Schweizerdeutsch 26: Sich durchsetzen

Do hed’s mer de Nuggi usegropft!

Standarddeutsch: „Da hat es mir den Schnuller rausgerupft!“

Wir gehen davon aus, dass wir einer eine Ärztin, einem Verkäufer, einem Dienstleister oder einer Amtsperson in der Regel nur freundlich sagen müssen, was wir wollen. Dass das reicht, damit unser Bedürfnis erfüllt wird. Ist dies auch nach mehreren Versuchen nicht der Fall, rupft es uns den Nuggi raus. Wir Erwachsenen werden dann meist nicht ganz so laut wie Kleinkinder, denen tatsächlich der Schnuller entrissen wird. Aber lauter und auch bestimmter als vorher. In unserer Familie brauchen wir diese Redensart oft. Wir nehmen damit auch schon vorweg, dass wir uns im geschilderten Vorfall dank gesteigerter Dringlichkeit im Ton dann doch noch durchsetzen konnten.

9 Gedanken zu „Schweizerdeutsch 26: Sich durchsetzen“

    1. Ja, die Redensart ist eigentlich ungenau. Denn wenn wir uns gegenüber der begriffsstutzigen Person in der Amtsstube wie geplagte Kleinkinder benehmen würden, würden wir wohl einfach unfreundlich hinausspediert, nötigenfalls unter Beihilfe von Sicherheitskräften. Die Kunst ist ja, in einem solchen Moment freundlich zu bleiben, aber trotzdem die nötige Bestimmtheit an den Tag zu legen, wenn man sein Anliegen nochmals vorbringt. Ich weiss, dass in dieser Hinsicht die deutschen und die Schweizer Gepflogenheiten sehr unterschiedlich sind. Deutsche treten oft viel bestimmter auf und machen ihre Autorität geltend, in der Schweiz sind die Umgangsformen in der Tendenz zurückhaltender.

    1. 🙂 Danke. Ja, ist sie. Eine, über die ich vor dem Schreiben viel nachgedacht habe. Gerade, weil das Kindliche hier zusammenkommt mit dem Sich-durchsetzen-müssen in der Erwachsenenwelt.

  1. Zu „Deutsche treten oft viel bestimmter auf und machen ihre Autorität geltend, in der Schweiz sind die Umgangsformen in der Tendenz zurückhaltender.“ Ich kann nicht beurteilen, wie es in der Schweiz ist.

    Die Frage ist aber wohl: Durch welches Verhalten erreiche ich meine Ziele? Und LEIDER habe ich in der Praxis festgestellt, dass – wie das Sprichwort schon sagt – Bescheidenheit zwar eine Zier ist, man aber ohne sie (ihr) weiter kommt.

    Unser Geschichtslehrer sagte mal – ich weiß nicht mehr, in welchem Zusammenhang -, dass Kompromisse immer gut seien. Und dann dachte ich: NEIN, bei Kompromissen „gewinnt“ ja immer der Aggressor (wie wäre das jetzt zum Beispiel bei Ukraine-Russland?). Auch die Appeasement-Politik der Alliierten hat den Zweiten Weltkrieg nicht verhindert, sondern den Aggressor eher ermutigt.

    Die Welt ist eben sehr komplex / vielschichtig. Was will man überhaupt erreichen? Was sind überhaupt die Ziele? Und erreicht man diese Ziele eher mit einer „linken“ oder „rechten“ Politik ? – wobei die Begriffe „links“ und „rechts“ nicht eindeutig definiert sind.

    1. Nun ja, in der Schweiz gehen wir im Alltag davon aus, dass wir es nicht mit einem Hitler oder einem Putin zu tun haben. Wir leben in einem kleinen Land, in dem alle mit wenig Platz auskommen müssen und viele gemeinsame Bekannte haben. Das wissen viele, entsprechend zurückhaltend sind (nicht überall, aber unter freundlichen Menschen der mittleren bis unteren Mittelschicht oft) die Umgangsformen. Wenn wir es mit Dienstleistern zu tun haben, setzen wir ihre Leistungsbereitschaft meist voraus. Mit einem kompromisslosen Auftreten riskierst Du aber, dass die angesprochene Person diese Leistungsbereitschaft verliert, da bist Du besser erst mal freundlich. Wenn’s Dir dann den Nuggi rausrupft, kannst Du immer noch einen Gang höherschalten. Das funktioniert hierzulande in der Regel gut.

      Zu diesem Thema erzähle ich gerne eine Anekdote, die ich erlebte, als ich einmal meine Freundin Helga besuchte. Im deutschen Zug erlebte ich, wie ein älterer Herr auf seinem reservierten Sitz einen jüngeren vorfand. Der alte erhob seine Stimme und wies den Jungen, der gar noch nicht mal Zeit gehabt hatte, Widerworte zu geben, grob zurecht. Der jüngere räumtegedemütigt den Platz. Ich sagte zu Helga: „Ihr verwendet aber auch unglaublich viel Energie darauf, Konflikte eskalieren zu lassen.“ Sie antwortete: „Ja, und ihr unglaublich viel darauf, sie nicht eskalieren zu lassen.“ Womit sie recht hat, denn zuweilen machen wir berechtigte Ansprüche mit einer Verklemmtheit geltend, die Emils würdig wäre.

  2. Bei deiner Anekdote fiel mir ein, dass ich genau dasselbe auch schon mal hier im Bus beobachtet hatte: Ein älterer gehbehinderter Mann betrat den Bus und schnauzte einen anderen Fahrgast an, er wolle Plastz machen, weil er auf SEINEM Behinderten-Sitzplatz saß. Der Fahrgast konnte gar nicht so schnell aufstehen, wie er angeschnauzt wurde.
    So ein Verhalten ist m.E. aber nicht für Deutschland üblich, sondern das lag an der persönlichen Individualität desjenigen.
    Hitler, Putin und Trump sind auch nicht repräsentativ für ihr Land (wobei H. ja nicht einmal Deutscher war)
    https://www.mdr.de/geschichte/weitere-epochen/weimarer-republik/einbuergerung-hitler-deutscher-staatsbuerger-fuehrer-thueringen-100.html

    1. Danke Dir, Rabi. Mit den persönlichen Eigenheiten hast Du wohl recht. Ich habe übrigens auch schon erlebt, dass Menschen mit Behinderung ihre Ansprüche sehr aggressiv geltend machen. Ist es eine Anspruchshaltung, Folge einer durch die Behinderung etwas verengten Perspektive oder Folge vieler frustrierender Erfahrungen? Schwierig zu sagen und muss wohl vom Einzelfall her betrachtet werden. Das wäre Stoff für einen Blogbeitrag – als Hörbehinderte rücksichtslos von Gehbehinderten angeschnauzt werden. Alles auch schon erlebt 🙂

  3. Zu “ Ich habe übrigens auch schon erlebt, dass Menschen mit Behinderung ihre Ansprüche sehr aggressiv geltend machen.“ – Genau dieselben Beobachtungen habe ich auch schon gemacht und mir dann die gleichen Fragen wie du nach dem Warum gestellt.

    Vielleicht ist es aber auch nur so, dass einem ZUERST das freche Verhalten auffällt und erst DANACH, dass derjenige eine Behinderung hat. Also: das freche Verhalten würde auch ohne Behinderung auffallen; die Behinderung als solche würde aber gar nicht auffallen („stört“ einen anderen Menschen ja nicht).

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert