Neulich las mir Herr T. eine Passage des Buches „Altern“ von Elke Heidenreich vor, die ich selbst gnädig überlesen hatte. Die 81-jährige Autorin schreibt: „Ich sehe um mich herum Frauen, die anders altern als ich, und manchmal, wenn nach Lesungen eine Frau beim signieren zu mir sagt: ‚Wir sind derselbe Jahrgang‘, und ich sehe hoch, und da steht ein zerknittertes Mütterchen in beigen Omaklamotten, dann denke ich: Nee, jetzt, oder? Das bin nicht ich.“*

Sofort empörte sich mein Herz für alle „Mütterchen in beige“, obwohl ich selbst kein einziges beiges Kleidungsstück besitze. Ich wurde richtig laut und sagte schliesslich das, was ich zu Fragen des Kleidungsstils schon mein ganzes Leben lang sage: „Jede und jeder lebt nach bestem Wissen und Gewissen sein bestmögliches Leben!“ Mit 59 Jahren Lebenserfahrung würde ich einräumen, dass es gierige und zynische Menschen gibt. Aber die erkennt auch die Lifestyle-Päpstin nicht unbedingt an der Farbe der Bekleidung.

*Elke Heidenreich: „Altern“, Hanser Berlin, 2024, S. 62. Um eins klarzustellen: Ich möchte keiner Person die Lektüre vergällen, die das Buch vielleicht bald lesen wird. Es stehen auch einige sehr gute Dinge drin!

4 Gedanken zu „Im Namen aller Mütterchen in Beige“

  1. Wenn man sich Fotos aus den 1950er Jahren oder früher anschaut, da erschienen die Frauen in den Vierzigern schon wie „zerknitterte Mütterchen in beigen Omaklamotten“. Vielleicht lag das auch an den Umständen der (Nach-)Kriegszeit – oder einfach nur daran, dass es sich um Schwaz-Weiß-Fotos handelte, auf denen nicht so viel gelacht wurde.

  2. Ja, da hast Du recht. Ich habe ein Bild von meiner Taufe anno 1965, da ist meine Grossmutter drauf. Da war sie erst 45, aber sie sah aus wie 55. Es lag auch an den heute altmodisch wirkenden Mänteln, und sie hatte sogar einen Hut. Manchmal erschrecke ich darüber, wie ähnlich ihr heute sehe.

  3. Ja, du hast recht hinsichtlich der Mäntel.
    Soweit ich weiß, waren Mäntel damals ein Luxusgut = 1955 musste ein Arbeiter noch ein halbes bis ganzes Monatsgehalt für einen Mantel ausgeben; heute müsste er nur noch ein bis zwei Tage für einen gleichwertgen Mantel arbeiten.

    Frau mit Hut hat heutzutage wohl ein anderes Image so wie hier: https://www.gettyimages.de/fotos/frau-hut

    1. Ja, man ist immer wieder verblüfft, wenn man feststellt, wie viele Mäntel manche Leute heute haben (und Hüte), und wie teuer das damals alles war!

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